Der Berliner Parteienforscher Gero Neugebauer beobachtet die Entwicklung der SPD seit rund 30 Jahren. Die gegenwärtige Lage der Sozialdemokratie sieht er unentschieden. Die Partei versuche sich nach der letzten Wahl zu stabilisieren, habe aber Schwierigkeiten, wieder eine Kanzlerschaft zustande zu bringen. Ein Interview über neue und alte Bündnisse, eine ungewisse Entwicklung der Unionsparteien und die relative Unwahrscheinlichkeit sozialdemokratisch geführter Bundesregierungen.
Der Politologe und Sozialwissenschaftler Gero Neugebauer. Bild: Privat/Neugebauer.
Schütz/Sozialtheoristen: Herr Neugebauer, in der vergangenen Woche waren die Zeitungen voller „Kanzlerdämmerung“. In einem Kommentar habe ich gelesen: „Die Ära Merkel-Löw neigt sich dem Ende zu“. Wohlgemerkt, da stand Deutschland noch nicht vor dem Aus, sportlich gesehen. Um im Bilde zu bleiben: Werden für die Kanzlerin die Nachrufe allzu früh vor dem Abpfiff geschrieben?
Neugebauer: Die politischen Nachrufe liegen alle schon in den Redaktionen bereit. Und wenn man jetzt sagen würde, Frau Merkel hat ein ähnliches mögliches Schicksal wie Herr Löw zu erwarten, dann würde ich sagen: Nein, genau weil sie ein etwaiges Schicksal von Löw vor Augen hat, wird sie sich hüten, ein gleiches nehmen zu wollen.
Dann müssen die Abschiedskommentare wohl fürs erste wieder in den Stehsatz.
Die müssen nochmal in den Stehsatz, richtig.
Sie sind als Beobachter bzw. Experte der Entwicklung und Programmatik der SPD seit vielen Jahren bekannt. Bald haben die Sozialdemokraten ein kleines Jubiläum zu begehen: Vor 20 Jahren kam die SPD mit – aus heutiger Sicht – einem Traumergebnis an die Regierung. 2018 wird vielleicht kein zweites ’98. Zuletzt hieß es, die SPD hülle sich in puncto Unionsstreit zu sehr in Schweigen, jetzt in den letzten Tagen kommt es häufiger zu Statements.
Auch aus damaliger Sicht kam die SPD mit einem Traumergebnis an die Regierung. Wenn die SPD sich nun zunächst etwas weniger äußerte, dann hat das etwas mit dem letzten Ergebnis zu tun, in 2017, das ja so schlecht war, dass man in der Partei erst einmal in eine Art Schockstarre geraten ist und sich entscheiden musste, gehen wir nun in die Regierung oder die Opposition. Und die Frage wurde entschieden: Wir gehen nach dem letzten Angebot doch in die Regierung, machen aber die Erneuerung in der Opposition und in der Regierung – ein schwieriger Spagat. Und dann tauchte das Problem auf, was sagen wir eigentlich zu bestimmten Problemen, die im innerparteilichen Diskussionsprozess noch gar nicht erledigt sind, und möglicherweise noch nicht ganz klar ist, wer denn nun das strategische Zentrum vertritt; ist es die Parteivorsitzende, die gleichzeitig die Fraktionsvorsitzende ist? Oder ist es der Vertreter der SPD in der Regierung, der eventuell mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht? Der andere Punkt ist: Man hält sich ein bisschen abseits, weil man nicht selbst zum Gegenstand des Streites werden möchte; damit man nicht auf einmal hineingezogen wird, CDU/CSU sich gegen die SPD wenden und dieser vorwerfen, mit ihrer Art und Weise, wie sich in den Streit einmischt, erst zur Spaltung der Koalition beizutragen.
Man hält sich ein bisschen abseits, weil man nicht selbst zum Gegenstand des Streites werden möchte; damit man nicht auf einmal hineingezogen wird, CDU/CSU sich gegen die SPD wenden.
Die Ratschläge an die SPD, wie sie sich jetzt verhalten müsse, welche Schritte ihr gut bekämen, sind seit der letzten Bundestagswahl zahlreich – wie seit einem Jahrzehnt zu jeder Wahl. Das Muster ist altbekannt: Stets reiht sich Empfehlung an Empfehlung. Ist die SPD ihr eigenes Problem oder ist das Problem, dass all der gute Rat theoretisch so nützlich ist, wie er umgekehrt praktisch – nämlich gemessen an den tatsächlichen Aufgaben der Bundesregierung, die oft aufs Konto der Kanzlerin gehen – dann doch nicht viel taugt?
Das ist das Problem von Koalitionsregierungen. Jede Partei muss versuchen, mit ihren Vorschlägen weiterhin durchzukommen, weil in der Koalition der Wettbewerb der Parteien fortgesetzt wird. Der Spruch „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ stimmt. Eine Regierungspartei muss deutlich machen, wie sie mit ihrer gegenwärtigen Arbeit bereits Pfosten einschlägt für eine künftige andere Regierungspolitik, wie sie dafür Markierungen setzen will. Sie muss also schon alternative Positionen einbringen. Und das stößt sie an ein Problem: Kann sie in der Koalition einen Konflikt wagen oder riskiert sie damit zu viel? Da war die „alte“ SPD, sprich die zwischen 2013-2017, auch schon von 2005-2009, eigentlich nicht konfliktbewusst und zuletzt sehr anpassungsfähig. Das sieht im Moment ein bisschen anders aus.
Aber wenn man es jetzt zurückkoppelt an die Frage, womit die SPD gegenwärtig in Erscheinung tritt, dann ist das eben nicht ein politisch alternatives Angebot, womit sie sagte: Wir haben langfristig vor, zum Beispiel im Bereich Steuern etwas zu machen, wir haben langfristig vor, im Bereich Sicherheit – und zwar nicht nur soziale Sicherheit, auch innere Sicherheit – dies und jenes zu machen. Oder beim Thema der Arbeitsplatzsicherheit. Das ist in der Tat schwer, aber man könnte zur Zeit sagen, die SPD hat dadurch, dass sie eben in den letzten Jahren zunehmend an Unterstützung aus der Wählerschaft verloren hat und damit ihre Position einer starken Partei in der Mitte der Gesellschaft eingebüßt. Sie ist ein bisschen desorientiert. Und sie weiß auf der einen Seite: Sie hat noch Organisation, sie hat noch Mitglieder, sie hat neue gewonnen.
Auf der anderen Seite weiß sie, wenn der Parteienwettbewerb in Deutschland schärfer wird, wenn es auf der rechten Seite zu weiterer Ausdifferenzierung kommt, wenn es auf einmal für die CDU darum geht, die Mittelposition zu halten, sie aber rechts keine Stimmen mehr gewinnen kann, weil da CSU und AfD grasen, dann muss sich die CDU noch weiter auf die SPD-Themen zubewegen. Und da ist wiederum das Problem, wer kriegt wo und wie Stimmen? Hier ist die SPD derzeit in einer schwierigen Position, nicht zuletzt deshalb, weil sie im Parteiensystem der vergangenen Jahre eigentlich mehr die CDU stützt, als an die eigene Partei zu denken; und das hieße: an die eigene Machtposition zu denken.
Nach der Gründung der Bundesrepublik dauerte es zwei Jahrzehnte, bis die SPD 1969 erstmals einen Kanzler stellen konnte. Das Bild zeigt die zweite Kabinettsernennung der Regierung Willy Brandt im Herbst 1972. Neben diesem (v. l.) Bundespräsident Gustav Heinemann und Bundesaußenminister Walter Scheel. Vorangegangen war die erste vorgezogene Bundestagswahl („Neuwahl“) in der Geschichte der Bundesrepublik. Kanzler Brandt verlor eine Vertrauensfrage, woraufhin der Bundespräsident das Parlament auflöste und Neuwahlen ausrief. Bild: Bundesregierung/Ludwig Wegmann.
Wenn es auf der rechten Seite zu weiterer Ausdifferenzierung kommt, wenn es auf einmal für die CDU darum geht, die Mittelposition zu halten, sie aber rechts keine Stimmen mehr gewinnen kann, dann muss sich die CDU weiter auf SPD-Themen zubewegen. Und da ist das Problem, wer kriegt wo und wie Stimmen?
Häufig laufen Analysen darauf hinaus, dass man meint, die Sozialdemokratie habe keine „Geschichte“ mehr zu erzählen. Aber ist die Geschichtserzählung nicht selbst schon zu einem sehr diffusen Narrativ geworden? Immerhin hatte die SPD bei der letzten Wahl doch Arbeitsrecht und Arbeitspolitik im Angebot, Klassiker einer ursprünglichen Arbeiterpartei. Das ist nicht unbedingt nichts. Was darf man von einer sozialdemokratischen Regierung erwarten, die Millionen teils sehr unterschiedlicher Menschen „mitnehmen“ muss?
Der erste Punkt ist, dass eine sozialdemokratische Partei wissen muss, wo der Schwerpunkt ihrer Politik liegt. Und wenn man sieht, dass sich Parteien nach Konflikten organisieren, das heißt entlang gesamtgesellschaftlicher Großkonflikte wie dem von Kapital und Arbeit, der die SPD hervorgebracht hat, oder Staat und Kirche, der zur Entstehung christlicher Parteien führte, dann ist heute zu sagen: das gilt nicht mehr, wir haben heute andere Konfliktlinien, sozio-ökonomische Konfliktlinien. Ob etwa der Staat eine stärkere Rolle spielt oder der Markt. Einer libertär-autoritären Politik geht es ja darum, dass der Staat die Privatsphäre der Bürger nicht allzu stark berührt, dass Gleichheit herrscht, dass Demokratie herrscht, dass Umweltschutz akzeptiert wird, Menschenrechte ein politisches Ziel sind, Toleranz. Oder es geht eher darum, dass der Staat nach außen und innen hin eine ausgeprägt autoritäre Orientierung fördert, sich beispielsweise gegen Ausländer wendet.
Unter diesen Voraussetzungen ist die Gemengelage in einem Maße unübersichtlich geworden, dass ein Teil der SPD gerade hinsichtlich der Flüchtlinge sagt: Nein, wir müssen uns öffnen, wir müssen da eine liberale weltoffene Haltung zeigen, eine Orientierung bieten, die uns auszeichnet als moderne, linke Partei, während ein anderer Teil der Partei eher an der sozialen Frage interessiert ist. Und wenn die SPD in dieser Sache so entscheidet, dass sie mehr auf libertäre Probleme eingeht, das heißt, die Flüchtlingsfrage nicht als soziales Problem, sondern als kulturelles Problem behandelt, dann verliert sie. Da ist sie nicht zuhause, dort hat sie starke Konkurrenz von den Grünen zu erwarten, und es würde schwieriger, die Wähler, die sie bisher noch unterstützt haben, ihre gebliebenen Stammwähler, zu halten. Die SPD laviert daher, sie weiß nicht genau, in welche Richtung sie gehen soll. Ich vermute aus den Aussagen, dass sie eher wieder die soziale Frage zum Kern ihrer Anliegen machen will. Aber wenn man in den Staatshaushalt schaut, dann wird sich diese Handschrift wiederum nicht finden lassen.
Die Gemengelage ist so unübersichtlich geworden, dass ein Teil der SPD sagt: Nein, wir müssen uns öffnen, wir müssen da eine liberale weltoffene Haltung zeigen, eine Orientierung bieten, die uns auszeichnet als moderne, linke Partei, während ein anderer Teil eher an der sozialen Frage interessiert ist.
Was mir in Ihren Arbeiten auffällt: Die Beobachtungen der Sozialdemokratie sind argumentativ besonders abgewogen und detailreich. Das macht, wie ich finde, einen Unterschied zu anderen, häufig eher zuspitzend-emotionalen Beschreibungen. Sie sprechen u.a. von einer „strukturellen Asymmetrie“ zwischen CDU/CSU und SPD im deutschen Parteienspektrum. Ihre Annahme ist, dass es grundsätzlich in der Bundesrepublik eine Vorrangstellung der Union gibt. Sie weisen darauf hin, dass die Politik ab 1998 der SPD zunächst Anerkennung, dann Verlust brachte. Ist eine SPD-angeführte Regierung ein unwahrscheinlicher Fall? Und sind deshalb viele irritiert darüber, weil es so schwer ist, diese Unwahrscheinlichkeit selbst zu irritieren?
Ja, der Fall ist eher unwahrscheinlich. Das ist genau das Problem der SPD. Die SPD ist in einer Situation, in der sie eigentlich gar nicht anders kann, als sich langfristig zu orientieren, als stetig eine bestimmte politische, an sich verändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen angepasste Botschaft als ihre Kernbotschaft zu verkünden, um damit ihr Profil zu schärfen, ihre Kompetenzen auszuweisen; und das vorbringen zu lassen von Personen, an denen sich dann die Öffentlichkeit orientieren kann. Und diese Politik ist, gerade weil diese Asymmetrie im deutschen Parteiensystem vorherrscht, keine Politik, die nur kurzfristig angelegt werden kann. Man kann auch nicht darauf hoffen, dass die Gegenseite erschöpft wird und keine politischen oder personellen Angebote mehr hat.
Nein, dies muss von der SPD so betrieben werden, dass sie dann an einem bestimmten Punkt sagen kann: Egal wie die gegenwärtigen Umfragen und Mehrverhältnisse sind, wir müssen auf eine Entwicklung abzielen, mit der wir als eine Mehrheitspartei in einem Bündnis – sagen wir Rot-Rot-Grün – so stark werden, dass wir die Regierung auf der nationalen Ebene anführen können. Die beiden nach der Wiedervereinigung eingetretenen Beispiele, 1998 und 2002, haben gezeigt, dass es unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Aber man kann sehen, die deutsche Bevölkerung ist in ihrer Mehrheit – sagen wir mal – eher leicht konservativ als leicht fortschrittlich einzuschätzen. Und das ist dann schon eine Schwierigkeit, mit der die SPD umgehen muss, und die zu manchen Verwirrungen führt, wenn es darum geht, langfristige programmatische Linien festzulegen.
Wieder eine Zäsur: Erstmals wählen die Deutschen 1998 eine bestehende Regierungsmehrheit bzw. Bundesregierung ab. Helmut Kohl misslang der Versuch einer fünften Amtszeit, die ihn statt 16 ganze 20 Jahre hätte regieren lassen. Allerdings entwickeln sich die Umfragen im Jahr 1998 dynamisch. Zwar kann die SPD letztlich einen deutlichen Vorsprung gegenüber der Union erreichen, zwischenzeitlich jedoch schien ein Wahlsieg von Bundeskanzler Kohl nicht ausgeschlossen. Gerhard Schröder wird der dritte sozialdemokratische Bundeskanzler, nach Helmut Schmidt, der seinen Koalitionspartner FDP 1982 an Helmut Kohl verlor, wodurch es zum Regierungswechsel kam. Schon zur Wiedervereinigung deutet sich eine Machtperspektive für den damaligen SPD-Kandidaten Oskar Lafontaine an. Allerdings kann Kohl von seinen Einigungsaktivitäten letztlich profitieren. Auch Rudolf Scharping gelang 1994 noch kein Regierungswechsel. Eine lange Amtsdauer allein bedeutet für einen deutschen Bundeskanzler keine unmittelbare Schwächung. Bild: dpa.
Die SPD muss ab einem bestimmten Punkt sagen: Egal wie die gegenwärtigen Umfragen und Mehrheitsverhältnisse sind, wir müssen auf eine Entwicklung abzielen, mit der wir als eine Mehrheitspartei in einem Bündnis so stark werden, dass wir die Bundesregierung anführen können.
Sie sprachen nach der Entscheidung für die dritte Große Koalition hinsichtlich des ausgehandelten Vertrags von mehr „Teelichtern“ als „Leuchttürmen“. Gegenwärtig haben Sie darauf hingewiesen, dass die Sozialdemokratie sich in „stabiler Seitenlage“ befinde. Man könnte sagen, unterm Strich betrachtet, dass die SPD die Turbulenzen der Wintermonate beim abermaligen Eintritt in eine Große Koalition erst einmal ziemlich gut weggesteckt, vorläufig überwunden hat?
Wenn man wohlwollend ist, könnte man sagen: ja. Sie hat es zumindest geschafft, den Eindruck zu erwecken, dass sie als Partei handlungsfähig ist. Sie hat einen Bericht vorgelegt über die Wahl, dessen Ergebnisse und Ursachen. Der geht sehr stark auf Organisation und Kampagne ein und weniger auf langfristige Probleme, aber immerhin, das ist ein Anfang. Sie haben eine Diskussion in der Partei begonnen anhand bestimmter Zielstellungen. Nur ist das keine „echte“ Diskussion, sondern eher ein Abfrage. Die Parteiführung möchte gerne, dass die Mitglieder sich zu bestimmten Dingen äußern. Es findet also nicht solch eine Diskussion statt, von der man dann weiß, wie äußern sich die anderen und kann man denn auf Aussagen anderer reagieren? Also, das funktioniert schon, und hat auch damit zu tun, dass die Partei natürlich den Willen hat, zu überleben.
Die Einschränkung, die ich mache, ist die: Eine Diskussion, die darauf fokussiert ist, Organisationsfehler zu beheben, die sagt, okay, da haben bestimmte Abstimmungen nicht funktioniert oder dort hat nicht dieselbe Grundorientierung an politischen Werten geherrscht, es haben unterschiedliche Mentalitäten die beteiligten Protagonisten geleitet – all das kann man möglicherweise durch bestimmte Maßnahmen kurieren. Dann muss man allerdings Leute einsetzen, die sagen, wir sind in der Lage, eure Organisation zu optimieren. Nun höre ich aber, dass eine Abteilung, die für die Koordination der internationalen Beziehungen zuständig ist, aufgelöst wird. Und das in einer Situation, wo die SPD sich stärker Europa zuwenden will. Und die Zuwendung nach Europa kann nicht erfolgen, ohne, dass man auch auf eine stärkere Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Parteien Wert legt. Das muss man in der Partei organisieren und nicht außerhalb. Oder wenn man langfristige Auseinandersetzungen in verteilungspolitischen Fragen betrachtet. Hat die SPD noch eine Steuerkonzeption? Hat die SPD noch ein Gesellschaftskonzept, mit dem sie versuchen will, Spaltungen in der Gesellschaft zu überwinden?
Man kann sehen, die deutsche Bevölkerung ist in ihrer Mehrheit eher leicht konservativ als leicht fortschrittlich einzuschätzen. Und das ist eine Schwierigkeit, mit der die SPD umgehen muss und die zu manchen Verwirrungen führt, wenn es darum geht, langfristige Linien festzulegen.
Wenn man danach fragt, dann hört man: Naja, das reicht dann doch nicht so ganz aus, was da bislang vorgestellt wird. Das ist diese „stabile Seitenlage“ der Sozialdemokratie. Als Organisation existiert sie, kann sie noch weiter bestehen – Parteien existieren solange, wie es eine Erinnerung an sie gibt. Aber auf der programmatisch-politischen Seite muss man immer noch abwarten, was da kommt. Gut, sie hat sich eine Frist gesetzt. Im November 2019 soll ein Parteitag stattfinden, auf dem dann die Ergebnisse dieser Diskussion zu bestimmten Punkten abgefragt und zusammengestellt werden. Diese Zeit gibt sie sich noch, aber mehr Zeit hat sie nicht – auch, weil wir möglicherweise daran denken müssen, dass die Koalition gar nicht die vollen vier Jahre hält.
Sie sprechen es an: Wie sich die Unionsparteien für immerhin längere Zeit einigen könnten, wird gerade entschieden. Ich biete Ihnen ein Gedankenexperiment. Das Gedankenexperiment, scheint mir, schwankte in seiner (Un-)Wahrscheinlichkeit in den vergangenen Tagen immer mal wieder: Kanzler Schröder schied mit Rot-Grün aus dem Amt – andere Optionen hatte er nicht; Kanzlerin Merkel könnte das auch noch passieren. Kaufen Sie das?
Nicht unbedingt. Frau Merkel hat gewissermaßen das Viertelfinale erreicht. Jetzt wird es darauf ankommen, wie die Parteigremien entscheiden. Der Vergleich mit Kanzler Schröder ist insofern richtig, weil Schröder in einer bestimmten Situation danach fragen wollte, ob er noch die Mehrheit hat, die Regierung noch führen kann. Er ist aber ein weitaus ungeduldigerer Typ gewesen als Frau Merkel. Frau Merkel sagt: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die Mehrheit hinter mir habe, aber ich kämpfe dafür, sie hinter mich zu bringen. Und das tut sie trotz des Gegenwindes, der ihr entgegenweht, trotz der schlechteren Umfragezahlen. Da zeigt sie eben eine Courage, die Schröder in diesem Punkt nicht hatte. Er hätte damals auch sagen können: Ich pfeif’ mal auf die Ergebnisse der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, ich ziehe noch das Programm Agenda 2010, also Senkung der hohen Arbeitslosigkeit, soweit durch, dass die Zahlen sich bessern. Das hat er sich nicht zugetraut und insofern hat er die Konsequenzen gezogen. Das war für ihn das Richtige. Ob es für die SPD das Richtige war, kann bezweifelt werden. Ich bezweifle es jedenfalls.
Die SPD hat einen Bericht vorgelegt über die Wahl, dessen Ergebnisse und Ursachen. Der geht sehr stark auf Organisation und Kampagne ein und weniger auf langfristige Probleme, aber immerhin, das ist ein Anfang.
Also ist Kenia vom Tisch, noch bevor die Spekulationen darüber abreißen?
Nein, Kenia ist nicht vom Tisch. Man hat aktuell keine Möglichkeit, etwas als vom Tisch zu erklären. Denn im Prinzip gilt der Standardsatz: Alle demokratischen Parteien sind untereinander koalitionsfähig. Auch wenn wir sehen, dass die Union Koalitionen mit der Linken ablehnt und bisher jedenfalls keiner dort sagt, man könnte auch mit der AfD – von bestimmten Flügeln in der CDU mal abgesehen. Aber das Spektrum der politischen Meinungen ist in der Regel nicht so weit, dass die Parteien nicht miteinander könnten. Die Frage ist eben, wer bekommt wann die Mehrheit. Und wer kann sich in Koalitionsverhandlungen innerhalb einer Partei derart durchsetzen, dass man sagt, die sind in der Lage, sich zu einigen. Wir haben vor der aktuellen Koalition gesehen, wie in der SPD Gegenwind herrschte, dass dieser Gegenwind aber nicht stark genug war, um sich durchzusetzen. Das ist eine Frage, wie die Verhältnisse aussehen. Sagt man, wir gehen in eine Koalition, um Schlimmeres zu verhüten, dann muss man natürlich diskutieren, was das Schlimmere ist.
Eine „Kenianische Kanzlerschaft“, wäre das – wenn Sie die Zuspitzung gestatten – aus Sicht der Sozialdemokraten nicht ein Segen, denn die eine Union wird aufgebrochen, eine andere (Re-)Union dafür vollzogen? Eine Hochzeit und ein Scheidungsfall? Mein Argumentationsvorschlag: SPD und Grüne sind im Grunde immer noch so etwas wie die natürlichen Freunde; personell scheint Zusammenarbeit alles andere als unerwünscht zu sein. In einer solchen Regierung mildern die Grünen die Angriffe auf die SPD, beide moderieren vielleicht das Verhältnis zur Linken und können Vorbereitungen für die Zukunft treffen.
Wenn man sich ein wenig entfernt von den gegenwärtigen Problemlagen innerhalb der Parteien, wobei die bei den Sozialdemokraten mittelschwer, bei der Linken etwas schwerer sind und bei den Grünen aufgrund ihres Personalwechsels und wegen ihrer Themen Europa, Flüchtlinge und Ökologie günstiger aussehen, sage ich: Vorstellbar ist das schon immer. Es sollte überhaupt nicht ausgeschlossen werden. Zwar haben wir nur noch ein Drittel traditionell linkes Lager, vor allem geprägt bzw. erhalten durch Wähler, für die es Links und Rechts gibt, und die sich mit ihrer Selbsteinschätzung auf die eine oder andere Seite schlagen – aber das ist alles ein wenig unterkomplex. Die Verhältnisse sind viel schwieriger, weil wir auch in der SPD Positionen finden, die bei der Union vorhanden sind und bei den Grünen Positionen finden, die bei der Linken vorhanden sind.
Der Vergleich mit Kanzler Schröder ist insofern richtig, weil Schröder in einer bestimmten Situation danach fragen wollte, ob er noch die Mehrheit hat, die Regierung noch führen kann.
Das spricht natürlich dafür, zu sagen, warum könnten die es nicht einmal gemeinsam versuchen? Aber dann schaut man auf die agierenden Personen und stellt fest, dass die vielleicht nicht miteinander können oder unterschiedliche Absichten haben, oder sich nur in einer bestimmten Rolle wohlfühlen – wie bei den Linken, die dann sagen, wir sind die geborene Oppositionspartei. Eine Position, die in der Partei nicht durchgängig herrscht, in manchen Kreisen schon. Dennoch würde ich neue Konstellationen nicht ausschließen, in gewissen Situationen bleibt ja allein Optimismus übrig. Und wenn die SPD es schafft, doch wieder zu einer bestimmten Stärke zu kommen, dann kann sie auch die Hoffnung hegen, in einer solchen Kenia-Koalition selbst die führende Rolle zu übernehmen. Wenn sie es nicht schafft, müsste sie vielleicht die Grünen an sich vorbeiziehen lassen. Das halte ich für unwahrscheinlich, aber das ist für den Moment gesagt.
Neugebauer begann seine Arbeit ursprünglich mit Forschung zum politischen System der DDR. 1978 erschien von ihm eine politologische Organisationsstudie zur Sozialistischen Einheitspartei (SED). Spätere Studien folgten zur Nachfolgepartei PDS (1996 zusammen mit Richard Stöss). Bilder: Springer VS.
Wenn man einen interessanten Schauplatz für gewagte Regierungskonstellationen ausfindig machen will, landet man in Sachsen-Anhalt. Im „Magdeburger Modell“ regierten ab 1994 Sozialdemokraten und „Toleranz“-Linke – vielen Angriffen zum Trotz – erstaunlich lange zusammen. Und dann kam 2016 in Sachsen-Anhalt sogar das erste „Kenia“, also Schwarz-Rot-Grün. Die SPD kann arithmetisch und programmatisch kaum eine Kanzlerschaft ohne Grüne und Linke realisieren, wenn sie nicht einmal (Ihr Hinweis vorhin) in die übersichtlich wahrscheinliche Lage kommt, die CDU als „Juniorpartner“ zu gewinnen. Das letztere kann man wohl vernachlässigen?
Kann man vernachlässigen. In der Tat ist die erste Konstellation die viel wahrscheinlichere, aber ich habe gelernt, man soll niemals nie sagen. Insofern kann eine Situation eintreten – und die wird in der gegenwärtigen Lage von manchen schon gedacht –, dass eine Spaltung der Union dazu führte, dass Berliner Verhältnisse (wie im derzeitigen Abgeordnetenhaus) zustande kommen; mit Parteien, die sich fast alle knapp über oder knapp unter 20 Prozent bewegen und unter diesen dann die Partei, die mit ein oder zwei Prozent führt, die Regierung bildet. Wenn die SPD 22, die CDU 20, die Grünen 15 Prozent erhalten, dann haben wir eine Konstellation, in der das durchaus möglich ist.
Da zeigt sie eben eine Courage, die Schröder in diesem Punkt nicht hatte. Er hätte damals auch sagen können: Ich pfeif’ mal auf die Ergebnisse der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, ich ziehe noch die Agenda 2010 soweit durch, dass die Zahlen sich bessern.
Zum Schluss möchte ich es nicht versäumen, Sie noch zu etwas Spekulation zu bewegen, damit wir bloß nicht zu seriös das Gespräch beenden. Wenn auch Kenia absehbar nicht kommt, wäre doch eine mögliche These: Frau Merkel hat im Wesentlichen die Arbeit der Schröder-Regierungen fortgesetzt und erweitert. Oder umgekehrt: Schröder hätte im Wesentlichen die Entscheidungen der Regierungen Merkel vertreten können, was ja in gewisse Folgen führt mit Blick auf Unterscheidungsprobleme von Sozialdemokratie und Konservativen. Sind die Kanzlerschaften Schröder/Merkel nicht sehr vergleichbar, verläuft nicht alles sehr kontinuierlich?
Auf der personellen Ebene, würde ich sagen, besteht wenig Gemeinsamkeit. Verglichen hinsichtlich der Art und Weise, wie die Regierungen geführt wurden bzw. werden durch diese beiden Kanzler. Aber auf der inhaltlichen Ebene sage ich: eine ganze Menge. Das beginnt mit Frau Merkels Abkehr von einer marktradikalen Position, die sie 2003 noch verkündete bis zum Einzug in die erste Großen Koalition 2005. Die Regierungen, die unter ihr danach gekommen sind, blieben – auch wenn es einmal eine schwarz-gelbe gab – im wirtschaftspolitischen Bereich immer auf der Linie der letzten Jahre von Rot-Grün. Agenda 2010 wurde nicht angekratzt, die Rentenreform nicht angegriffen, die Mehrwertsteuer wurde sogar noch erhöht. Das heißt, hier gibt es eine breite Basis – und das ist wiederum das Problem der Sozialdemokratie. Denn diese breite Basis hat dazu führt, dass es der Wählerschaft schwergefallen ist, zu sagen, wo eigentlich mehr SPD, wo mehr CDU drin ist.
Sagt man, wir gehen in eine Koalition, um Schlimmeres zu verhüten, dann muss man natürlich diskutieren, was das Schlimmere ist.
Und wenn Sie heute umhergehen und fragen, wer hat denn seinerzeit den Branchenmindestlohn gefordert und wer den gesetzlichen Mindestlohn, dann werden viele sich nicht erklären können, warum Frau Merkel der Erfolg des Mindestlohns zugesprochen wird, obwohl sie für den Branchenmindestlohn war, nicht für den gesetzlichen, nationalen Mindestlohn der SPD. Da sind also genügend Gemeinsamkeiten vorhanden und diesen entspricht die Menge der programmatischen Übereinstimmungen. Wenn die, je nach Zählweise, mal 60, mal 70 Prozent betragen, dann ist es schon schwer, einen richtig alternativen Punkt zu markieren, anhand dessen gesagt würde: Aus dem Grund gehe ich lieber die andere Partei wählen.
Das Problem bleibt eine abnehmende Unterscheidungsmöglichkeit, ganz gleich, ob sie tatsächlich weniger vorhanden ist oder in Stimmungen beklagt wird?
Ja, und wenn man dann sieht, dass die Union es geschafft hat, die Wahrnehmung der Parteien in den Medien zu bestimmen, die Politik zu bestimmen, und das in einer Situation, in der es unsicher erscheint, wie Demokratie und wirtschaftliche Verläufe in Deutschland sich weiterentwickeln, dann sagt vielleicht eine Mehrheit der Wähler: Wir kennen diese Kanzlerin und wir schätzen sie jetzt nicht so sehr und irgendwie ist ein Ermüdungseffekt eingetreten, man kennt ihre Gesten und Aussagen, doch was danach kommt, da sehen wir in der CDU noch nichts und die SPD ist so aufgestellt, dass man sagen könnte, wir hätten hier zwar nicht die Katastrophe zu erwarten, wenn man die wählt, aber wir wissen nicht genau, wie sich das mit ihr entwickelt. Unter alledem schlägt das Pendel zugunsten der Union und insbesondere zugunsten von Frau Merkel aus. Trotz allen Streits in vielleicht fernöstlichen Dörfern in der deutschen Provinz.
Gegenwärtig ist Frau Merkel die Einzige, die über den Zeitpunkt ihres Rücktritts entscheiden kann. Insofern ist aufgrund der Umstände, die gegeben sind, zu erwarten, dass die Union mit Frau Merkel noch eine Mehrheit bekommen würde.
Das hieße ja: Wenn es doch (relativ unwahrscheinlich) zu einer Neuwahl absehbar kommt, bliebe die alte Kandidatin der Union die neue und mögliche Solidarisierungen in der Bevölkerung sind noch nicht erschöpft?
Gegenwärtig ist Frau Merkel die Einzige, die über den Zeitpunkt ihres Rücktritts entscheiden kann. Insofern ist aufgrund der Umstände, die gegeben sind, zu erwarten, dass die Union mit Frau Merkel noch eine Mehrheit bekommen würde. Die wäre schmaler, als beim letzten Mal. Und diese Lage würde womöglich dazu führen, dass man wieder anfängt, eine Große Koalition zu suchen, vielleicht mit Ergänzung. Der Wähler handelt am Ende ja nicht unbedingt parteipolitisch rational.
Herr Neugebauer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Gero Neugebauer, Jg. 1941, studierte Politik und Sozialwissenschaften in Hamburg und West-Berlin, wo er 1978 mit der Arbeit „Partei und Staatsapparat in der DDR: Aspekte der Instrumentalisierung des Staatsapparats durch die SED“ promoviert wurde. Neugebauer lehrte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (Otto-Suhr-Institut). Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Innenpolitik und Parteienforschung, insbesondere Entwicklung der SPD und des linken Parteienspektrums.
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