Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis

Unbenannt-1

Es gehört zur Selbstverständlichkeit von sich als „systemisch“ verstehenden Beratern und Managern, sich auf die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns zu berufen. Auf systemischen Fortbildungen werden regelmäßig Bilder von Bäumen ans Flipchart gemalt, auf dem die soziologische Systemtheorie als zentrale Wurzel des systemischen Managements und der systemischen Beratung dargestellt werden. Und fast jeder Text eines Systemikers ist mit Luhmann-Zitaten garniert, um die eigene Vorgehensweise wissenschaftlich zu begründen oder auch nur zu legitimieren.

Sicherlich – die Quellen, auf die sich Systemiker berufen, sind vielfältig; die von den Systemikern gezeichneten Bäume zeigen als Wurzeln zumeist auch noch Kommunikationstheorien à la Paul Watzlawick, die systemische Familientherapie von Mara Selvini Palazzoli, den Sozialkonstruktivismus besonders von Heinz von Foerster, die Psychoanalyse Sigmund Freuds oder naturwissenschaftliche Systemtheorien à la Humberto R. Maturana. Der Einfluss dieser Theorien auf die systemische Familientherapie und die Gruppendynamik waren gewiss beachtlich, aber weil diese Ansätze so gut wie nichts über Organisationen aussagen, stellt die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns in der Regel die zentrale Referenz dar, wenn es um die Verwendung der Systemtheorie für die Beratung und das Management von Organisationen geht.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die soziologische Systemtheorie als Leittheorie besonders bei deutschsprachigen Prozessberatern durchgesetzt hat, ruft inzwischen heftige Reaktionen hervor. Die Kritik bezieht sich dabei nicht mehr wie früher darauf, dass diese besonders von Niklas Luhmann geprägte Theorie die Verantwortung des einzelnen Individuums reduzieren würde (Sprenger 1995). Kritisiert wird vielmehr, dass der Siegeszug der soziologischen Systemtheorie die Missachtung anderer systemtheoretischer Ansätze wie der „Systems Dynamics“, der „Kybernetik“ oder des „Critical Systems Thinking“ zur Folge gehabt habe und die Engführung der Diskussion im deutschen Sprachraum auf Luhmann letztlich in eine „Sackgasse“ geführt hätte (so neuerdings Klein 2015).

Aus der Perspektive auf die Systemtheorie als wissenschaftlichen Ansatz ist die letztgenannte Kritik nur schwer nachvollziehbar. Es ist offensichtlich, dass in der Wissenschaft nicht so sehr ein Rezeptionsproblem älterer oder neuerer Ansätze der Kybernetik im deutschsprachigen Raum besteht, sondern vielmehr umgekehrt ein Rezeptionsdefizit der soziologischen Systemtheorie in englischsprachigen Ländern. Die soziologische Systemtheorie kommt wegen der fehlenden Übersetzung der systemtheoretischen Schlüsselwerke über Organisationen ins Englische in der US-amerikanischen und britischen Wissenschaftsdiskussion faktisch nicht vor. Folge ist, dass es die am Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons geschulten Abwehrreflexe in den USA und in Großbritannien nach wie vor erlauben, die Systemtheorie Niklas Luhmanns in der Organisationsforschung weitgehend zu ignorieren (siehe dazu Kühl 2015: S. 31).

Aber den systemischen Managern und Beratern können diese Rezeptionsverzögerungen in der Wissenschaft gleichgültig sein. Hier interessiert vorrangig der Siegeszug der Systemtheorie in der außerwissenschaftlichen Praxis im deutschsprachigen Raum. Glaubt man den Beschreibungen von Praktikern, dann gibt es zwar immer noch viele Berater und Manager, die sich mit mehr oder minder selbst gestrickten Theorien mittlerer Reichweite oder ganz ohne Theorien in der Praxis bewähren, wenn es aber eine Großtheorie gibt, auf die die Praktiker zurückgreifen würden, dann wäre es inzwischen vorrangig der Ansatz Niklas Luhmanns.

Die Trivialisierung der Systemtheorie

Für den auf den ersten Blick überraschenden Erfolg der soziologischen Systemtheorie in der systemischen Beratung gibt es eine plausible Erklärung: Das, was im Moment als systemisches Management, als systemische Beratung oder als systemisches Coaching angeboten wird, ist – um es freundlich auszudrücken – mit der soziologischen Systemtheorie nur sehr lose gekoppelt. In vielen Fällen haben die Publikationen, die unter dem Label „systemisch“ den Anspruch erheben, systemtheoretisch informierte Handreichungen zu liefern, mit der systemtheoretischen Soziologie so viel zu tun wie ein James-Bond-Film mit der faktischen Arbeit von Geheimdiensten. Die für die systemische Beratung und das systemische Management vereinfachten systemtheoretischen Überlegungen wirken alle griffiger, eingängiger und praktischer als die für den wissenschaftlichen Diskurs geschriebenen systemtheoretischen Urtexte – jedoch um den Preis inhaltlicher Verzerrungen.

Man mag als selbst in der wissenschaftlichen Theorie verankerter Purist darüber klagen, aber der Effekt ist bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich. Die „Verwässerung“ soziologischen Wissens in der Praxisanwendung ist durch die Verwendungsforschung inzwischen für ganz unterschiedliche soziologische Theorien als unvermeidlich nachgewiesen worden. Bei der Reinterpretation von wissenschaftlichem Wissen werden, so prägnant schon Ulrich Beck und Wolfgang Bonß, die Ergebnisse soziologischer Forschung ihrer „Soziologie“ entkleidet, denn die Wissensbestände, die im Wissenschaftsbetrieb produziert werden, unterliegen im Produktionsprozess nicht dem Kriterium der Anwendbarkeit und sind deswegen für die Praxis häufig „unpraktisch“. Das soziologische Wissen wird deswegen in der Praxis regelrecht klein gearbeitet. Es kommt dabei zu einer „Autonomisierung der Verwendung gegenüber dem Angebot“. Die Verwendung soziologischen Wissens in der Praxis läuft geradezu auf eine „aktive Abschaffung des Soziologischen am Ergebnis“ hinaus (Beck/Bonß 1984: S. 392ff.).

Die Beliebigkeit des Begriffs systemisch

Die über das „Systemische“ in die Gesellschaft getragene Systemtheorie ist inzwischen Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Inzwischen wird alles mit dem Begriff des „Systemischen“ geschmückt und mit Referenzen auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns ausgestattet. Es gibt „systemisches Gesundheitscoaching“, „systemische Supervision“, „systemisches Mentoring“, „systemische Burn-Out-Prophylaxe“, „systemisches In- und Outsourcing“, „systemische Schulpädagogik“, „systemisches Sozialmanagement“, „systemisches Innovationsmanagement“, „systemische Personalentwicklung“, „systemische Hundeerziehung“, „systemische Heimerziehung“ und „systemisches Führen mit Pferden“. Es scheint keine Expansionsgrenzen für das Adjektiv „systemisch“ mehr zu geben, die Durchsetzung der Substantivformen „Systemik“ oder „Systemiker“ sind nur noch eine Frage der Zeit. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass es bald das Verb „systemiken“ oder „systemisieren“ geben wird.

Das grundlegende Problem ist, dass im Diskurs der Systemiker die Spannung zwischen Wissenschaft und Praxis weitgehend aufgegeben worden ist. Die „systemtheoretische Organisationstheorie“ wird inzwischen kurzerhand mit einer „systemischen Organisationstheorie“ gleichgesetzt. Die „systemtheoretische Wirtschaftssoziologie“ wird zur „systemischen Wirtschaftstheorie“ umdeklariert und die „Systemtheorie der Beratung“ wird mit der „Systemtheorie in der Beratung“ verschmolzen. Gerade der Beratungs- und Managementansatz, der sich auf eine wissenschaftliche Theorie beruft, die die Unterscheidung von Systemen stark macht, lässt Wissenschaft und Praxis weitgehend fusionieren. Bei allem Verständnis für die Trivialisierung der Wissenschaft in der Praxis hat das doch eine gewisse Ironie.

Eine Langfassung des Artikels findet sich unter http://www.uni-bielefeld.de/soz/forschung/orgsoz/Stefan_Kuehl/.


Literaturverzeichnis

Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (1984): „Soziologie und Modernisierung Zur Ortsbestimmung der Verwendungsforschung“, Soziale Welt, Jg. 35, S. 381–406.

Klein, Louis (2015): „What the hell is Systemtheorie? Eine Polemik“, Organisationsentwicklung, S. 66–68.

Kühl, Stefan (2015): „Zur Auswahl der Schlüsselwerke der Organisationsforschung – Einleitung“, in: Stefan Kühl (Hg.): Schlüsselwerke der Organisationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 19–37.

Sprenger, Reinhard K. (1995): „Systemtheorie und Selbstverantwortung“, Organisationsentwicklung, S. 72–77.

(Bild: Gunnar Sohn)

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

4 Kommentare

  1. Dirk Baecker sagt:

    Kommt Zeit, kommt Rat. In Vorbereitung sind eine 2. Auflage der „Schlüsselwerke der Systemtheorie“ (1. Aufl. 2005), die auch „systemische“ Ansätze der Managementlehre aufnehmen wird (St. Gallener Modell, soft systems methodology etc.), und in der Prüfung befindet sich die Publikation einer abgeschlossenen englischen Übersetzung von Luhmanns „Organisation und Entscheidung.“ Das wird an Kühl zentralem Punkt des Hinweises auf eine Differenz zwischen der Praxis der Wissenschaft und der Praxis der Beratung allerdings nichts ändern.

  2. Kann es so beschrieben werden, dass Texte die den Kritikbegriff einführen ohne die Bedingungen der erkenntnistheoretischen Möglichkeit der Selbstkritik erwähnen und Praxisdefinitionen benutzen und dabei den Text Organisation und Entscheidung, der dem Autor Niklas Luhmann zugeschrieben wird ignorieren Inkompetenz unterstellt werden wird?

  3. […] Begriffe wie Störung, Katastrophe (eines Systems) kamen in diesem Sinne in Umlauf. In einem sehr lesenswerten Text zeigt der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl (2015) die unkontrollierte Ausdehnung, […]

  4. […] ein älteres Fundstück habe ich noch: Einen Aufsatz über die „unvermeidliche Trivialisierung“ systemtheoretischer Begriffe und „Modelle“ in der beratenden Praxis. Vermutlich liegt ein Teil der Attraktivität, […]

Schreibe einen Kommentar zu Dirk Baecker Antworten abbrechen

Pflichtfelder sind mit * markiert.