Working Paper 4/2018
Die Forderung nach der Einführung einer einjährigen Dienstpflicht wird von ihren Verfechtern mit viel Emphase vorgebracht. Junge Menschen könnten über ein „Gesellschaftsjahr“ ihrem Land „etwas zurückgeben“ und würden dadurch den Zusammenhalt im Land stärken. Eine Dienstpflicht für alle könnte zur Entwicklung der „Persönlichkeit“ beitragen – ein Effekt, der durch Turboabitur und Studienzeitverkürzung auf der Strecke bleibe. Junge Menschen könnten durch eine Dienstpflicht lernen, endlich wieder früh „Verantwortung zu übernehmen“ und für „andere einzustehen“.
Die Verfechter geben einen Strauß von Möglichkeiten für die Ableistung eines solchen verpflichtenden Dienstjahres an – in der Pflege, bei der Feuerwehr, in der Bundeswehr, im Naturschutz oder in der Entwicklungshilfe. Aber diese Vielfalt an Möglichkeiten und Begründungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen einzigen Grund gibt, weswegen Politiker der CDU das Konzept der Dienstpflicht für junge Männer und Frauen reaktiviert haben: die eklatanten Probleme der Bundeswehr, ausreichend Personal zu finden. Es ist in der Bundeswehr ein offenes Geheimnis, dass trotz teurer Werbekampagnen, trotz einer erheblichen Absenkung der Anforderungen und trotz eines Anhebens der Anreizmechanismen Jahr für Jahr Trausende von jungen Menschen zu wenig für den Dienst an der Waffe gewonnen werden können. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht im Gewand einer Dienstpflicht für alle Männer und Frauen soll hier Abhilfe schaffen.
Die Erosion klassischer Begründungsmuster für die Wehrpflicht
Dabei sind sich die Verteidigungspolitiker fast aller Parteien einig, dass eine Wehrpflicht aus militärischer Perspektive nicht mehr notwendig ist. Ein Zwangsdienst macht militärisch nur dann Sinn, wenn es darauf ankommt, im Kriegsfall sehr schnell eine große Anzahl von Personen für eine unattraktive und gefährliche Aufgabe zu gewinnen. Aber trotz verschiedener Spannungsherde ist aktuell nicht damit zu rechnen, dass in Deutschland innerhalb von kurzer Zeit eine große Reserve an Soldaten für einen Kriegseinsatz mobilisiert werden muss. Selbst die größten Pessimisten unter den Sicherheitspolitikern rechnen zurzeit nicht mit einem Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland, der durch eine zum erheblichen Teil aus Wehrpflichtigen bestehenden Armee zurückgeschlagen werden müsste.
Auch als Vorbeugungsmaßnahme gegenüber Militärputschen macht die Wehrpflicht keinen Sinn mehr. Die Sorge, dass Berufsarmeen eher als Wehrpflichtarmeen dazu tendieren, bei politischer Unzufriedenheit die Macht im Staate zu übernehmen, mag für einige afrikanische, asiatische und südamerikanische Staaten noch zutreffen. Für europäische Staaten ist sie inzwischen ungerechtfertigt. Jedenfalls zeigt die Erfahrung, dass, obwohl die Wehrpflicht dort abgeschafft wurde, kein nennenswerter Anstieg der Putschgefahr in Italien, Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland zu verzeichnen ist.
Ebenso hat sich die bildungspolitische Vorstellung, durch die Wehrpflicht eine „Schule der Nation“ zu schaffen, nicht durchgesetzt. Die Vorstellung, nach der junge Männer unterschiedlicher sozialer Herkunft durch den Wehrdienst lernen, auf engstem Raum auch unter Stress miteinander zurechtzukommen und dass dies eine „Erfahrung für das Leben“ ist, wird heutzutage selbst von Verteidigungspolitikern, die sich nostalgisch an ihre Männerfreundschaften während der eigenen Militärzeit erinnern, nicht mehr herangezogen. Spätestens seitdem die Wehrdienstverweigerung zum Regelfall für Gymnasiasten geworden war, stellt die Bundeswehr keinen Querschnitt der männlichen Bevölkerung mehr dar. Eine gemeinsame „Schule der Nation“ könnte durch die Abschaffung der Trennung von Haupt-, Realschule und Gymnasium und die Einführung eines eingliedrigen Ganztagsschulsystems vermutlich besser gewährleistet werden – und hätte den Vorteil, dass auch Frauen an dieser Schule in gleicher Weise teilhaben könnten.
Wehrpflicht als Zwangspraktikum und die Schwierigkeiten der Darstellbarkeit
Der einzige Grund für die Einführung der Wehrpflicht in der Form eines verpflichtenden Dienstjahres ist, dass – wie befürchtet – die Bundeswehr ohne Wehrpflicht nicht mehr in der Lage ist, ausreichend geeignete Berufssoldaten zu bekommen. Aufgrund der wenig rühmlichen Rolle der deutschen Armee während des Zweiten Weltkrieges, der zehn weitgehend armeelosen Jahre in beiden deutschen Staaten in der Nachkriegszeit und schließlich der Sinnkrise der Armeen nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Verankerung des Militärs in der Gesellschaft stark erodiert. Eine Katastrophe für die Rekrutierer der Bundeswehr, die darauf angewiesen sind, jedes Jahr zehntausend neue Berufsanfänger zu gewinnen.
Schon in der Zeit vor ihrer Abschaffung im Jahr 2011 war die einzige Funktion der Wehrpflicht, der Bundeswehr mithilfe eines Zwangsdienstes ständig ein möglichst breites Potenzial von Berufssoldaten zuzuführen. Die Dauer der Wehrpflicht wurde dabei in einer solchen Geschwindigkeit verkürzt, dass man sich manchmal wunderte, dass die Wehrpflichtigen selbst noch wussten, wie lange sie in der Kaserne zu dienen hatten. Waren es zu Zeiten den Kalten Krieges in der Bundesrepublik Deutschland fünfzehn und in der DDR achtzehn Monate, wurde diese Zeit dann nach der Wiedervereinigung zuerst auf zwölf, dann auf zehn und schließlich auf sechs Monate reduziert.
Die Wehrpflicht hatte in dieser verkürzten Variante nur noch eine einzige Funktion – junge Männer wurden in ihrer Wehrdienstzeit auf ihre Eignung für die Armee geprüft und, wenn es gut lief, für eine längere Tätigkeit in der Armee gewonnen. Im Gegensatz zu Schulbesuchen, Berufsmessen oder „Tagen der offenen Kasernen“ hat man als Rekrutierer nicht wenige Stunden oder gar nur Minuten, um junge Menschen von der Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber zu überzeugen, sondern mehrere Monate. Letztlich blieben immer genug hängen, um die Sollstärke der Bundeswehr zu erfüllen.
Das Problem war jedoch damals schon, dass eine solche – aus der Perspektive der Bundeswehr sehr wohl nachvollziehbare – Funktion der Wehrpflicht nicht offen kommunizierbar war. Für die Wehrpflicht mit ihren zwar zeitlich befristeten, aber weitgehenden Eingriffen in die Freiheitsrechte brauchte man „gute Begründungen“. Kein Verfassungsgericht hätte ein militärisches Schnupperpraktikum als Begründung für die Wehrpflicht akzeptiert. Keinem Wähler und keiner Wählerin wäre vermittelbar, dass die Zwangsrekrutierung junger Leute lediglich dazu diene, geeignetes Personal für die Bundeswehr anzuwerben. Dieses argumentative Herumgeeiere wiederholt sich jetzt bei den Begründungen für die Einführung einer Dienstpflicht, weil man auch hier die Probleme bei der Personalrekrutierung nicht als Grund anführen kann.
Könnte man die zentrale Funktion eines Dienstjahres für die Personalrekrutierung der Bundeswehr offen kommunizieren, würde ein verpflichtendes Schnupperpraktikum von ein paar Wochen ausreichen. Ein bisschen Rumballern auf dem Truppenübungsplatz, einige Tage Manöver in der freien Natur und die eine oder andere pflichtgemäße Belehrung darüber, welche Chancen eine Ausbildung zum professionellen Soldaten mit sich bringt – mehr brauchte es nicht. Viele würden dann nach den paar Wochen der Bundeswehr den Rücken kehren, aber der eine oder die andere würde nach dem Schnupperpraktikum hängen bleiben. Die Bundeswehr brauchte also eigentlich nur ein Dienstpraktikum von ein paar Wochen. Das Problem eines solchen radikal verkürzten Praktikums wäre dann, dass die zentrale Funktion der Dienstpflicht als Rekrutierungsinstrument offensichtlich würde und diese damit letztlich dann doch nicht mehr zu rechtfertigen wäre.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater unter anderem für Ministerien, Armeen und Polizeien.