Die Störung des Selbstbetrugs. Wie Gesetzesverstöße von Unternehmen entstehen

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Bildnachweis: Missouri State Archive

Branson, MO (MSA)

 

Als Reaktion auf den Abgas-Skandal wird bei Volkswagen das Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ reaktiviert – als ob sich ein Großkonzern nach einem solchen Prinzip führen ließe. Das Konzept heißt „ehrbarer Kaufmann“ und eben nicht „ehrbarer Konzern“: Aktionäre erwarten in dem durch freie Finanzmärkte geprägten Kapitalismus, dass Konzerne ihre Unternehmenspolitik auf Gewinnmaximierung ausrichten und nicht an einem bestenfalls für Personen geeigneten Konzept der Ehre. Moral spielt in Konzernen nur dann eine Rolle, wenn sie entweder von Mitarbeitern in Schlüsselpositionen zum Thema gemacht wird oder wenn wichtige Kunden die Orientierung an moralischen Aspekten einfordern. Fragen der Moral treten in Konzernen dann in Erscheinung, wenn sich wirtschaftlich relevante Tatsachen wie Umsatzeinbußen oder Effizienzverluste einstellen oder wenn es klare gesetzliche Vorgaben gibt, deren Einhaltung mit Verweis auf empfindliche Strafen auch durchgesetzt wird.

Jetzt hat der Volkswagenkonzern zur allgemeinen Überraschung vieler Beobachter mitgeteilt, dass die Abschalteinrichtungen, mit denen die Abgaswerte in ihren Dieselmotoren geschönt wurden, in der Europäischen Union rechtmäßig gewesen seien. Die Software stelle, so ein VW-Sprecher, nach europäischem Recht „keine unzulässige Abschalteinrichtung“ dar. Wenn man voraussetzt, dass die Rechtsabteilung von Volkswagen mit kundigen Juristen besetzt ist und nicht mit fahrlässigen Stümpern, kann man damit rechnen, dass die Rechtsauffassung des Volkswagenkonzerns sich durchsetzen wird. Sollte sich die Rechtsauffassung des VW-Konzerns in den in Europa anstehenden Gerichtsverfahren jedoch als falsch herausstellen, wäre das eine Blamage für den Konzern und würde zwangsläufig zu Rücktritten auf Vorstandsebene führen.

Aber gerade aus der Haltung von Volkswagen, dass die Abschalteinrichtungen rechtmäßig waren, lässt sich viel über den Abgas-Skandal lernen. Die Öffentlichkeit geht immer noch davon aus, dass es eine Art Masterplan gegeben hat, mit dem Führungskräfte im Management von Volkswagen systematisch einen Rechtsbruch geplant haben. Dabei wird jedoch verkannt, dass Volkswagen – wie übrigens alle anderen Automobilunternehmen auch – über ein hohes Maß an Kreativität verfügt, die Verbrauchs- und Abgaswerte ihrer Autos zu schönen. Es werden schmale Reifen mit sehr guten Abrolleigen-schaften eingesetzt, die den Rollwiderstand reduzieren. Die Testfahrzeuge haben keine Spezialaus-stattung und damit weniger Gewicht. Türschlitze werden abgeklebt, um die Aerodynamik zu verbessern, was den Verbrauch reduziert. Testfahrten werden bei optimalen Temperaturbedingungen und in hohen Gängen durchgeführt, weil der Motor dann verbrauchsärmer ist. Der Einsatz einer Software, die erkennt, dass sie auf dem Prüfstand steht und den Motor dann so einstellt, dass optimierte Abgaswerte entstehen, ist aus dieser Perspektive nur ein weiteres innovatives Mittel gewesen, mit dem Autos als umweltfreundlich dargestellt werden konnten.

Die eingesetzten Tricks zur Manipulation der Abgaswerte bewegen sich in vielen Ländern in einer rechtlichen Grauzone, und das Know-how zum Schönen der Verbrauchs- und Abgaswerte wird von einem Land zum anderen transferiert. Dabei wurde dann übersehen, dass in den USA der Einsatz einer Abschalteinrichtung für den Prüfstand unbestreitbar einen Gesetzesverstoß darstellt. Es mag sein, dass einzelne Mitarbeiter bemerkten, dass der Konzern durch die weltweite Diffusion von bewährten Täuschungspraktiken in einzelnen Ländern Gesetzesverstöße begehen könnte. Aber wie häufig in solchen Fällen, werden solche Warnungen nicht zur Kenntnis genommen, weil gerade die Sichtweise der Konzernspitze durch die Rechtslage im eigenen Land geprägt ist. Deswegen war es vermutlich die Konzernspitze von Volkswagen, die am stärksten von der Dimension des Abgas-Skandals überrascht wurde. Gesetzesverstöße von Unternehmen entstehen nicht durch einen Beschluss des Vorstandes, Rechtsbruch zu begehen, sondern durch das Einschleichen und die Diffusion illegaler Praktiken.

Der Abgas-Skandal kam für das Management für Volkswagen deswegen überraschend, weil sich die Automobilindustrie in Deutschland lange Zeit in Sicherheit wiegen konnte, da sie nicht nur die Formulierung der Umweltpolitik in Deutschland, sondern auch die Durchsetzung internationaler Umweltstandards maßgeblich beeinflusst hat. Der Wechsel aus der Politik in die gut bezahlten Lobby-Jobs in der Automobilindustrie ist in Deutschland eine eingespielte Routine. Der Staatsminister Eckart von Klaeden von der CDU wechselte zu Daimler und wurde dort Cheflobbyist. Thomas Steg, Regierungssprecher unter Gerhard Schröder, wurde Generalbevollmächtigter bei der Volkswagen AG, zuständig für die Beziehungen zur Bundesregierung. Volker Hoff, hessischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, wechselte auf den Posten des Cheflobbyisten bei Opel. Der CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann wurde zum Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie. Und die Politik des amtierenden Bundesverkehrsministers Alexander Dobrindt von der CSU liest sich wie ein Bewerbungsschreiben für dieses Amt, wenn es in den nächsten Jahren frei wird. Diese Drehtürpolitik zwischen Wirtschaft und Politik hat dazu geführt, dass die Automobilindustrie glaubte, die sie betreffenden politischen Prozesse schon entsprechend kontrollieren zu können.

Es ist auffällig, wie gut es bisher gelungen ist, die Tatsache zu kaschieren, dass jährliche tausende Menschen an den Abgasen der Kraftfahrtzeuge sterben. Es ist inzwischen wissenschaftlich gesichert, dass jährlich alleine in Deutschland 35 000 Todesfälle auf die Belastungen der Atemluft mit Stickoxiden, Kohlendioxid und Feinstaub zurückgeführt werden können. Und einer der Hauptverursacher für die durch Abgase hervorgerufenen Atemwegserkrankungen, für Lungenkrebs, Schlaganfälle und Herzinfarkte ist der individualisierte Automobilverkehr. Um die Dimension der Verdrängung zu begreifen, muss man sich lediglich vor Augen führen, was passieren würde, wenn es in Deutschland jährlich zu tausenden von Toten durch Terroranschläge käme. Aber dieser Vergleich wird gar nicht erst angestellt, weil das Sterben durch Autoabgase sich von dem Sterben aufgrund von Terroranschlägen unterscheidet: Erstens sieht man – anders als bei Bombenanschlägen – in der Regel nicht, wie Menschen an den Abgasen sterben, sondern man stellt lediglich statistische Häufungen von Todesfällen beispielsweise an Ausfallstraßen fest. Zweitens sind nicht einzelne genau zu identifizierende Attentäter für den Tod verantwortlich, sondern alle Autofahrer leisten ihren kleinen, aber in der Masse relevanten Beitrag zu diesem Sterben. Drittens tragen die Personen, die durch Stickoxide und Feinstaub sterben, in der Regel auch durch ihre Teilnahme am Autoverkehr selbst zu ihrem Tod bei.  Durch Abgase bedingte Todesfälle sind zu einem gewissen Teil immer auch Fälle von Selbsttötung.

Aber gerade weil durch das eigene Verkehrsverhalten praktisch jeder an den Todesfällen infolge von Abgasbelastung beteiligt ist, ist die Empörung über die Schummelei bei den Abgaswerten so hoch. Als Kunde will man beruhigt werden, dass man durch den Kauf von Autos mit niedrigen Verbrauchs- und Abgaswerten seinen eigenen Beitrag zum Umweltschutz geleistet hat. Überspitzt ausgedrückt: Wenn man schon einen SUV kauft, der von seinen Ausmaßen her an die Größe eines Kleinpanzers heranreicht und mit geringer technischer Aufrüstung auch Sprengbomen abhalten könnte, will man gleichzeitig auch kommuniziert bekommen, dass man mit dem Kauf dieses Autos seinen Beitrag zurmUmweltschutz leistet. Wenn man billige Eier aus der Legebatterie oder Schnitzel aus der Massentierhaltung kauft, dann sollte zur Beruhigung ein besonders idyllischer Bauernhof auf der Verpackung abgebildet sein.

Der Organisationswissenschaftler Nils Brunsson hat diesen Prozess als umgekehrte Kopplung bezeichnet. Er hat beobachtet, dass die Organisationen, die aufgrund fragwürdiger Praktiken am stärksten unter Druck stehen, diejenigen sind, die am meisten Energie darauf verwenden, sich als vorbildlich darzustellen. Diejenigen Unternehmen, die die größten Emittenten von Giftstoffen sind, verfügen über die dicksten Umweltschutzberichte. Die Unternehmen mit dem höchsten Ressourcenverbrauch unterhalten die größten Abteilungen für Nachhaltigkeit. Die Betriebe, die besonders viele Produktionsbereiche ins Ausland verlagern, sind diejenigen, die öffentlich am stärksten ihre Verankerung in der Region verkünden. Und bei Kunden finden man das Bedürfnis, dass man beim Kauf besonders problematischer Produkte besonders stark beruhigt werden will, dass in Bezug auf Standards des Umweltschutzes, des Tierschutzes oder des Arbeitsschutzes schon alles in Ordnung sein wird. Und dabei stören die Nachrichten über Schummeleien bei Abgaswerten – nicht weil man die paar mehr Toten durch die manipulierten Abgaswerte beklagt, sondern weil der so mühsam aufgebaute Selbstberuhigungsprozess gestört wird.

 

 

 

3 Kommentare

  1. Ludwig Reiners sagt:

    Ich halte die wissenschaftliche Grundlage Ihrer Thesen für etwas dünn. Ein Quellennachweis ihrer Behauptungen fehlt. Daher möchte ich Ihren Studenten empfehlen, sich mit Wissenschaft zu beschäftigen.

    • Stefan Kühl sagt:

      Hier die gewünschten Literaturangaben:

      Eine Auswahl von Literatur zum Einschleichen illegaler Praktiken:

      Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot. Kapitel über brauchbare Illegalität.

      Bensman, Joseph; Gerver, Israel (1963): Crime and Punishment in the Factory. The Function of Deviancy in Maintaining the Social System. In: American Sociological Review 28, S. 588–598.

      Kühl, Stefan (2007): Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung. Systemtheoretische Analyse eines Beratungsprozesses. In: Soziale Welt 58, S. 269–291.

      Zur umgekehrten Kopplung bei der Heuchelei

      Brunsson, Nils (2007): Organized Hypocrisy. In: Nils Brunsson (Hg.): The Consequences of Decision Making. Oxford, New York: Oxford University Press, S. 111–134.

      Zu den statistischen Berechnungen zu den Toten durch Verbrennungsmotoren siehe Publikationen der WHO
      http://www.who.int/en/

      Aber zu den Gesundheitsrisiken kann man auch ein (unbedingt zeitlich befristeten) Selbstversuch machen, in dem man in der Garage den Motor eines Autos laufen lässt.

  2. Uwe Neumann sagt:

    „Todesfälle auf die Belastungen der Atemluft mit Stickoxiden, Kohlendioxid und Feinstaub zurückgeführt werden können …“

    Kann es sein, dass es sich bei dem aufgeführten „Kohlendioxid“ um einen Irrtum handelt und statt dessen das hochgiftige Kohlenmonoxid gemeint ist?
    Kohlendioxid ist in hohen Konzentrationen zwar giftig (wenn man so will), ansonsten aber ein ganz normaler Bestandteil der Atemluft. Wir produzieren selbst jede Menge davon und scheiden es beim Ausatmen (Gehalt ca. 4%) aus.
    In Zusammenhang mit Kraftfahrzeugabgasen spielt Kohlendioxid m.E. lediglich im Hinblick auf seine Klimawirksamkeit („Treibhausgas“) eine Rolle, nicht jedoch wegen seiner direkten toxischen Wirkung auf den Menschen.
    Beim Kohlenmonoxid sieht das ganz anders aus. Die von ihnen angesprochene Suizidmethode durch Einatmen von Autoabgasen beruht hauptsächlich auf der toxischen Wirkung des eingeatmeten Kohlenmonoxids.
    Mit freundlichen Grüßen U. Neumann

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