Ironie, Ideologie und Identität der Piraten

Die multiple Persönlichkeit des Nerds.

Als schwimmendes Vereinsmitglied, das sich über die Ertüchtigung hinaus engagierte, war ich mal als Kampfrichter bei einem Wettkampf mit Behinderten. Es schwammen Menschen ohne Beine, mit fehlenden Armen, Blinde und Taube gegeneinander. Es war ziemlich klar, worum es dabei ging. Niemand hat die sportlichen Ergebnisse ernst genommen, weil sie nicht zu vergleichen waren. Die Teilnehmer am Beckenrand haben diejenigen, die gerade schwammen, nicht angefeuert, sondern angemacht: „Beweg deine Beine!“, sagten sie zu denen, die keine hatten. „Mach die Augen auf!“, sagte man den Blinden.

Ich hatte das lange vergessen, bis ich vergangenes Wochenende in Neumünster beim Piratenparteitag war. Denn dort erinnerte ich mich an mein Erleben, das in der Schwimmhalle bei diesem Wettkampf und unter den Piraten beim Parteitag ganz ähnlich war: Ich war ausgeschlossenes Publikum. Die Veranstaltung trug sich über Ironie, Humor und Lustigkeit aber wehe, jemand von den Anwesenden aber Außenstehenden hätte mitgemacht. Nein, Ironie geht bei den Behinderten und auch bei den Piraten nur als Selbstironie. Wer ohne Zugehörigkeit mitmacht, macht sich schwerer Frechheiten schuldig. Und so, wie die Behinderten mit ihrem Schicksal umgehen; wie die Piraten mit ihrer staatstragenden Rolle umgehen – mit Humor – darf man beiden von außen nicht begegnen. Man ist sogar, ganz im Gegenteil nämlich, gezwungen sie hyperernst zu nehmen.

In unserem F.A.Z.-Text brachen wir mit dieser Logik. Und ich möchte anmerken, dass sich die Approximationshoffnungen, die ich mit dem Text-Einstieg verband, erfüllt haben. Wir sind den Piraten sehr nahe gekommen.

Darf man übergewichtige, junge Menschen, die am Biertisch sitzen, Pommes mit Schnitzel essen, Cola trinken und dabei Computer spielen und eher nebenbei Politik machen als Typus generalisieren und beschreiben? Warum nicht? Jede Partei hat seinen Klischee-Wähler. Niemand will dieser sein, aber jeder kennt ihn.

Darf man dieses Klischee journalistisch so offen bemühen? Nein. Ok, dasselbe anders gefragt: Darf man in der Zeitung schreiben, dass auch der am ungesundesten lebende, sozial isolierteste und computerspielsüchtigste Mensch Deutschlands von der Politik gefälligst zu beachten sei – und zwar als Staatsbürger? Ja.

Dürfen Journalisten die Selbstbeschreibungen von Piratenparteimitgliedern fremdbeschreibend wiederholen? Warum nicht? Wenn die Piratenpartei es zuließe, das jemand für sie spräche, mit eigenen Worten, die nicht basisdemokratisch wegreflektiert werden, könnte dieser sagen: „Die Piratenpartei nimmt jeden Bürger ernst, auch den mit einem gefährlichen Bildungsdefizit, auch den Hoffnungslosen, Verlorenen und Abgehängten, den Spezialisten, den Ignoranten, den selbstlos Sozialen, den Verwirrten. Nur nicht den Unbelehrbaren! Es ist ein Verdienst unserer Partei, dem Nerd endlich eine politische Stimme zu geben.“

Ich fand es bemerkenswert, wie unterschiedlich die Reaktionen auf den Text waren. Entweder man war Pirat und fühlte sich grob missverstanden. Oder man war jemand, der sich auskannte, und war kurz verwundert. Oder, man fand den Text ganz gut, fragte aber noch mal nach, was denn eine „Filterbubble“ und ein „Flauschsturm“ sei. Spricht man mit Letzteren über die Piraten, zeigt sich schnell, dass das Nerd-Klischee, wie wir es benutzten, sehr beim Verstehen half. Und zwar gerade weil es von außen beobachtet nicht verächtlich klingt.

Die Nerds sind jetzt da, aber sie haben ihren Einzug in die Gesellschaft nicht so recht miterlebt. Es ist schon fast ein wenig tragisch. Der Unterschied zwischen den schwimmenden Behinderten und den parteiorganisierten Piraten ist, dass die Behinderten ihre Ironie auf ihrer schicksalhaften Identität ruhen lassen, während die Piraten sie aus lauter Verlegenheit bemühen und auch sofort verletzt sind, wenn man ihnen die Ironie vorhält. Der Standardvorwurf der Piraten lautet: Ihr versteht uns nicht.

Aber dem kann man nun endlich vorbeugen. Ich schreibe es heute, um später darauf linken zu können: Piraten, die Commons-Idee wird die Ideenwelt sein, die euch kommendes Jahr durch den Bundestagswahlkampf führt und euch endlich mit Ideologie und Identität ausstattet. Politiker vieler Parteien haben mitgearbeitet, aber nur die Piraten werden es als Vollprogramm einbauen. Ein zweites Wahljahr ohne Inhalte, in dem einem(!) Piraten (Christopher Lauer) auffällt, dass das ach so heilige („müsst ihr doch mal lesen“)-Programm unvollständig auf der Website war, und zwar ein halbes Jahr(!) lang, wird es nicht geben.

(Bild: Pressematerial vom Bundesparteitag der Piratenpartei Deutschland in Neumünster)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. kusanowsky sagt:

    Ein sehr beeindruckender Artikel. Ganz hervorragend. Dieser Artikel zeigt, dass es zukünftig nicht nur eine Piratenpolitik, sondern auch einen Piratenjournalismus geben wird. Ganz faszinierende Zeit.

  2. Stefan Schulz sagt:

    Danke, Klaus!

  3. kusanowsky sagt:

    Nachtrag: die Innovation eines Piratenjournalismus besteht darin, die Produktonszusammenhänge eines Beitrags, der im Netz erscheint, durch einen weiteren Beitrag, der ebenfalls im Netz erscheint, zu kommentieren. Es handelt sich um Selbstkommentierung. Und ich rate mal, dass ein Piratenjorunalist auf diesen Selbstreferenzusammenhang ähnlich empfindlich reagieren muss wie ein Piratenpolitiker.
    Die Einsicht kurz gefasst: Piraten aller Art, künftig auch Wissenschaftspiraten und Wirtschaftspiraten, müssen es sich gefallen lassen, bei allem erwischt zu werden, schon allein deshalb, weil sie immer dazu bereit sind, alle relevanten Aspekte ihres eigenen Produktionsvorgangs selbst schon preis zu geben, noch bevor sie jemand investigativ ermittelt. Meine Überlegung geht dahin, wie daraus Intransparenz entsteht.

    Diese Überlegung heb ich mir für später auf.

  4. dieterbohrer sagt:

    Jetzt muss ich einen anständigen kurzen Satz formulieren, der doch alles ausdrückt, was ich Ihnen, lieber Stefan Schulz, (Dir lieber Stefan), wirklich von Herzen sagen möchte: ich habe, zum Beispiel bei SPON, schon so oft und so heftig auf Journalisten geschimpft, (obwohl dies eigentlich mein Traumberuf war, den ich aber leider nicht ergreifen durfte), dass ich richtig von Herzen froh bin, an Ihnen/Dir und somit auch an der damit verbundenen Schreibe und Einsatzfreude einen zu haben, an dem ich alle meine Journalistenbeschimpfungen wieder gut machen kann.

    Deine Beurteilung der Piraten und auch Dein Einsatz für sie wird Dir in Deiner einmal abgeschlossen sein werdenden Berufsbiographie bestimmt im Journalistenhimmel hoch angerechnet werden.

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