Es gibt ein „Recht auf Verzeihen“

Ist das Internet eine „Speakers‘ Corner“, eine Ecke im Park mit Podium, auf der jeder einmal sprechen und schimpfen darf, worüber er will? Als Denkanstoß für den Umgang mit aktuellen Fragen, wie sie beispielsweise das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs aufgeworfen hat, dient die Metapher schon, mit Abstrichen und Zugaben. Es ist so: Das Internet erschwert die Unterscheidung zwischen Medien und anderen Sprechern in der Öffentlichkeit, es stellt die ganze Welt als potenzielles Publikum dar, gibt dem Sprecher aber deswegen nicht sogleich die Möglichkeit, auch tatsächlich jeden zu erreichen. Und ab wann wird die Redefreiheit des einen eigentlich gewichtiger als die Freiheit des anderen, sein Leben selbstbestimmt und privat zu gestalten?

Neunzehn Experten, überwiegend Juristen, und Innenminister Thomas de Maizière haben am Donnerstagmittag in der Dialogrunde „Datenschutz im Spannungsverhältnis zur Informations- und Meinungsfreiheit“ in Berlin über diese Fragen diskutiert. Das Problem zog bereits in der ersten Wortmeldung der mehr als zweistündigen Veranstaltung der Rechtsanwalt Thorsten Feldmann auf: Üble Nachrede, Beleidigung und andere Persönlichkeitsrechte verletzende Äußerungen, ebenso die Verbreitung von persönlichen Informationen, wie etwa durch Gerüchte, sei eigentlich kein Fall für staatliche Stellen, sondern für das Zivilrecht. Es bleibe auch im juristischen Streitfall eine Angelegenheit zwischen Privatleuten. Zu diskutieren sei aber nun – nach dem Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs – über staatliche „umfassende Kommunikationsregulierung“ die obendrein „wahre Informationen“ betreffe.

Sollte die Prämisse des Google-Urteils, dass das Datenschutzrecht Vorrang gegenüber anderen Rechten habe, sich auch im Gesetz niederschlagen, etwa in der kommenden Datenschutz-Grundverordnung, sei das „fatal“, sagte Feldmann. Auch diejenigen, die es nicht so radikal bewerteten, hielten es allerdings für angebracht, mit einem Gesetz zu warten. Man könne den Gerichten die Fragen anvertrauen, sagte Ulf Buermeyer, Richter am Landgericht Berlin. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Justizministerin und heute im Beirat für Google beratend bei der Bewältigung der Anfragen auf Namens-Löschungen in der Googlesuche beschäftigt, sah es ebenso. Langfristig könnten die Fragen jedoch nur mit Gesetzen entschieden werden. Die Entscheidungsgewalt läge derzeit zurecht, aber nur mittelfristig, bei Google, sagte sie.

Die zu debattierenden Fragen sind tief gehend. Es ging um die Frage, mit welchen rechtlichen Privilegien Medien mit personenbezogenen Informationen umgehen, und weshalb dieselben Rechte nicht auch Bloggern oder einfachen Nutzern sozialer Netzwerke zustünden. Leutheuser-Schnarrenberger betonte die große Bedeutung des Zeitfaktors bei der Verfügbarkeit von Informationen. Ulf Buermeyer regte daran anschließend an, neben der etablierten Unterscheidung von Informations-Äußerung und -Vermittlung auf die neue Unterscheidung zwischen dem äußern und dem auf Informationen hinweisen zu achten. Es gebe längst ein Recht auf Vergessenwerden, betonte ein Mitarbeiter des Datenschutzbeauftragten Hamburg. Wenn es auch für die Presse nicht gelte, regelt das Bundesdatenschutzgesetz, dass personenbezogene Informationen nach vier Jahren auf Richtigkeit zu überprüfen um im Zweifel zu löschen seien. So gelte es für Unternehmen, beispielsweise Adresshändler.

Indra Spieker von der Universität Frankfurt stellte dar, dass es in der geplanten Datenschutz-Grundverordnung noch keine Beachtung der Unterscheidung von online- und offline-Nutzung von personenbezogenen Informationen gebe. In der Rechtssprechung habe es sich dagegen etabliert, die potenzielle Reichweite einer Onlinepublikation zu achten und beispielsweise von Äußerungen in passwortgeschützten Räumen oder lediglich auf Papier gedruckt zu unterscheiden. Auch in Urteilen des Verfassungsgerichts spiele die Reichweite bereits eine „traditionelle Rolle“, sagte Buermeyer. Tatsächlich liege es sogar nahe, das Google-Urteil, das überwiegend als grundrechtseinschränkend kritisiert wird, als „Urteil der Freiheit“ zu werten, schloss er an. Beachte man nämlich die neuen juristischen Eingriffsmöglichkeiten in die Wirkung einer Äußerung, könne man die Äußerungen selbst anders bewerten: Nämlich tatsächlich liberaler, weil die Wirkung zu einem Zeitpunkt, ab dem die Äußerung nicht mehr gerechtfertigt scheint, nun beschränkt werden kann. Diese Möglichkeiten des „Nachsteuerns“ zeigten sich im Google-Urteil sehr deutlich, betonte Buermeyer.

Als heute schon entscheidbar stellte sich allerdings kaum ein angesprochenes Problem dar. Zum einen wurde betont, dass weder Google, noch die Datenschutzbehörden, selbstständig entscheiden dürften. Sie trügen zwar die Hauptlast in der Bewertung der Anträge von Privatpersonen auf Löschung von Links. In jedem Einzelfall sei es allerdings möglich, die Entscheidungen an ein Gericht zu überweisen. Dennoch betonte auch der Innenminister die Bedeutung einer Balance der Grundrechte. Würden zu strikte Regulierungen gegen die Informationsfreiheit in ein europäisches Gesetz eingebracht, „gilt das dann auch in Ungarn“, warnte de Maizière. Andererseits lassen sich viele Lösungen aus bereits bestehenden Rechten ablesen, betonte der Minister. Der Umgang mit Führungszeugnissen zeige, dass es ein „Recht auf Verzeihen“ längst gebe und es selbst in Strafsachen gute Gründe gibt, es zu achten und anzuwenden.

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

3 Kommentare

  1. UrsulaJ sagt:

    Es wurde kein staatlicher Anspruch auf Vergessen geschaffen, sondern dem einfachen Bürger (nicht: dem Promi, dem Politiker, anderen „Personen der Zeitgeschichte“) das Recht gegeben, unsägliche Dinge löschen zu lassen. Das ist und bleibt reinstes Privat- bzw. Zivilrecht, was also vor den normalen Gerichten von den Bürgern geltend zu machen ist, sollte eine Datenkrake sich weigern, diesem PRIVATEN Anspruch Folge zu leisten.

    Unsäglich ist es, dass die Datenkraken in ihren Formularen sich Rechte zugestehen lassen, die NICHTS mit dem Anspruch zu tun haben, ja ihn sogar konterkarieren (Information Dritter etc.). Aber so geht eine US-Datenkrake halt seit jeher mit dem Michel um: Man versucht, was geht! Wir schon keiner wagen zu klagen. Unsäglich.

    Der Anspruch ist richtig und wichtig. Und wer – als freier Bürger – dagegen poltert, hat wohl kaum begriffen, um was es geht: Um das Recht der kleinen Leute. Die Beispielsfälle, die die Datenkraken jetzt publikumswirksam durch angeblich unabhängige Blogger an die Wand malen, sind dümmliche Propaganda.

  2. Huckeltown sagt:

    Anstand und zu wissen wie weit man gehen darf, muss wieder zum guten Ton gehören, muss zu den Faktoren zählen, die zu Respekt und Anerkennung verhelfen, was sich in privaten, beruflichen und finanziellen Erfolg abzeichnet. Freie Rede und Kritik ja, aber der Ton muss stimmen, darauf zu achten und unverzüglich einzugreifen, um Schlimmeres zu vermeiden ist Sache der Verantwortlichen. Niemandem steht es zu den Ruf und die Existenz eines Mitmenschen zu zerstören. Bei Verstößen sollte es Ehrensache sein, dass die Täter sich entschuldigen und mithelfen den Ruf und die Würde eines Geschädigten wieder herzustellen. Meines wissen müssen professionelle Journalisten immer die Quelle und Wahrheitsgehalt ihrer Nachrichten prüfen bevor sie diese veröffentlichen. Das sollte auch für das Internet gelten. Berichte oder Kommentare insbesondere für negative Berichte und von Laien sollten eine Freigabe bedürfen.

  3. guatuso sagt:

    Ein Bekannter von mir wurde vor mehr als 30 Jahren Straffaellig. Er ist laengst aus der Haft entlassen, seine Akte sauber, verheiratet und Vater eines halbwuechsigen Sohnes.
    Im Goggle hat er keine Entwicklung durchgemacht. Jeder der will, kann lesen, was er vor seinem halben Leben mal falsch gemacht hat.
    Der Mann hat nicht etwa das Recht, sein Leben in seine Hand zu nehmen und selber zu entscheiden, wem er was ueber sein Leben miteilen will, nein, das uebernimmt Google.
    Auch sein Sohn wird mal „Zwangsaufgeklaert“

    Goggle weigert sich die Eintraege zu „loeschen“. Seine Tat sei gesellschaftlich relevant (Totschlag), obwohl sie „nur“ regional blieb.
    Ich nenne das Menschenerachtung. Das Gesetz steht solchen Veraenderung und Eingliederung zu. Google zerstoert es gewollt.
    Wer ist hier der wirkliche Verbrecher?

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