Im 500. Jahr der Reformation ist die deutsche evangelische Kirche intensiv mit eigenen Reformen beschäftigt. Dabei wird mehr denn je deutlich, was sie von Rom nicht unerheblich unterscheidet.
Sanfte Reminiszenz an staatskirchliche Zeiten: Auf Anordnung des preußischen Königs sind Talar und Beffchen die Insignien der protestantischen Geistlichkeit – bis heute. Das Foto zeigt die Ordination neuer Pfarrer in ihr Amt. Bild: Nordkirche.
Die evangelische Kirche begeht mit vielen Festakten und Feierstunden im ganzen Land ihren großen Tag. Das von ihren Gläubigen lange ersehnte und über Jahre geplante 500. Reformationsjubiläum fällt in eine Zeit vielgestaltiger kirchlicher Veränderung- und Anpassungsentwicklungen, die in ihrer gesellschaftlichen Tragweite aber erst in den letzten Jahren, kaum Jahrzehnten, für die Kirche prägend erfahrbar geworden sind. Und vielleicht fördert es gerade ein kapitales Jubiläum, dass nebst aller Freude weiterhin doch das Irritierende und Hindernde umso deutlicher ins Auge stößt.
Kein anderes Indiz für den organisatorischen Wandlungsdruck wird so unanfechtbar herangezogen, wie der anhaltende Austritt aus den beiden großen deutschen (Volks-)Kirchen. In Ermangelung vollständig konsensfähiger Antworten darauf und unter dem gleichzeitig unbefriedigenden Legitimationszwang, „strategiefähig“ agieren zu wollen / sollen, greift die Kirche auf schon anderswo als bewährt beobachtete Lösungen zurück, nämlich der privatwirtschaftlichen und staatlichen Administrationen: sie gibt sich größere und kleinere, vor allem aber zahlreiche Reformprojekte oder hat zumindest altbekannte oder allerneueste Vorstellungen von nächsten Möglichkeiten der Reform. Und: sie lässt sich dabei ausgiebig beraten.
Reform ist nicht gleich Reform
Auch wenn exklusiv einzig der Protestantismus (s)ein Selbstverständnis spezifisch als das einer „reformatorischen Kirche“ herausbilden konnte, sind gleichwohl alle christlichen Kirchen mit ihrer fortlaufenden Erneuerung befasst. Dass etwa nur die evangelische Kirche immer nur als die besonders reformorientierte gelte, sei so nicht haltbar, erklärt im Rahmen eines Gespräches auch Nico Szameitat, der als Referent für theologische Grundsatzfragen im Oberkirchenrat, der Leitung der Evangelisch-lutherischen Kirche in Oldenburg tätig ist. Das Wesen der Kirche bestünde eben nicht in einem dauerhaften Wandlungsprozess. Die Kennzeichen der Kirche blieben stabil, während die notwendigen Reformen der Kirche zumeist äußeren Umständen geschuldet seien, so Szameitat. Wenn Reformen in der evangelischen Kirche oft als besonders langwierig wahrgenommen würden, läge dies auch darin begründet, dass die evangelische Kirche viele demokratische Strukturen aufweise und anders als eine „konzernhafte“ eingerichtete Kirche nicht die eine Reform von oben oder aus einem Zentrum, sondern die Vielgestaltigkeit der Veränderung kenne, so der Referent der Oldenburgischen Kirche, der auch als deren Beauftragter für das Reformationsjubiläum tätig ist.
Das evangelische Stichwort der „ecclesia semper reformanda“, also der immerwährenden kirchlichen Erneuerung – man spricht gern und oft gar vom „protestantischen Prinzip“ der Kirche –, kann 500 Jahre nach Wittenberg auch die römische Kurie mindestens auf formalrhetorischer Ebene weitgehend bedenkenlos unterschreiben. Es dürfte schwierig sein, heute nur einen katholischen Geistlichen anzutreffen, der kein gutes Wort über die Reformation, Luther und die Protestanten zu sagen wüsste. Die Annahme, der 31. Oktober sei ein merkwürdiges Hochamt der Abtrünnigen, wird sich einzig noch in unbedeutend kruden Vorstellungen eines simplen Kampf-Katholizismus finden lassen. Die Entwicklung ist heute soweit fortgeschritten, dass Protestanten und Katholiken längst auch gemeinsam der Reformation ihrer beider Kirchen am alljährlichen Datum gedenken können. Man hat sich schon aus pragmatischen Gründen auf die beiderseits vorteilhafte Abmachung geeinigt, zum Reformationstag eine Art großkoalitionäre Einigkeit (die Kirche spricht von „Ökumene“) in zumindest grundsätzlichen Fragen demonstrieren zu wollen.
Doch wo „Reformation“ und erst Recht (für die Organisation der Kirche) „Reform“ geschrieben steht, können die Kirchen für die Inhalte sehr verschiedene Interessen und Bedarfe beanspruchen. Ein vor einiger Zeit zur Lage der Kirchen in Deutschland erschienenes soziologisch informiertes Sonderheft „Kirchenreformen im Vergleich“ der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ (EvTh) brachte es mit den darin enthaltenen Analysen auf folgende Thesen: Während die evangelischen Landeskirchen beinahe ermüdet seien vor lauter Haushalts-, Verwaltungs- und Gebietsreformen und einen scheinbar endlosen „Reformstress“, ja regelrechte Überforderung erlebten, verharre indes die römisch-katholische Kirche im theologischen „Reformstau“. Hier sei Ohnmacht an der Basis und ein Rückzug in informale Kirchenpraxis die Folge, die von der formalen (Außen-)Darstellung geistlicher Praxis in der katholischen Kirche mitunter erheblich abweiche. Gerade jedoch diese informalen Strukturen ermöglichten wiederum zu einem Gutteil überhaupt die vergleichsweise stabile Handlungsfähigkeit der katholischen Kirche.
Die freikirchlichen Gemeindebünde, der dritte und in Deutschland sehr viel kleinere, gerade aus Abspaltungen von der ehemaligen protestantische Staatskirche hervorgegangene Kirchentyp, befinde sich hingegen – eingedenk dortiger Missionsfreudigkeit – in einer Stimmungslage der „Reformeuphorie“, die sich in ausgeprägt optimistischen Machbarkeitsvorstellungen äußern könne. Die Freikirchen sind vor allem in einer Art Neben- oder Nachreformation aufgrund konfessioneller Lehr- und Richtungstreitigkeiten aus den Staats- bzw. Landeskirchen entstanden. Daneben gehören zu ihnen religiöse Klein- und Kleinstbewegungen ausländischer christlicher Provenienz. Wollte man die momentanen Lage in den deutschen Freikirchen beschreiben, ließe sich die Reformbereitschaft so pointieren: frisch den Blick nach vorn gewandt. Durch ihre starke Zersplitterung, aber damit auch flächenmäßige Ausdehnung im deutschen Raum, scheint es ihnen gut zu gelingen, lokale Aktivitäten in den kirchlichen Mittelpunkt zu stellen und dabei kleinräumig starke Interessen ihrer oft sehr überschauberen örtlichen Mitgliedskreise zu binden. Gerade die Weitläufigkeit scheint hier Loyalitätseffekte zu begünstigen.
Immerwährende Erneuerung – im Plural
Aufschlussreich wird im Heft auch die Beobachtung entfaltet, dass die (ehemals staatlich eingebundene) evangelische Volkskirche unter allen drei Kirchentypen in besonderer Weise auf die Probleme ihrer stark finanziell bedingten Verwaltungsreformen zurückgeworfen sei. Den Analysen zufolge, scheint es der katholischen Kirche auffällig „besser“ zu gelingen, ihre nicht minder herausfordernden Anpassungen in der Administration durch das breite geistliche Leben der Kirche abzumildern. Man weiß schlicht, dass Lehramt und Hierarchie in ihrer Komplexität und Resistenz überragenden Einfluss auf die Kirche und ihr geistliches Leben üben. Während die evangelische Kirche in engen Grenzen regionaler Selbstverwaltung operiert und – in der Tradition des einstigen landesherrlichen Kirchenregiments – allenfalls regionalen Zentren hervorbringt, ist Rom weiterhin als uniformer Global Player präsent und verbucht in einigen Teilen der Welt sogar kräftige Zuwachsraten, die für den deutschen „Markt“ fern aller Vorstellung liegen.
Diese nützlichen „Fernwirkungen“ lässt man sich in heimischen Gefilden nicht kleinreden. Anders gesprochen, profitiert die katholische Kirche offensichtlich von den exorbitanten („Konzern“-)Ausmaßen, da ihre geistlichen Botschaften immer einige Nummern größer und voraussetzungsloser zur Inszenierung gebracht werden und dabei die Ungewissheit im eigenen Betrieb nicht unerheblich zu dämpfen vermögen. Es gibt für die katholische Kirche eine immer noch kapitaler anmutende, eine noch längere Geschichte zu erzählen, als nur die der gegenwärtigen Personalengpässe und zunehmender Skandaleindrücke der letzten Jahre. Verbunden mit ihrem fundamental institutionalisierten Heilsbegriff, der ohne die sichtbare Kirchenstruktur nicht auskommt, sieht die katholische Ämter-Kirche offenbar keine nationale Priorität, sondern bemisst ihren (abgeschwächten) Reformbedarf nach Gesichtspunkten globaler und eben nicht nur europäischer, geschweige mitteleuropäischer Tragweite.
Was demgegenüber strukturelle Vielfalt im räumlich gut überschaubaren deutschen Protestantismus ausmacht, lässt sich am eindrucksvollsten an dessen charakteristischer formaler Gliederung erkennen. Auf nationaler Ebene ist die Kirche als eine Metaorganisation (Organisationen als Mitglieder einer gemeinsamen, zur Aufgabenbündelung gebrauchten Kooperationsorganisation) verfasst, konkret im Dachverband der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der selbst keine Kirche ist, sondern die politische und – wenn man so sagen darf – gesamtgesellschaftliche Interessenvertretung oder kurz das Sprachrohr der protestantischen Volkskirche. Das „in“ im Namen der EKD hat es in sich, hat Funktion. Es gibt nirgends die „evangelische Kirche Deutschlands“ sondern allein eine und das heißt viele „in Deutschland“, wie auch im Kirchenjargon regelmäßig feinsinnig festgehalten wird. Und das gerade dann, wenn in der Kirche Initiativen in Gang kommen, die die Ordnung der Metaorganisation (starke Mitgliedschaften), zu irritieren versuchen; wenn man also in den fragmentierten Zentren der Kirche bestimmte Reformvorhaben versucht verdächtig engagiert zu forcieren oder zu schwächen.
Aus der Reformationszeit sind die territorialen Landeskirchen hervorgegangen, die einst in den Grenzen damaliger landesherrschaftlicher Regentschaften verfasst waren. Jene Landesherren, die der lutherischen Lehre zugetan waren, verordneten ihren Territorien eben diese und ließen sich selbst zu den geistlichen Oberhäuptern, als sogenannte Ersatz- bzw. Notbischöfe für den entfernten oder konvertierten römischen Klerus bestellen. Geboren war der protestantische Bündnistyp von „Thron und Altar“. Das sogenannte „Summeepiscopat“ war der Anfang der Staatskirche, wie sie bis 1918 in den deutschen protestantischen Monarchien bzw. Aristokratien langlebig fortbestehen sollte.
Wenngleich eine Reihe der prägenden „Territorialprotestantismen“ seit diesen Tagen räumlich nicht mehr bestehen, erinnern die immerhin noch 20 deutschen Gliedkirchen schon optisch mit ihrer abgeschwächten Flickenteppichstruktur an die Historie. Die Verquickung mit der Herrschaft drückt sich zuweilen bis heute in Feinheiten aus. Der Pfarrertalar, längst inoffizielles Logo des deutschen Protestantismus und sanfte Reminiszenz an die Staatskirche, ist keineswegs geistlichen Ursprungs, sondern wurde auf Befehl der preußischen Krone vor rund 200 Jahren eingeführt. Preußisch-abgeklärte Nüchternheit erschien den Protestanten auch anderer Territorien brauchbar, sodass man kurzerhand überall in Deutschland preußischen Schlichtschick zu tragen begann und dabei geblieben ist. Wohl auch zu dem Zweck einer markanten Unterscheidung gegenüber der römischen Kirche. Und in so manchen Vorabendserien diente das markenbildende Schwarzweiß, um darauf hinzuweisen, dass jemand oder etwas jedenfalls nicht katholisch ist.
Landeskirchliche Identitäten
Anders als in Skandinavien, wo sich bis in die Gegenwart eine lutherische Staatsreligion ausbilden und erhalten konnte, da die dortigen Regenten geschlossen konvertierten, blieb allerdings eine große Zahl der deutschen Landesherren bei der römischen Lehre. Skandinavier stellen die höchsten protestantischen Anteile in den nationalen Bevölkerungen weltweit. Die Selbstverständlichkeit der Kirchenzugehörigkeit scheint sich dort stark verbunden mit nationaler Identitätsbestimmung erhalten zu haben. Der tatsächliche Einfluss der protestantischen Landesherren ist wiederum leicht zu überschätzen. Sie nahmen administrative und disziplinarische Lenkung wahr, überließen innere geistliche Prägung der Kirche meist aber bevorzugt deren „echten“ Theologen, die freilich ihrerseits die Erwartungen ihrer Regenten nicht unbeachtet lassen konnten.
Das Konstrukt des „Konsistoriums“ entstand: Mischgremien, besetzt mit Juristen der jeweiligen Regentschaft und der Gottesgelehrtheit der Kirche, die gemeinsam Lehraufsicht, Theologie und Schulwesen organisierten und nötigenfalls die Kirchenzucht übten. Ebenfalls heute noch erkennbar ist diese Konstruktion in den sogenannten „Landeskirchenämtern“ oder „Oberkirchenräten“. Der staatliche Durchgriff ist mit dem Wegfall des Kaiserreichs verschwunden. Geblieben sind aber die Juristen in einer Art Kabinettsgemeinschaft mit zu leitenden Geistlichen bestallten Pfarrern unter dem Vorsitz eines Bischofs oder Kirchenpräsidenten. Konsistorien oder die jeweiligen Kirchenleitungen erinnern nicht zufällig an die Konzeption einer „Landesregierung“. Selbiges gilt für die Synoden, quasi die „Landtage“ der Kirchen, die mitunter reelle Fraktionsbildung und im theologischen Kurs der Kirche programmatische Koalitionen hervorbringen können.
Die deutsche evangelische Kirche ist organisatorisch betrachtet in enger Orientierung am preußischen Verwaltungstyp fortentwickelt worden und hat somit zahlreiche Strukturadaptionen erfahren, die auch kritisch gesehen bis in die Gegenwart einer erleichterten Kooperation von Staat und Kirche nachwirken. Denn Staat und Kirche sind in Deutschland einerseits getrennt, andererseits bestehen zueinander vielfältige aufgabenbedingte Beziehungen, wie es die Diktion des Bundesverfassungsgerichts bis heute geblieben ist. Die Bundesrepublik kennt (bisher) keinen Laizismus.
Die staatskirchlich geprägten (Vorgänger-)Institutionen haben eine immer weiter voranschreitende innere Vertiefung begünstigt. Mit der Tendenz zugleich der Angleichung wie der Ausdifferenzierung. So sind aus dieser Entwicklung gewissermaßen landeskirchliche Identitäten erwachsen, die sich gegen jeden Zentralismus außerhalb einst regentschaftlicher und heute regional gewachsener geistlicher Ordnung richten. Die regionalen Kirchen tendieren (bis heute) mehr zum lutherischen oder mehr zum reformierten Bekenntnis (Calvin und Zwingli). Man glaubte und glaubt dann mehr an ein abgeschwächt katholisches Abendmahl (lutherisch) oder verwarf dieses gänzlich und sah das Sakrament nurmehr als Erinnerungsakt (reformiert).
Erst vor wenigen Jahrzehnten konnten die evangelischen Kirchen sich auf Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft (gegenseitige Anerkennung in Wort und Sakrament) einigen und 1973 mit der „Leuenberger Konkordie“ zum Teil harsche innere Lehrdifferenzen und Ausgrenzungen weitgehend überwinden. Man hielt weiterhin da und dort an der Liturgie der römischen Messe und manchen Details in deren Farben- und Formenreichtum fest (lutherisch, besonders prägnant in Skandinavien und in der Anglikanischen Kirche) oder bevorzugte beinahe „sterile“ (sola scriptura!) Gotteshäuser, die für römische Alusionen keinen Platz lassen sollten (reformiert, inzwischen aber teilweise ökumenisch gemildert).
Man blieb beim Bischofsamt (lutherisch) oder setzte ihm starke örtliche Kirchenparlamente entgegen und errichtete eine presbyteriale Ordnung in den Gemeinden (reformiert), was sich auch darin niederschlug, Spitzenämter der Kirche fortan bevorzugt so zu nennen, dass man in ihnen entweder ausdrücklich weiterhin eine oder ausdrücklich gar keine katholische Näherung wiedererkennen sollte. Es kam eben immer darauf an, ob die jeweilige Herrscherfamilie dem reformierten oder dem lutherischen Glauben verhaftet war. Die Hohenzollern brachte der Lehrstreit innerhalb der evangelische Kirche auf die Idee einer Art Zwangsfusion. Es entstand in Preußen die „Unierte Kirche“, ganz nach preußischer Reformmanier ein Zweckkonstrukt, das aber lange für Streit sorgte.
Insgesamt hat sich in der heutigen EKD eine teilweise von bekenntnishaften Ausdrucksformen entkoppelte protestantische „Formenfolklore“ durchgesetzt. Man „ist“ dann mikrokonfessionell etwa im Oldenburger Land, in Ostwestfalen oder in Franken das, was man deshalb ist, weil eine örtliche „gefühlt-geistliche“ Tradition es nicht anders vorzuzeichnen scheint. Und es gibt eine leise Ahnung, was im Großen und Ganzen noch als evangelisch-landeskirchliche Religion erfahrbar ist, und wo die Randformen der Kirche – im (radikalisierten) Evangelikalen oder Beinahe-Wieder-Katholischen – dann doch die vagen Grenzen des Zumutbaren zu überschreiten beginnen.
Dass für einen nur kleinen Teil der Protestanten innere konfessionelle Unterschiede gegenwärtig überhaupt noch informativ sind, liegt auf der Hand. Geblieben sind gleichwohl – Bürde und Reichtum zugleich – die höchst verschiedenen Frömmigkeitsstile und -praktiken der protestantischen Kirche. Sie reichen von einem (wiederauflebenden) bildungsbürgerlichen Kulturprotestantismus liberal-akademischer (Großstadt-)Prägung (vielleicht so: „moderne“ wort- und dialogorientierte Kirche als kulturell anregende Quelle in der modernen Gesellschaft), über „hochkirchlich“ inspirierte, liturgisch reichhaltigere Formen, bis hin in den lokalen oder regionalen Pietismus, prominent geworden vor allem in seinen Württembergischen oder Siegerländischen Varietäten. Dazwischen findet sich aber sehr viel, was sich positional flexible Mitgliedschaft nennen lässt, welche je nach Milieuherkunft und kleinräumiger Religionssozialisation mehr zu liberalen, mehr zu konservativen, mehr zu politischen (auch politisierenden) oder zu distanzierten und eher fragilen, befristeten Bindungsformen neigt.
Manchen Landeskirchen wird nicht zu Unrecht insgesamt eine traditionellere oder strengere Prägung nachgesagt, andere hingegen gelten im Ganzen als eher moderat oder man registriert sie als auffällig tolerant. Dies scheint nicht unwesentlich auch mit den Proportionen zusammenzuhängen. Mitgliederstarke und großflächige Kirchen wie die Hannoversche oder Bayrische Landeskirche haben eine stärker ausdifferenzierte mittlere Hierarchie hervorgebracht als demgegenüber kleinere Kirchen. Ein Beispiel für letztere Sorte ist die Evangelisch-lutherische Kirche in Oldenburg, die zu den besonders „kompakten“ Exemplaren im EKD-Verbund gehört und sich von der Nordseeküste bis nahe an die nordrhein-westfälische Grenze erstreckt. Statt einer ausgeprägten mittleren Ebene – anderswo sind es vorgesetzte Superintendenten und Regionalbischöfe –, gibt es hier bescheidener nur die lokalen Kreispfarrer und Kreissynoden, die gerade keine disziplinarische Funktion wahrnehmen. Dieses Modell eines kürzeren Instanzenzugs, biete einer kleineren Kirche Vorzüge, es werde darüber aber auch immer einmal diskutiert, wie Nico Szameitat vom Oberkirchenrat ausführt.
In Oldenburg und über seine Grenzen hinaus hat sich über die Jahre der Charakter einer eher „liberalen“ lutherischen Kirche eingestellt. Das sei, so Szameiat, aber vor allem historisch begründet. Nach dem gewichtigen Einfluss der Deutschen Christen und ihrer Kooperation mit der NS-Diktatur, habe nach dem Dritten Reich eine Gegenprägung eingesetzt, betont der Grundsatzreferent und Pfarrer. Dazu komme, dass die Kirche bis heute weder einer der großen innerprotestantischen Konfessionsallianzen (als quasi Lagerbildungen) beitrat, noch in ihrer gottesdienstlichen Form für besondere liturgische Strenge bekannt sei. Doch wie auch anderswo ist ebenfalls in Oldenburg in den letzten Jahren der Mitgliederschwund zu spüren. Szameitat erinnert, dass noch vor etwa 15 Jahren die Diagnose vergleichsweise konstanter Mitgliedschaft durchaus gegolten habe. Das Problem seien gar nicht einmal die Austrittszahlen, die sich relativ stabilisierten, sondern die abnehmende Normalität des Gottesdienstbesuchs und der Inanspruchnahme von Kasualien, insbesondere also Taufe und Konfirmation.
Evangelische Selbstbegrenzung als Selbstbewältigung?
Blickt man auf die kirchliche Gegenwart, so sind es nicht eigentlich binnenkonfessionelle Fragen, die – wie auch die oben erwähnten Analysen zeigen – die Reformdynamik der evangelischen Kirche wesentlich ausmachen. Stattdessen geht es vielmehr um die Frage struktureller Versorgungsstabilität eingedenk abnehmender Ressourcenzuflüsse und schwindender Kirchenzugehörigkeit. Die Kirche reagiert mit Maßnahmen ihrer Organisations- und Legitimationssicherung, in dem sie nicht geringe Hoffnungen in betriebswirtschaftliche Verfahren setzt. Diverse Reformpapiere, vor allem ein beinahe schon berüchtigtes der EKD vor rund zehn Jahren, sorgen immer wieder für hitzige Diskussion über die Zukunft der EKD, zumal aus allen Ecken Strategie um Strategie empfohlen wird.
Dass manche Impulse dabei überschätzt werden, bringt der Braunschweiger Bischof Christoph Meyns in seiner Dissertation „Kirchenreform und betriebswirtschaftliches Denken“ zum Ausdruck. Meyns kritisiert die Durchdringung der Kirche mit „Zielbildern“ und „Zielsetzungen“ nach einer primär managerialen Steuerungsvorstellung, die dem eigentlich stabilen Bekenntnis der Kirche und dessen Äußerungsformen zuwiderlaufen könne. Auch weist Meyns darauf hin, dass bei näherer Beleuchtung sich viele betriebswirtschaftliche Effektivierungs- und Effizienzversprechen gar nicht so einlösen ließen, wie es seit Jahren erwartet werde. – Ein Befund übrigens, der Organisationsforschern im Bereich der öffentlichen (Staats-)Verwaltung nicht gerade fremd vorkommen dürfte. Die Kirche laufe also Gefahr, sich strukturell zu irren und auf Konzepte zu setzen, deren Wertbeitrag sich bescheiden oder gar kontraproduktiv erweisen könne. Damit komme es auch zum Problem, „dass relativ unwichtige, aber einfach zugängliche Maßstäbe in den Vordergrund treten und wichtige, aber nur schwer überprüfbare Faktoren aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geraten“ (236), schreibt Meyns.
Anhand Darstellungen zu konkreten wirtschaftstheoretisch inspirierten Verfahren zeichnet Meyns ein größeres Bild hinsichtlich Nutzen und Grenzen von Managementkonzepten in der Kirche. Diese werden von ihm aber keinesfalls aus einer idealistischen Grundannahme heraus über ein allgemeines Wesen von Kirche diskutiert, sondern präzise in ihren (eher weniger oder weitgehend gänzlich unerwarteten) Folgen und Nebenfolgen erhellt. Der systemtheoretische Zugang erlaubt diese Art der Diskussion, die den Beitrag der Betriebswirtschaft, wie Meyns es formuliert, „zur Ausleuchtung blinder Flecke und als produktive Irritation“ (reduziert) erwarte. Nicht gesagt wird also, „dass der Einsatz betrieblicher Verfahren der verfassten Kirche völlig sinnlos wäre“. Auch werden Beiträge der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften für die Planung der kirchlichen Formen gewürdigt. „Man muss sich nur von der Vorstellung verabschieden, dadurch seien in nennenswertem Maße Kosteneinsparungen, Effizienzgewinne, bestandserhaltende oder missionarische Effekte zu erzielen“ (238).
Auch die vielfach bemühte Forderung, gerade die evangelische Kirche solle Angebote anderer religiöser oder „kultureller“ Teilnehmer auf dem allgemeinen Markt gesellschaftlicher Sinnstiftungen integrieren, ist nach Meyns mit Vorsicht zu loben. Es sei nämlich zu beachten, „dass die Zunahme der Vielfalt von Angeboten in einer Region entgegen der These marktorientierter Konzepte insgesamt die Indifferenz gegenüber der Kirche fördert. Konkurrenz belebt also entgegen den Thesen der Vertreter marktorientierter Theorien in religiöser Hinsicht nicht das Geschäft, sondern verdirbt es“ (235).
Fasst man die gegenwärtige Lage zusammen, könnte im groß zelebrierten Jubiläumsjahr der Reformation eine grundlegende Beobachtung darin bestehen, dass die evangelische Kirche vor allem damit beschäftigt ist und bleibt, angesichts einer Vielzahl an Reformanlässen und immer wieder neu motivierten reformatorischen Suchbewegungen, ihre institutionelle Verfasstheit mit der Erwartung (in ihr und an sie), wie eine gut organisierte Kirchen-Organisation heute zu sein habe, zu harmonisieren. Dass ihr katholisches Pendant zumindest in mitteleuropäisch-deutscher Hinsicht im Umgang mit Veränderungsambitionen und „Legitimierungslast“ weiterhin einige andere Wege bestreiten wird, dürfte gerade in Zeiten reformatorischer Feierlaune noch stärker den Fokus auf die protestantischen Erfolgsaussichten in Fragen organisatorischer Selbstbeschränkung bzw. -bewältigung richten; und das bleibend verbunden mit der Herausforderung, dass die evangelische Kirche aus ihrer pluralen Gestalt nicht herauskommt.
Aktualisiert: 2. November 2017 23.50 Uhr
Das derzeit laufende Forschungsprojekt „Visitation 2017“ an der Universität Oldenburg (in Kooperation mit einzelnen Landeskirchen) nimmt sich ebenfalls den dortigen Reformentwicklungen an. Betrachtet werden Aspekte der kirchlichen Steuerung und die Übernahme neuerer, bisher nicht etablierter Managementansätze. Auf der Basis einer in diesem Jahr durchgeführten Interviewreihe mit etwa 100 Pfarrern sowie Ehren- und Nebenamtlichen soll die Steuerungspraxis in der evangelischen Kirche in ihren formalen und informalen Facetten genauer nachgezeichnet werden. Ein Interview der Nordwest-Zeitung anlässlich des Projekts und zu Reformen in der evangelischen Kirche ist ebenfalls auf den Sozialtheoristen erschienen.
Literatur
Gabriel, Karl / Karle, Isolde (Hrsg.) (2013): Evangelische Theologie. „Kirchenreformen im Vergleich“, Jg. 73, Nr. 2.
Meyns, Christoph (2013): Kirchenreform und betriebswirtschaftliches Denken. Modelle, Erfahrungen, Alternativen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
[…] Anlässlich des Reformationsjubiläums fand begleitend dazu ein Interview mit der in Oldenburg erscheinenden Nordwest-Zeitung (NWZ) statt und wird hier mit freundlicher Genehmigung dokumentiert. Eine ausführlichere Diskussion evangelischer und katholischer Reformdynamiken erschien bereits am D…. […]