Zeitdiagnosen 4.0

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Ein Trend zu Neuem ist nicht zu übersehen. Im monatlichen Rhythmus werden neue technische Epochen, innovative Organisationsformen oder gleich neuartige Gesellschaftsformationen ausgerufen. Berater versuchen über schnell hingeworfene Zeitdiagnosen, ihre Angebote zu vermarkten, Wissenschaftler geben ihren Forschungen darüber eine massenmediale Bedeutung und Politiker versuchen, darüber Themen zu setzen.

In der Vergangenheit wurden Zeitdiagnosen noch so formuliert, dass man genau wusste, worum es ging. Es war die Rede von der „Industriegesellschaft“, der „Dienstleistungsgesellschaft“ oder der „Erlebnisgesellschaft“; verkündet wurde der Trend zur „Matrix Organisation“, zum „Lean Management“ oder zum „Business Process Reengineering“. Aber schon an der Popularität der Vorsilbe „post“ in der Bezeichnung manches neuen Trends konnte man erkennen, dass sich die Zeitdiagnostiker immer weniger trauten, ihre Analysen mit einem präzisen Begriff zu bezeichnen. Begriffe wie postindustrielle Gesellschaft, postfordistisches Unternehmen oder postbürokratische Organisationen suggerieren zwar eine grundlegende Veränderung, lassen aber offen, was sich genau verändert. Und es hat eine gewisse ungewollte Ironie, wenn inzwischen wissenschaftliche Konferenzen veranstaltet werden, auf denen danach gefragt wird, was nach der postbürokratischen Organisation oder nach dem postfordistischen Unternehmen komme.

Die aktuelle Entwicklung – gewissermaßen der Meta-Trend in der Trendforschung – ist es, Zeitdiagnosen nur noch in Versions-Nummern auszurufen. Die Rede ist vom Web 2.0, in dem die Zusammenarbeit der Nutzer immer wichtiger werde, es wird die Förderbank 2.0 verkündet oder von Gründungsinitiativen 3.0 gesprochen. Es wird die Industrie 4.0 ausgerufen, in der die zunehmende informationstechnische Vernetzung zwischen Unternehmen wichtiger wird, oder es wird – wie jetzt gerade in einem Grünbuch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – unter dem Label Arbeit 4.0 bekannt gemacht, dass sich in der Arbeitswelt sehr viel ändert. Angesichts dieser in überraschend vielen Fällen von Bundesministerien finanzierten und propagierten Zeitdiagnosen wartet man förmlich darauf, dass die Bundesregierung – unterstützt durch Berater, Trendforscher und Wissenschaftler – demnächst verkündet, dass wir in einigen Monaten in der Gesellschaft 5.0 leben werden.

Aber letztlich ist es bei den in Versionen verpackten Zeitdiagnosen wie bei den Software-Programmen, von denen man das Denken in Versionen übernommen hat: Genauso wie man sich manchmal fragt, was sich zwischen Windows 8.0 und Windows 10.0 oder Citavi 4.0 und Citavi 5.0 verändert hat, fragt man sich auch bei den Zeitdiagnosen, warum Veränderungen jetzt gleich das Ausrufen einer ganz neuen Version rechtfertigen und ob man sich nicht beispielsweise mit einer weniger ambitionierten Versionsbenennung wie Industrie 2.2 oder Arbeit 3.7.9 zufriedengeben könnte.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Man merkt dem vor Kurzem veröffentlichten Grünbuch des Arbeits- und Sozialministeriums an, dass man sich viel Mühe gegeben hat, Gründe ausgerechnet für eine Version 4.0 zu finden – vermutlich, um von der Popularität des Konzepts Industrie 4.0 in der massenmedialen Diskussion zu profitieren.  Arbeit 1.0 habe – so das Grünbuch – in der Industriegesellschaft stattgefunden, in der sich durch die Einführung von Dampfmaschinen und mechanischen Produktionsanlagen die Arbeitsbedingungen verändert hätten, Arbeit 2.0 sei dann durch die Massenproduktion und den Wohlfahrtsstaat geprägt gewesen. Arbeit 3.0 – und hier erkennt man, wie verzweifelt man weitere Versionen suchte – sei durch die Konsolidierung des Sozialstaates und die spätere Zurücknahme des Sozialstaates geprägt gewesen. Arbeit 4.0 werde jetzt – so die Zeitdiagnose des Arbeitsministeriums – „vernetzter, digitaler und flexibler“.

Aber sind die beobachteten Trends wirklich so neu? Ein Kernbestandteil von Arbeit 4.0 sei, so das Grünbuch, die digitale Vernetzung zwischen Unternehmen. Es besteht die Vorstellung von „hochautomatisierten vernetzten Produktions- und Logistikketten“, die die Arbeit erheblich verändern. Sicherlich ist dies als Beobachtung nicht falsch, aber letztlich gibt es diese Zeitdiagnose unter dem Begriff der systemischen Rationalisierung seit über dreißig Jahren. Es gehe, so die damalige Beobachtung, nicht mehr nur um die Leistungssteigerung an den Einzelarbeitsplätzen, sondern die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien würden es ermöglichen, die Wertschöpfungsprozesse zwischen Betrieben zu automatisieren und zu rationalisieren. Die Speicherleistungen  mögen größer, die Sensoren präziser, die Übertragungsgeschwindigkeiten höher werden, eine grundlegende Veränderung der Rationalisierungslogik hat jedoch nicht stattgefunden.

Weil aufgrund des „digitalen Wandels“ zunehmend auch „digital literacy“ gefragt sei, komme es – so die aktuelle Zeitdiagnose weiter – zu einer neuen „Dualisierung des Arbeitsmarktes“. „Am unteren Rand“ habe sich ein „Bereich von unsicheren und prekären Beschäftigungsverhältnissen“ ausgebildet. Es würde sich zwar weiterhin ein Großteil der Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen befinden, gleichzeitig seien aber immer mehr Personen in atypischen, häufig prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Eine solche Dualisierung des Arbeitsmarktes mag auffallen, wenn man als Vergleich die sehr kurzen Phasen der Vollbeschäftigung in der alten Bundesrepublik heranzieht, über eine längere Zeitachse beobachtet, ist die Dualisierung des Arbeitsmarktes der kapitalistische Normalfall. Die am Existenzminimum lebenden „Solo-Selbstständigen“ und „Klick-Worker“ hießen früher bloß „Tagelöhner“, statt von einem „Prekariat“ wurde von einem „Lumpenproletariat“ gesprochen und als Beispiele dienen heute die selbstständigen Paketausfahrer, Webdesigner, Schauspieler, Taxifahrer und Tankstellenpächter und nicht mehr, wie noch bei Karl Marx, die Lastenträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer und Kesselflicker.

Man erkennt in dem Grünbuch eine deutliche Sympathie für das Konzept des „demokratischen Unternehmens“. Aber wer jetzt denkt, dass ein sozialdemokratisch geführtes Ministerium mit dem alten Kampfruf „one man, one vote“ – oder politisch korrekter „one person, one vote“ eine Revolution in den Unternehmen ausrufen, würde, irrt sich. Es wird lediglich ein wohlklingendes politisches Konzept geborgt, um unter dem Slogan „demokratisches Unternehmen“ ein dezentralisiertes Organisationsmodell zu propagieren, das in der Wirtschaft alle zehn, fünfzehn Jahre populär wird. Fast alles bleibt bei dezentralisierten Organisationsmodellen gleich, bloß die Namen ändern sich. Die „flexible Firma“ von gestern wird heute als „demokratisches Unternehmen“ und morgen vermutlich als „agiler Betrieb“ bezeichnet. So weit, so gut‒- die Neuerfindung des immer Gleichen ermöglicht es, die seit Langem bekannten problematischen Aspekte dieser dezentralisierten Organisationsformen –genannt seien nur Identitätskonflikte, die Zunahme von Machtkämpfen oder die Komplexitätssteigerung – nicht wahrzunehmen und das Management mit der notwendigen Ignoranz auszustatten, um sich an seiner eigenen, vermeintlich neuen Organisationsform berauschen zu können.

Der Grundkonflikt bleibt der gleiche

Jetzt kann man sicherlich nicht so tun, als wenn sich nichts verändern würde. Der Kapitalismus – ein Wort, das im Grünbuch sorgsam vermieden wird – befindet sich durch die Dynamik der Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte in einem permanenten Veränderungsprozess. Zweifelhaft ist jedoch, ob es die konstatierten Epochenbrüche gibt, die es erlauben würden, von verschiedenen, grundlegend veränderten Versionen von Industrien, Dienstleistungen oder Arbeit zu sprechen. Angesichts der Aneinanderreihung von Schlagwörtern wie „Solo-Selbstständige“, „Mobiles Arbeiten“, „kleine Vollzeit“, „Rushhour des Lebens“, „Dienstleistung on demand“ oder  „Crowdworking“ wird gern übersehen, dass seit der Ausbildung des Kapitalismus die Grundproblematik die gleiche geblieben ist: Wenn ein Unternehmen Personal auf einem Arbeitsmarkt einkauft, garantiert das noch lange nicht, dass diese Arbeitskraft dann auch im Sinne des Unternehmens tätig wird. Das Unternehmen sucht deswegen permanent nach möglichst weitgehenden Zugriffen auf diese Arbeitskraft.

Auch dies ist schon Karl Marx aufgefallen. In der marxistischen Terminologie heißt es, dass der Einkauf von Arbeitskraft durch den Kapitalisten nicht gleichbedeutend mit der realen Nutzung der Arbeitskraft durch das Kapital sei und die Phantasie des Kapitalisten sich darauf richte, wie er dieses „Transformationsproblem“ lösen kann. In der Systemtheorie wird das Transformationsproblem mit der grundlegend zu unterscheidenden Differenz zwischen der Mitgliedschafts- und der Teilnahmemotivation von Organisationsmitgliedern bezeichnet. In einer für Manager akzeptableren Formulierung wird das genau gleiche Problem – in der Regel ohne Referenz auf die marxistischen und systemtheoretischen Entdecker des Phänomens – durch die Principal-Agent-Theory beschrieben. Die Agenten, in diesem Fall die Arbeiter, werden eingekauft, um bestimmte Leistungen für einen Prinzipal, den Unternehmer, zu erbringen und tendieren aus eigener Nutzenorientierung dazu, die Entlohnung durch den Prinzipal mit einer möglichst geringen Leistungserbringung zu erreichen. Der Prinzipal sucht deswegen, unterstützt von Beratern und Wissenschaftlern, nach Lösungen, um die Leistungszurückhaltung verhindern zu können.

Allem Schauseitenmanagement von Unternehmen wie Amazon, Dell oder Apple zum Trotz hat sich an diesem Transformationsproblem grundlegend nichts verändert, lediglich die Akzentuierungen sind andere geworden. Auf der einen Seite versucht das Management, möglichst viel der pauschal eingekauften Arbeitskraft des Mitarbeiters zu nutzen, ohne aber in ein zu einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu ihm  zu geraten. Auf der anderen Seite stehen die Mitarbeiter mit einem Interesse, ihre Arbeitskraft nicht völlig zu verausgaben, gleichzeitig aber für die Firma möglichst unverzichtbar zu sein, um so den eigenen Wert nach oben zu treiben. Der zugrunde liegende Prozess nennt sich (Arbeits-)Markt. und hat sich vor über zweihundert Jahren herausgebildet.

Dramatisiert haben sich lediglich die Darstellungsformen in den Unternehmen. Die Kontrolle wird seltener über allgegenwärtige Manager hergestellt, sondern zum Universalherrn wird auch unternehmensintern der Markt erhoben, dem nichts entgeht, der Erfolg vorurteilslos belohnt und Fehlverhalten unnachsichtig bestraft. Für den Mitarbeiter entsteht der Eindruck, dass Misserfolge nicht vom Vorgesetzten, sondern durch die vermeintlich „objektiven Folgen“ des eigenen Tuns bestraft werden. Entlassungen und Schließungen von Unternehmensteilen werden nicht mehr als Willkür eines gewinnorientierten Unternehmers präsentiert, sondern als logische Konsequenz der Marktprozesse.

Was würde die Rede von einem Epochenbruch rechtfertigen?

Man erkennt, wie sehr sich Politik und Wissenschaft in der öffentlichen Diskussion über Arbeitsbedingungen in leeren Formeln verhaspeln. „Die zunehmende Digitalisierung wird“, so der Freiburger Wirtschaftsweise Lars Feld, „dafür sorgen, dass man in der Arbeit noch flexibler sein muss als heute. Wir werden uns auf ganz flexible Strukturen einstellen müssen“. Das bedeute „einmal für den Arbeitnehmer selber, dass er in der Lage sein muss, ganz unterschiedliche Bereiche flexibel zu bedienen.“ Das heiße „auf der anderen Seite, dass Firmen flexibel genug sein müssen, um auf Veränderungen zu reagieren.“ Das heiße, so Lars Feld ganz flexibel weiter, dass man sich auch Gedanken machen müsse, „ob die Rahmenbedingungen, die wir heute setzen für die Unternehmen, unter der Arbeit 4.0 noch adäquat sind, oder ob wir nicht doch noch etwas flexibler werden müssen, als wir heute sind“.

Das Grünbuch ist ein Beispiel dafür, wie wenig man sich in der Arbeits- und Sozialpolitik im Moment traut, heiße Eisen wie beispielsweise das bedingungslose Grundeinkommen anzufassen. Stattdessen dominiert ein Wertekataloge mit Formulierungen wie „Teilhabe an Arbeit sichern“, „gute Arbeit“, „gerechte Löhne“ oder „gute Unternehmenskultur“. Wegen ihrer Abstraktheit haben Werte zwar „hohe Konsenschancen“, sie stecken aber gleichzeitig letztlich voller praktischer Widersprüche. Wie weit soll denn die „Teilhabe an Arbeit“ gehen? Was ist denn „gute Arbeit“? Wie errechnet man den einen „gerechten Lohn“? Schließt eine „gute Unternehmenskultur“ auch Entlassungen aus? Man kann nur hoffen, dass das für das nächste Jahr geplante Weißbuch des Arbeitsministeriums aus mehr als nur aus einer großen „Begriffswolke“ zum Thema besteht.

(Bild: Beni Arnold)

Von Stefan Kühl erschien vor kurzem in Neuauflage „Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur“ (Campus 2015).

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