Organisationsmitglieder können sich auf der sicheren Seite wähnen, wenn sie sich sklavisch an organisationale Regeln und staatliche Gesetze halten. Schließlich geben sie Vorgesetzten keinen Grund für eine Abmahnung oder Kündigung, wenn sie sich an die formalen Regeln der Organisation halten. Organisationsmitglieder, die staatliche Gesetze genau befolgen, bieten des Weiteren keinen Anlass für Strafverfolgungen oder Zivilklagen und können sich deswegen auch offiziell keine Vorwürfe machen lassen. Aber warum – so die naheliegende Frage – gehen Organisationsmitglieder dann überhaupt das Risiko der Regelverletzung und des Gesetzesverstoßes ein?
In der Organisationsforschung ist umstritten, wie stark Organisationsmitglieder Nutzen und Kosten bei Abweichungen von formalen Regeln und staatlichen Gesetzen abwägen. Ein prominenter Forschungsstrang geht davon aus, dass Organisationsmitglieder über ihre Regelverletzungen und Gesetzesverstöße rational entscheiden. Sie überlegen sehr genau, welchen Nutzen sie aus der Regelverletzung ziehen und welche Risiken sie dabei eingehen. Die Vorteile aus einer Ignorierung staatlicher Gesetze und formaler Regeln würde von ihnen dabei systematisch in Beziehung zu Risikofaktoren wie Verfolgungsbereitschaft, Aufdeckungswahrscheinlichkeit und möglicher Sanktionshöhe gesetzt und auf dieser Basis würde dann eine rationale Entscheidung getroffen.[1]
Letztlich würden, so die Annahme, Gesetzesbrecher und Regelabweichler in Organisationen häufig noch rational kalkulierender vorgehen als gewöhnliche Kriminelle und Normenbrecher außerhalb von Organisationen (zur Rationalität von Straßenverbrechern siehe einschlägig Becker 1964). Während es außerhalb von Organisationen immer wieder zu spontanen, emotionalen Straftaten käme, wären Gesetzesverstöße innerhalb von Organisationen fast immer Handlungen rational handelnder, risikokalkulierender Akteure (so Braithwaite/Geis 1982: 302f.; Paternoster/Simpson 2009: S. 196).[2] Organisationen seien, so die Unterstellung, die Verkörperung von Rationalität in der modernen Gesellschaft und dementsprechend müsse man davon ausgehen, dass bei der Entscheidung zur Verletzung staatlicher Gesetze und formaler Regeln Kriterien von Rationalität dominieren (siehe für eine Übersicht und Kritik dieses Ansatzes Coffee 1980: 419ff.; Friedrichs 2010: S. 227; Parker/Nielsen 2011: S. 10; Bergmann 2016: 8f.).
Für derartig rationale Kalkulationen bei der Abweichung von Regeln gibt es eine Reihe überzeugender Indizien.[3] So ist zum Beispiel erkennbar, dass Organisationsmitglieder bei Entscheidungen für Regelverletzungen mangelnden Verfolgungswillen einkalkulieren. Dafür kann es ganz unterschiedliche Gründe geben: Der Nachweis einer Regelverletzung kann wegen eines komplizierten Regelwerkes sehr schwierig sein, sodass vor der Verfolgung zurückgeschreckt wird, bei den Verstößen handelt es sich um Bagatellen, für deren Verfolgung kaum soziale Unterstützung mobilisiert werden kann oder die Regeln können – was bei Organisationen nicht selten vorkommt – schlichtweg vergessen worden sein (Baysinger 1991: 354f.).[4] Es kann für Organisationsmitglieder sinnvoll sein, diese mangelnde Verfolgungsbereitschaft bei Entscheidungen einzukalkulieren.
Man kann diesen Effekt in einem kleinen Experiment aus Anlässen für Verspätungszuschläge von Finanzämtern testen, in dem man prinzipiell Einspruch gegen diese einlegt. Wenn eine bestimmte Summe des Verspätungszuschlags nicht überschritten wird, wird diesen Einsprüchen von den meisten Finanzämtern grundsätzlich stattgegeben. Das Stattgeben des Einspruchs und die Rückerstattung des Verspätungszuschlags hängen dabei nicht vom Wohlwollen einzelner Sachbearbeiter ab, sondern werden nach – aus nachvollziehbaren Gründen nicht veröffentlichten – Regeln des Finanzamtes entschieden, die festschreiben, dass unterhalb einer genau definierten Summe, jedem Einspruch pauschal stattzugeben ist. Dabei ist es – auch das kann man testen – egal, ob man die Verspätung mit „Problemen mit der neuen Buchhaltungssoftware“, einer „Erkrankung der Urgroßschwiegereltern“, „anhaltender Lustlosigkeit beim Ausfüllen von Steuererklärungen“ oder „Schwierigkeiten beim Einhalten von Terminen aufgrund frühkindlicher Sozialisation“ begründet. Der Einspruch wird gebilligt, weil dieBearbeitung dieser Fälle deutlich kostspieliger ist als die zusätzlichen Einnahmen, die man mit der Durchsetzung von vergleichsweise geringen Verspätungszuschlägen erzielen kann. Dieses Entscheidungsverhalten von Organisationen kann man als Einzelperson antizipieren und nutzen. Es unterscheidet sich dabei nicht grundlegend von Kalkulationen der Verfolgungs- und Entdeckungsrisiken, die Organisationen mit Hilfe von Rechtsanwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erstellen lassen.[5]
Eine weitere, auf rationalen Kalkulationen basierende Herangehensweise an Regelabweichungen besteht in der Inkaufnahme von Konsequenzen. Organisationsmitglieder unternehmen kurze Streifzüge in den Bereich der Illegalität, wissend, dass die Strafen überschaubar sind, wenn die Organisation erwischt wird.[6] So kann es für die Spitzen von Ministerien rational sein, von Verwaltungsgerichten verhängte Strafzahlungen für ihre Gesetzesverstöße in Kauf zu nehmen. Gerade bei Ministern, die aufgrund von längeren Regierungszeiten ihrer Partei ein entspanntes Verhältnis zur Idee des Rechtsstaates entwickelt haben, kann man zum Beispiel im Bereich des Umweltschutzes beobachten, dass sie sich weigern, gerichtlich angeordnete Maßnahmen zur Einhaltung gesetzlich vorgeschriebener Grenzwerte zu ergreifen. Die nach Klagen von Umweltschutzverbänden ausgesprochenen Strafzahlungen werden in Kauf genommen, weil dadurch lediglich das Geld von der linken Tasche des Staates – des Verkehrsministeriums – in die rechte Tasche – des Finanzministeriums – wandert. Sicherlich führt diese offene Ignorierung von Gesetzen durch Ministerien mittelfristig zu einer Erosion der Gesetzestreue im Staat. Kurzfristig kann dies aber für einen Minister oder eine Ministerin eine rationale Entscheidung sein, um als unangenehm empfundene Umweltschutzauflagen zu umgehen.[7]
Bekannt ist ein solches rationales Einkalkulieren von Strafzahlungen aus experimentellen Studien über Kindertagesstätten, anhand derer gezeigt wurde, wie Eltern Strafen beim verspäteten Abholen ihrer Kinder einkalkulieren. Als mehrere Kindertagesstätten eine Geldstrafe von umgerechnet drei Euro einführten, wenn ein Kinder mehr als zehn Minuten verspätet abgeholt wird, kam es nicht zur erhofften Reduzierung der verspäteten Abholung, sondern die Anzahl der verspäteten Abholungen erhöhte sich erheblich. Die Eltern wogen die Nachteile einer Strafzahlung gegen die Vorteile einer verspäteten Abholung ab und entschieden sich in vielen Fällen für eine verspätete Abholung unter Inkaufnahme einer Strafzahlung (Gneezy/Rustichini 2000). Es sprich wenig dafür, dass man sich als Organisationsmitglied in einer solchen Situation anders verhalten würde.[8]
Eine weitere rationale Herangehensweise besteht im Outsourcing des Risikos für Regelabweichungen. Abweichungen von Regeln sind für Organisationsmitglieder immer riskant, weil sich Interpretationen des Graubereichs zwischen Legalität und Illegalität verschieben können und sich der ursprünglich gering eingeschätzte Verfolgungswille von Staatsanwaltschaft und Polizei aufgrund politischer Veränderungen oder massenmedialer Skandalisierung plötzlich intensivieren kann. Gerade Verantwortliche in Unternehmen, Ministerien, Verwaltungen, oder Armeen tendieren deswegen dazu, Aktivitäten, die sich am Rande der Legalität bewegen, an Spezialanbieter zu vergeben. Es werden dafür Unteraufträge an Kleinstorganisationen vergeben, die nicht den gleichen rigiden Vorgaben und genauen Überwachung unterliegen und sich deswegen viel souveräner im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität bewegen können. Die Indizien für solche Hilfskonstruktionen über Kleinstorganisationen sind vielfältig. In Konsortien für große U-Boot-Projekte tauchen kleine Partner auf, deren Expertise nicht im Biegen oder Zusammensetzen von Stahl, sondern in der Anwendung kreativer Methoden zur Auftragsgewinnung liegt. Bei größeren Aufträgen in der Flugzeugindustrie werden zwei oder auch dreistellige Millionenbeträge als Beratungsaufträge an Kleinstorganisationen überwiesen, die die Geschäftsabwicklung unterstützen sollen. Bei Militäreinsätzen werden Unteraufträge an private Söldnertruppen vergeben, weil diese andere Möglichkeiten zur Gegnerbekämpfung haben als die unter stärkerer öffentlicher Beobachtung stehenden staatlichen Armeen. Werden Regelverstöße bekannt, liegt die Verantwortung zunächst vorrangig bei der Kleinstorganisation.
Aus dieser Perspektive scheint sich das regelabweichende Verhalten von Mitgliedern in Organisationen nicht grundlegend vom Verhalten von Teilnehmern im Straßenverkehr zu unterscheiden.[9] Öffentlich bekennt man sich zur Regelkonformität, nutzt im Alltag aber systematisch verschiedene Möglichkeiten der kontrollierten Regelverletzung. Man fährt mit leicht überhöhter Geschwindigkeit, parkt das Auto so, dass es nur mit sehr viel Fantasie nicht im Parkverbot steht und nutzt als Fahrradfahrer je nach Bedarf die Grünphase der Fußgänger oder der Autofahrer, daraufsetzend, dass in diesen rechtlichen Grauzonen keine Verfolgung stattfindet. Teilnehmer vermuten im Straßenverkehr oft, dass es bei vielen Regelüberschreitungen einen mangelnden Verfolgungswillen gibt. Es gehört zum hilfreichen Wissen von Autofahrern, zu wissen, bei welchen Regelverstößen Polizisten ausgeprägte Sensibilitäten zeigen und Fahrradfahrer wissen ebenso genau zu unterscheiden, in welchen Großstädten das Überfahren roter Ampeln von Polizisten eher geduldet wird (Hamburg) und in welchen eher nicht (München). Auch die Einkalkulierung von Sanktionen gehört für Teilnehmer im Straßenverkehr ganz selbstverständlich mit dazu, wenn sie berechnen, welche Strafen beim „etwas zu schnell Fahren“, „etwas zu viel Getrunken“ oder „Überqueren von etwas zu roten Ampeln“ drohen.[10] Selbst das Outsourcing von Regelverletzungen kann man beobachten, wenn angesichts eines drohenden Verlusts des Führerscheins bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung die Beifahrerin plötzlich zur Fahrerin mutiert.
Wenn diese Rationalitätsunterstellungen bei Abweichungen stimmen, dann wären die Instrumente zur Verhinderung von Regelverstößen und Gesetzesbrüchen einzelner Organisationsmitglieder vergleichsweise einfach. Zur Identifizierung von Regelabweichlern, muss man sich lediglich überlegen, wo sich Regelabweichungen besonders lohnen und dort die Überwachungsaktivitäten erhöhen (siehe zu einer solchen Kontingenztheorie bei Regelabweichungen Yeager 2007: S. 29; Croall 2009: xvi). Klar, Überwachungs- und Kontrollinstanzen müssen immer die Kosten für Überwachung und Bestrafung mit dem Nutzen verhinderter Regelabweichungen in Beziehung setzen (siehe zu diesem Kalkül grundlegend Becker 1968 und in Anwendung auf White-Collar-Kriminalität Wheeler 1982).[11] Wenn man bei diesen Kalkulationen dazu kommt, dass Regelverstöße und Gesetzesbrüche in einem höheren Maße verhindert werden sollten, dann müssten, so die Annahme, die Verantwortlichen in der Organisation lediglich dazu gebracht werden, durch verstärkte Kontroll- und Verfolgungsbemühungen die Aufdeckungswahrscheinlichkeit zu erhöhen und parallel die Sanktionen im Fall eines Regelverstoßes zu verschärfen, um die Anzahl von Regelverstößen und Gesetzesbrüchen zu reduzieren (vgl. zu einer solchen Perspektive z.B. McVisk 1978; Coleman 1985; Paternoster/Simpson 1993).[12]
Aber kann mit diesen Rationalitätsunterstellungen die Bereitschaft von Organisationsmitgliedern bei der Entstehung von Regelabweichungen in Organisationen mitzuwirken erklärt werden? Welche Rolle spielen rationale Kalkulationen von Organisationsmitgliedern beim Erlernen von regelabweichenden Praktiken? Welche Rolle spielt die Abwägung von formalen und informalen Sanktionen bei der Beteiligung an abweichenden Praktiken?[13]
1. Die Entstehung von regelmäßigen Regelabweichungen
Das Experimentieren mit Regelabweichungen stellt für Organisationen eine eigene Form des Innovationsmanagements dar. Die Einrichtung von sogenannten Special Purpose Vehicles zur Aufhübschung der eigenen finanziellen Situation war eine nicht unbeachtliche Innovation im Bereich des Finanzmanagements (Salter 2008). Die Entwicklung einer Software, die erkennen kann, dass ein Auto auf dem Prüfstand steht und dann die Motorleistung so anpasst, dass vorbildliche Abgaswerte erzielt werden, war ohne Zweifel eine kreative Neuerung bei der Softwareentwicklung für die Automobilindustrie (Ewing 2017).
Sicherlich, diese informalen Formen des Innovationsmanagements werden in der klassischen auf Formalität fixierten Managementlehre gerne übersehen. In der klassischen Konzeption des Innovationsmanagement ist vorgesehen, dass sich bei der Identifizierung eines Problems Organisationsmitglieder aus allen betroffenen Bereichen zusammensetzen und gemeinsam überlegen, wie man das Problem lösen kann. Dafür sollen dann – so die offizielle Lehre – verschiedene Methoden des Innovationsmanagements eingesetzt werden. Unter modischen Namen wie Design Thinking werden Innovationsprogramme aufgelegt, Mitarbeiter in Innnovationszirkel zusammengezogen und vom Kerngeschäft entkoppelte Innovation Labs eingerichtet. Die Idee ist, dass die dort erarbeiteten Lösungen von der Führungsebene geprüft, bei Eignung in ein mit Gesetzen konformes formales Regelwerk gefasst und dann in für alle Mitarbeiter verbindliche Anforderungen überführt werden sollen.[14]
In der Praxis entstehen Innovationen aber häufig anders. Organisationsmitglieder, die sich mit einem Problem konfrontiert sehen, fangen jenseits der Formalstrukturen an, mit möglichen Lösungen zu experimentieren, ohne sich permanent Gedanken darüber zu machen, ob diese Innovationen mit den Regeln der Organisation vereinbar sind oder nicht. Das Experimentieren findet dabei im Rahmen der alltäglichen Arbeit statt, ohne dass es dafür zwangsläufig eine Genehmigung oder die Zuweisung eines Budgets geben muss. Wenn sich bei diesem Experimentieren eine Lösung für die betroffenen Mitarbeiter als zufriedenstellend herausstellt, dann setzt sie sich durch, ohne dass diese gleich in einen formalen Prozess überführt wird.[15]
Viele innovative Lösungen bewegen sich dabei in der Grauzone zwischen Regelkonformität und Regelabweichung. So ist es auch Ausdruck der Innovationskraft der Automobilindustrie, die Verbrauchs- und Abgaswerte ihrer Autos bis an die Grenzen des gerade noch Vertretbaren zu schönen. Es werden schmale Reifen mit sehr guten Abrolleigenschaften eingesetzt, die den Rollwiderstand reduzieren, die Testfahrzeuge haben keine Spezialausstattung und damit weniger Gewicht, Türschlitze werden abgeklebt, um die Aerodynamik zu verbessern, was den Verbrauch reduziert und Testfahrten werden bei optimalen Temperaturbedingungen und in hohen Gängen durchgeführt, weil der Motor dann verbrauchsärmer ist. Der Einsatz einer Software, die erkennt, dass sie auf dem Prüfstand steht und den Motor dann so einstellt, dass für den Genehmigungsprozess optimierte Abgaswerte entstehen, ist aus dieser Perspektive nur ein weiteres, innovatives Mittel, mit dem Autos als umweltfreundlich dargestellt werden.[16]
Kurz: Bei dezentral entwickelten Innovationen wird zwar mitreflektiert, wie sich Lösungen zum existierenden formalen Regelwerk und zu vorgegebenen Gesetzen verhalten, aber es findet bei dieser inkrementalen Entwicklung von Innovationen keine systematische Prüfung der Konformität mit diesen statt. Vorgesetzte werden zwar über die gefundenen Lösungen informiert oder bekommen das Experimentieren mit neuen Praktiken mit, aber ihnen wird keine offizielle Entscheidung abverlangt, mit der diese neuen Praktiken formalisiert würden.[17]
Imitationen von Innovationen
Die Verbreitung dieser informal entwickelten Innovationen findet nicht über eine formale Entscheidung an der Spitze der Organisation statt, sondern sie diffundieren schleichend in der Organisation. In Organisationen wird sehr genau beobachtet, ob sich eine im Schatten der Formalstruktur entwickelte Innovation in Form einer neuen Softwarekomponente oder auch eines neuen Arbeitsverfahrens bewährt oder nicht. Wird wahrgenommen, dass sich durch diese innovativen Lösungen neue Anforderungen an die Organisation befriedigen, Probleme lösen oder Arbeitsprozesse erleichtern lassen, werden diese imitiert. Die Regelabweichung wird schleichend zur alltäglichen Routine in der Organisation (Clinard/Yeager 1980: S. 43).
Über Imitationen verbreiten sich innovative illegale Lösungen dann auch über Organisationsgrenzen hinweg (siehe dazu Cressey 1976).[18] Man kann solche Imitationen zum Beispiel beim Austausch über innovative, aber beim genauen Blick verbotene Methoden des Pharma-Marketings beobachten, bei der Diffusion des Wissens über verbotene Folterpraktiken von Geheimdiensten oder beim Kopieren bewährter, aber im engeren Sinne gegen das Kriegsrecht verstoßener Kampfmethoden einer verbündeten oder auch gegnerischen Armee.
Diese Kopierprozesse muss man sich nicht so vorstellen, dass Unternehmen in Arbeitskreisen zu „bewährten branchenspezifischen Praktiken im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität“ zusammenkommen, dass Geheimdienstmitarbeiter auf Sicherheitskonferenzen die Vor- und Nachteile verbotener Foltermethoden diskutieren oder Vertreter von Armeen sich zum offiziellen Austausch darüber treffen, wie man am geschicktesten gegen die Haager Landkriegsordnung verstößt. Vielmehr findet die Diffusion innovativer Praktiken eher stillschweigend statt. Durch Personalwechsel übernehmen Unternehmen Praktiken anderer Unternehmen, ohne dass dabei intensiv geprüft wird, ob diese rechtskonform sind, Geheimdienste übernehmen in der alltäglichen Kooperation bewährte Praktiken befreundeter Dienste, die in deren Ländern erlaubt sind und Armeen eignen sich im Krieg Methoden an, die sie bei Verbündeten oder Gegnern beobachten, ohne im Detail zu prüfen, ob sie mit den eigenen „Rules of Engagement“ vereinbar sind.
So bildet sich in organisationalen Feldern ein institutionalisiertes Verständnis davon aus, was legal und was illegal ist. Es entstehen, wie früh am Beispiel der Preisabsprachen in der Elektronikindustrie gezeigt wurde (Geis 1995), branchenspezifische Normen, aufgrund derer Abweichungen von Gesetzen als so normal betrachtet werden, dass diese von den Mitarbeitern der beteiligten Firmen teilweise gar nicht mehr als Gesetzesverstöße erkannt werden. Dieses Verständnis im organisationalen Feld prägt dann das Verhalten der Mitglieder in den einzelnen Organisationen (Edelman/Talesh 2011).
Die Etablierung der Abweichung von Regeln als organisationskulturelle Erwartung
Durch Wiederholung etablieren sich in Organisationen abweichende informale Regeln. Es kommt zu einer zunehmenden „Normalisierung“ der Regelabweichung (siehe zum Konzept der Normalisierung Gioia 1992; Brief et al. 2001; Ashforth/Anand 2003). Diese wird als jedenfalls für die lokale Situation effiziente, durch die Zielerreichung gerechtfertigte und durch Wiederholung als legitimierte Anpassung angesehene Praktik betrachtet (so Snook 2002: S. 183). Die Regelabweichung ist dann nicht mehr das Ergebnis spontaner Abweichungen einiger, weniger Personen, sondern wird zu einem Teil der in der Organisation gepflegten Erwartungen (Ermann/Lundman 1982: S. 91). Es entstehen „ungeschriebene Gesetze“ oder – um die Managementsprache zu verwenden – eine Art informale „standard operating procedure (siehe dazu früh Downs 1967: S. 62).
In der Soziologie wird dieser Prozess als schrittweise Institutionalisierung von Erwartungen bezeichnet (in Bezug auf Organisationen prägnant schon Selznick 1948: S. 27). Mit Institutionalisierung ist gemeint, dass man davon ausgehen kann, das eigene Erwartungen durch relevante Dritte gestützt werden. Dies können konkrete Dritte sein wie Kollegen, beste Freunde oder die eigene Familie. Dies können aber auch anonyme Dritte sein, indem man davon ausgeht, dass man in seinen Erwartungen schon gestützt würde, wenn andere davon erfahren (Luhmann 1972: 65f.).
Früher hätte man solche institutionalisierten Regelabweichungen als Teil der informalen Organisationsstruktur bezeichnet. Heute würde man die regelhaften Ausweichmanöver in Organisationen eher als Teil der Organisationskultur beschreiben.[19] Bei der Organisationskultur handelt es sich um all jene Verhaltenserwartungen in Organisationen, die nicht über Entscheidungen festgelegt wurden, sondern sich langsam eingeschlichen haben. Organisationswissenschaftler sprechen hier von den nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen einer Organisation (Rodríguez 1991: 140f.). Auf den ersten Blick mag diese Bestimmung von Organisationskultur als nicht entschiedene Entscheidungsprämisse besonders für die an eher blumige Formulierungen gewohnten Praktiker kompliziert erscheinen, auf den zweiten Blick ist sie aber leicht nachvollziehbar.
Ein Grundgedanke der Organisationswissenschaft ist, dass Organisationen zwei grundlegend verschiedenen Formen von Strukturen ausbilden können. Die eine Form, die für die Formalstruktur maßgeblichen entschiedenen Entscheidungsprämissen sind Erwartungen, über die beispielsweise durch gesetzliche Vorgaben, über eine Anweisung der Organisationsspitze oder durch Abstimmung aller Mitglieder entschieden wurde. Die andere Form von Strukturen, die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen sind Erwartungen, über die nicht entschieden wurde, sondern die sich durch häufige Wiederholungen ausgebildet haben. Das ist die Kultur einer Organisation.[20]
Man kann sich den grundlegenden Unterschied der Strukturbildung an einem einfachen Beispiel deutlich machen. Bei der Anlage eines Parks trifft die Stadtverwaltung Entscheidungen, wo Wege angelegt werden. Über den Verlauf dieser Wege werden Erwartungen aufgebaut, wo die Parkbesucher zu gehen haben. Daneben bilden sich in Parks jedoch sehr schnell Trampelpfade aus. Über diese Trampelpfade wurde nie entschieden, sondern sie entstehen faktisch durch die wiederholte Nutzung durch Spaziergänger. Sind sie erst einmal kräftig ausgetreten, kann die Erwartung, diese Trampelpfade zu nutzen, ähnlich ausgeprägt sein wie die Erwartung, dass die durch die Stadtverwaltung angelegten „offiziellen“ Wege zu nutzen sind.
2. Das Erlernen von Regelabweichungen
Für Organisationen ist es zentral, dass neue Mitglieder mit den in der Organisation herrschenden Erwartungen vertraut gemacht werden. Sichtbar sind dabei besonders die Maßnahmen, mit denen Organisationen neue Mitglieder mit ihren formalen Regeln vertraut machen. Neue Mitarbeiter bekommen eine Mappe mit Informationen über die zentralen Arbeitsprozesse und relevanten Ansprechpartner in die Hand, in On-Boarding-Seminaren werden sie mit formalen Prozessen vertraut gemacht und ihnen werden erfahrene Mitarbeiter an die Hand gegeben, die sie mit den formalen Prozessen vertraut machen sollen. Man kann diesen Prozess, der geplanten Vermittlung von Wissen als Erziehung bezeichnen (Luhmann 1987: S. 177).
Durch diese in der Formalstruktur verankerten Maßnahmen lassen sich bewährte brauchbare Illegalitäten jedoch nicht vermitteln. Es würde Irritationen auslösen, wenn neue Mitglieder eine Mappe in die Hand gedrückt bekämen, in der neben formalen Arbeitsprozessen ausführlich bewährten Regelbrüche und Gesetzesbrüche der Organisation dargestellt würden. Es würde zu Überraschungen führen, wenn in Seminaren für neue Mitarbeiter zunächst Folien mit den offiziellen Arbeitsprozessen nach den vorgegebenen Qualitätsstandards gezeigt würden und danach Folien mit den bewährten regelabweichenden Praktiken.
Deren Vermittlung an neue Mitarbeiter findet deswegen auf andere Weise statt. Neue Mitarbeiter beobachten, wie erfahrene Mitarbeiter immer wieder von der offiziellen Praxis abweichen und übernehmen diese Abweichungen oder sie werden von erfahrenen Mitarbeitern zur Seite genommen und bekommen vorgemacht, wie man ein Problem effizienter gelöst bekommt als in den offiziellen Regeln vorgesehen. Bei der Ausbildung von Jugendgruppenleitern wird formal darauf hingewiesen, dass sie auf Ferienreisen das Rauchen von Jugendlichen zu unterbinden haben, in den Pausen wird jedoch dann informal vermittelt, in welchen Situationen man deren Rauchen übersehen und in welchen man eingreifen sollte (Schäfers 2018). Dieser Prozess lässt sich als Sozialisation bezeichnen (Luhmann 1987: 176f.).[21]
In der Regel werden diese für Neulinge wichtigen informalen Regeln nicht schriftlich niedergelegt, sondern mündlich überliefert. Es gibt aber auch Fälle, in denen Dokumente kursieren, mit denen sich Neulinge darüber informieren können, wie „es wirklich läuft“. In der Pharmaindustrie werden unter der Hand streng vertrauliche Berichte über die Herstellung von Medizinpräparaten weitergegeben, damit Neulinge schnell erfassen können, wie der Herstellungsprozess am Rande der Legalität abläuft. In der Entwicklungshilfeszene werden am Rande von Schulungsmaßnahmen Bücher empfohlen, die realitätsnahe, aber wenig schmeichelhafte Beschreibungen der Arbeit von Entwicklungsbanken liefern (besonders beliebt Rottenburg 2009).
Dabei läuft dieser Prozess des Vertrautmachens mit regelabweichenden Praktiken meistens im Rahmen des allgemeinen Sozialisationsprozesses ab (Brief et al. 2001: S. 487). Es ist eher selten, dass Neulinge in Organisationen explizit darauf hingewiesen werden, wenn es sich bei einer in der Organisationseinheit eingespielten Routine um einen Regelverstoß oder Gesetzesbruch handelt. Die Einführung in die informalen Praktiken erfolgt in der Regel ohne ausführliche Rechtsbelehrungen.
Die Einführung von Neulingen in die von der Formalstruktur abweichenden Praktiken erfolgt dabei häufig schrittweise (siehe dazu auch Palmer 2012: S. 162). Meistens werden anfangs Erwartungen formuliert, die von Neulingen vielleicht als ungewöhnlich, in ihrer Konsequenz aber nicht weiter schlimm eingeschätzt werden. Wenn sie sich jedoch einmal zu solchen Praktiken bereiterklärt haben, gibt es häufig keine Gründe, nicht eine weitere, in Dimension und Konsequenz schwerwiegendere Abweichung von der Regel vorzunehmen (siehe zur sozialpsychologischen Beschreibung dieser „Foot-in-the-door-Technique“ Freedman/Fraser 1966).[22]
Gerade bei Neulingen ist die Rationalität von Entscheidungen begrenzt. Man ist durch die Anforderungen der Organisation überfordert, sodass man sich an dem Verhalten der Kolleginnen und Kollegen orientiert. Abkupfern, Nachahmen und Imitieren sind die Verhaltensweisen, mit denen man gerade zu Beginn einer Mitgliedschaft in einer Organisation am besten fährt (siehe zur Aufnahme von Neulingen in Organisationen Schein 1964: 71f.; Neuberger 1994b: 124f.).
Kontrolle des Sozialisationsprozesses
Dabei bilden sich in Organisationen nicht selten sehr genaue Vorgehensweisen aus, mit denen Mitarbeiter kontrolliert in illegale Praktiken eingeführt werden. Organisationsmitglieder lernen nicht nur, wie von organisationsinternen Regeln oder staatlichen Gesetzen abgewichen werden kann, sondern auch in welchen Situationen diese Abweichungen angewendet werden können und in welchen nicht (Sutherland 1983: S. 245). Die informale Kontrolle in Organisationen besteht also nicht vorrangig in der Verhinderung von Regelabweichungen (so z.B. Braithwaite 1989: 144f.; Simpson 2002: 106f.), sondern im Einsteuern des akzeptierten Maßes an Regelabweichung.
Faktisch existieren in vielen Organisationen im Schatten der von den Ausbildungs- und Personalentwicklungsabteilungen verantworteten formalen Einführungenausgefeilte, wenn auch nie systematisch entwickelte Programme zur Sozialisation neuer Mitarbeiter.[23] In Armeen werden Neulinge nicht nur von Ausbildern und Vorgesetzten über die formalen Sicherheitsrichtlinien beim Einsatz von Waffen belehrt, sondern auch informal mit den Möglichkeiten und Grenzen der Umgehung der formalen Sicherheitsrichtlinien vertraut gemacht. In Flugzeugfabriken werden Neulinge schrittweise an die Verwendung des strikt verbotenen Gewindebohrers herangeführt und dabei wird auch gleichzeitig über die Grenzen bei der Verwendung aufgeklärt.[24]
Inoffizielle Auszeichnungen
Es ist schon sehr früh in der Forschung herausgearbeitet worden, dass gerade Neulinge in Organisationen einen gewissen Stolz bei der zunehmend professionelleren Handhabung von Regelabweichungen entwickeln. Man erhält Anerkennung, wenn man weiß, wie man das
„System“ austricksen kann, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Die Anerkennung erfolgt häufig nicht in materieller Form, sondern dadurch, dass der Status bei als relevant betrachteten Kolleginnen und Kollegen steigt (siehe dazu Ashforth/Anand 2003: S. 13).
Manchmal werden Statusaufstiege auch durch inoffizielle Auszeichnungen symbolisiert. In der Flugzeugfabrik ist die Duldung des Besitzes eines „eigenen Gewindebohrers“ eine für die Mitarbeiter wichtigere Auszeichnung als ein Zertifikat der Personalabteilung über einen erfolgreich absolvierten Schweißkurs. Bei Soldaten, die im Auslandseinsatz in Afghanistan, Irak, der Zentralafrikanischen Republik oder Mali gewesen sind, dulden Vorgesetzte das Tragen von Palästinensertüchern, die eigentlich nur für den Einsatz in sandigen Gebieten erlaubt sind. Auch in den USA, Frankreich oder Deutschland wird das Tragen dieser Tücher von den Soldaten als inoffizielle Auszeichnung für die Absolvierung eines Auslandseinsatzes angesehen und hat für sie eine wichtigere Bedeutung als die offiziell verliehenen Tapferkeitsorden.
Die Attraktivität dieser inoffiziellen Auszeichnungen für Organisationsmitglieder besteht nicht nur darin, dass sie in informalen Subkulturen selbst geschaffen wurden, sondern darin, dass sie mit den Abweichungen der informalen Struktur spielen. Wir wissen spätestens seit Émile Durkheim, dass gerade die Distanz zu allgemein geteilten Normen ein hohes Maß an Identitätsstiftung auslösen kann (March 2016: S. 81). Das gilt nicht nur für Kleingruppen von Punks, Avantgardisten oder Revolutionären, die ihre Identität aus ihrer Stellung als Außenseiter der Gesellschaft beziehen (Becker 1963: 8f.), sondern auch für Cliquen in Organisationen, die ihre Identität gegen „die da oben“ bestimmen (Luhmann 1964: 331f.).
Dabei werden informale Auszeichnungen nicht dafür vergeben, dass man die Organisation für individuelle Vorteile über das Ohr gehauen hat, sondern dafür, dass man die vorgegebenen Ziele erreicht hat, obwohl einem – so jedenfalls die Wahrnehmung – die Organisation durch formale Regeln bei der Zielerreichung permanent Knüppel zwischen die Beine schmeißt. So entsteht eine ganz eigene Form von professioneller Identität.
3. Die Herstellung von Kooperationsbeziehungen bei brauchbarer Illegalität
In der auf formale Strukturen fokussierten traditionellen Managementlehre wird die Kooperationsbereitschaft zwischen Organisationsmitgliedern vorausgesetzt.[25] Diese Auffassung ist auf den ersten Blick plausibel. Organisationen nutzen das Prinzip der Formalisierung von Erwartungen, um Kooperationsbeziehungen innerhalb der Organisation herzustellen. Wenn Personen in eine Organisation eintreten, verpflichten sie sich dazu, den an sie gestellten Kooperationserwartungen zu folgen, unabhängig davon, ob sie eine „gute Beziehung“ zu ihrem Kooperationspartner haben oder nicht. Wenn sie sich diesen formalen Erwartungen entziehen, riskieren sie ihre Mitgliedschaft in der Organisation.
Auf den zweiten Blick erkennt man jedoch, dass die durch die Formalstruktur vorgegebene Kooperationserwartung häufig nicht ausreicht. Wenn sich Organisationsmitglieder darauf beschränken, nur auf formal vorgeschriebenen Wegen miteinander zu kommunizieren, entsprechen die Abstimmungen häufig nicht den Anforderungen der Organisation. Neben der Sicherstellung einer grundlegenden Kooperationsbereitschaft über die formale Struktur wird in Organisationen über informale Strukturen ein weitaus feineres Netz von Kooperationserwartungen hergestellt. Die Begriffe mit denen diese informalen Kooperationserwartungen bezeichnet werden, sind Kollegialität oder Kameradschaft.
Tausch in Organisationen
Kollegialitäts- und Kameradschaftserwartungen basieren maßgeblich auf Mechanismen des Tausches zwischen Organisationsmitgliedern. Es gilt die Regel: „Wenn Du etwas nettes für mich tust, werde ich auch etwas nettes für Dich tun“ (Boulding 1963: S. 424). Wenn Du meine kleinen notwendigen Tricksereien bei Ausschreibungen deckst, kannst Du dich darauf verlassen, dass ich Dich dabei unterstütze, dass die Verträge von den Wirtschaftsprüfern nicht beanstandet werden können.[26]
Die Ausbildung von Mechanismen des Tausches in Organisationen sind insofern auffällig, als Organisationen von ihrer Formalstruktur her „tauschfeindlich“ gebaut sind. Mitarbeiter können nicht erwarten, dass sie für jede Handlung zusätzlich von Kollegen, Vorgesetzten und Untergebenen be- oder entlohnt werden (vgl. Luhmann 1964: 288ff.). Ein Kollege, der eine Information nicht wie formal vorgeschrieben an eine Kollegin weitergibt, sondern die Informationsweitergabe als persönlichen Gefallen wahrgenommen sehen möchte, würde bei der Kollegin Irritationen hervorrufen. Ein persönlicher Assistent, der von seiner Chefin erwartet, dass jeder Brief, den er tippt, mit Pralinen und Blumen, Sonderurlaub oder verlängerten Pausen belohnt wird, hätte mittelfristig Schwierigkeiten, sich in der Organisation zu halten. In der Informalstruktur ist die Organisation jedoch in außerordentlichem Maße „tauschfreundlich“ (vgl. Luhmann 1964: S. 339; Bosetzky/Heinrich 1980: S. 163).
Informale Tauschprozesse finden häufig zwischen Mitarbeitern der gleichen Hierarchiestufe statt. Produktionsverantwortliche in Papierfabriken erwarten von Wartungsmitarbeitern, dass sie unabhängig von anderen Verpflichtungen bei „heißen Aufträgen“ sofort alles stehen und liegen lassen, um die kaputte Maschine zu reparieren. Für dieses Entgegenkommen können die Wartungsmitarbeiter dann wiederum darauf vertrauen, dass die Produktionsverantwortlichen dazu beitragen, Fehler der Wartungsarbeiter vor dem Management zu verbergen (Dalton 1959: S. 34). Informale Tauschprozesse finden sich aber auch zwischen Mitarbeitern verschiedener Hierarchiestufen. Auf Langstreckenflügen kommt es schon einmal vor, dass angesichts der durch den Autopiloten bedingten, bleiernen Monotonie beide Piloten sanft einschlummern. Von den Flugbegleitern wird dann informal erwartet, dass sie die Piloten durch Klopfen und Räuspern so dezent wecken, dass dieser formal schwerwiegende Regelverstoß nicht als solcher thematisiert werden muss. Umgekehrt können die Flugbegleiter sich darauf verlassen, dass die Piloten nicht gleich aus jedem Zuspätkommen zu einem Briefing sofort eine große Sache machen (zur Rolle von Flugbegleitern allgemein Scott 2003).[27]
Selten findet dieser Tausch in Organisationen unmittelbar statt. Direkte Deals etwa in der Form „Du erlaubst mir jetzt das Rauchen in meinem Büro, dafür bleibe ich heute länger“ sind eher die Ausnahme. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass sich das informale Entgegenkommen gegenüber einem Kollegen, einem Vorgesetzten oder einem Untergebenen später schon auszahlen wird (vgl. Luhmann 2002: S. 44). Letztlich ist dies natürlich für die Seite, die in Vorleistung geht, riskant. Man kann nie sicher sein, ob das eigene Entgegenkommen auch ein Entgegenkommen des Gegenübers zur Folge hat. Wenn eine Mitarbeiterin bereit ist, bei wichtigen Aufträgen auch einmal über die gesetzliche Arbeitszeit hinaus in der Firma zu bleiben, kann sie hoffen, dass ihre Chefin beim gelegentlichen Zuspätkommen am Morgen beide Augen zudrückt. Sicher sein kann sie nicht. Wenn der Generalsekretär einer Partei beim Bekanntwerden illegaler Parteispenden für seinen Parteivorsitzenden den Kopf hinhält und zurücktritt, kann er darauf hoffen, dass er später durch einen Posten als Verteidigungs- oder Arbeitsminister belohnt wird, sicher ist das jedoch nicht. Diese Form von Leistungen, bei denen es keine Sicherheiten gibt, dass Vorleistungen auch entgolten werden, basiert auf einer Einstellung, die in der Literatur gefeiert wird: Vertrauen (vgl. dazu theoretisch immer noch maßgeblich Luhmann 1968: 48ff.).
Durch die Verstetigung und Ausweitung solcher personalen Beziehungen können in Organisationen Loyalitätsnetzwerke, Cliquen, Seilschaften und Promotionsbündnisse entstehen, in denen sich Mitglieder einer Organisation langfristig aneinander binden. Wenn diese Netzwerke zwischen Personen auf der gleichen Hierarchiestufe gebildet werden, ist von engen kollegialen oder kameradschaftlichen Beziehungen die Rede (siehe z.B. für die Polizei Stoddard 1968). Wenn diese Netzwerke hingegen von einer Person dominiert werden, kann man in Anlehnung an den Roman „Der Pate“ (vgl. Puzo 1971) vom Don-Corleone-Prinzip in Verwaltungen, Unternehmen, Krankenhäusern und Parteien sprechen. Genauso wie der Mafia-Chef durch „gute Taten“ Loyalität seiner Untergebenen erzeugt, würden auch Vorgesetzte ihren Mitarbeitern mit einer Guttat entgegenkommen, um zu einem späteren Zeitpunkt mit ihrer Loyalität rechnen zu können (Bosetzky 2019: 29ff.).[28]
Die Bedeutung von Vertrauen
In der Managementlehre dominiert dabei ein verklärtes, fast naives Bild von Vertrauen. Monoton wird mit Schlagworten wie „Vertrauen führt“ (Sprenger 2002), „Vertrauen siegt“ (Höhler 2005) oder „Erfolg durch Vertrauen“ (Nieder 2013) der Wandel von der „Misstrauensorganisation“ zur „Vertrauensorganisation“ gefordert. Je größer die in der Organisation wahrgenommenen Verunsicherungen, desto wichtiger sei es, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern über vertrauensbildende Maßnahmen zu koordinieren. Das Erfolgsrezept für „gute Ehen“ und „gute Freundschaften“ (Personenvertrauen) sei, so jedenfalls die Vorstellung, auch das Erfolgsrezept für „gute Organisationen“.
Bei der Verklärung von Vertrauen wird jedoch übersehen, um was für eine Errungenschaft es sich handelt, dass man in der modernen Gesellschaft nicht mehr vorrangig auf Personenvertrauen angewiesen ist. Es erleichtert den Einkauf erheblich, dass man sich im Supermarkt darauf verlassen kann, auch ohne gute Bekanntschaft zum Kassierer gegen Geld Produkte einkaufen zu können. Und es hat gewisse Vorteile, dass man sich an die Polizei wenden kann, auch wenn man nicht weiß, mit welchem Polizisten man es konkret zu tun hat. Die Leistungsfähigkeit moderner Organisationen basiert maßgeblich auf der Abstraktion von Personenvertrauen. In Organisationen kann man sich darauf verlassen, dass Arbeitsverträge gelten, dass Gehälter gezahlt und notfalls eingeklagt werden können und Abteilung Informationen liefern, weil die formalen Regeln das vorsehen und zwar unabhängig davon, ob man zu den zuständigen Mitarbeitern eine persönliche Beziehung unterhält oder nicht (vgl. Luhmann 1964: S. 72). Systemvertrauen ist der kompliziert klingende Begriff, mit dem diese Abstraktion von Personenvertrauen bezeichnet wird (vgl. ausführlich Luhmann 1963).
Trotzdem haben Managementberater, die sich öffentlich für Vertrauen begeistern, inzwischen einen Punkt. Ohne Personenvertrauen als informalem „Schmierstoff“ für formale Strukturen können Organisationen gar nicht existieren. Allerdings erscheinen informale Koordinationsmechanismen bei Managementberatern in seltsam „verklärter“ Form. Sie denken bei der Wirksamkeit von Personenvertrauen zuerst an informale Erwartungen, die formale Erwartungen produktiv ergänzen oder auch ersetzen können. Sicherlich gibt es vielfältige organisationskulturelle Erwartungen, die mit den formalen Regelwerken von Organisationen kompatibel sind. In Organisationen existieren vielfältige organisationskulturelle Erwartungen, die zwar nicht mit Verweis auf die Mitgliedschaft durchgesetzt werden, aber auch nicht gegen die formalen Regeln verstoßen (vgl. Luhmann 1964: 283ff.). Man denke zum Beispiel an die Wartungsarbeiter bei Xerox, deren Wissensaustausch nicht über formalisierte Wissensplattformen der Organisation läuft, sondern über Treffen außerhalb der Arbeitszeit, in denen bei dem einen oder anderen Drink „Kriegsgeschichten“ über den Umgang mit außergewöhnlich komplizierten Kunden und besonders eigensinnigen Kopiermaschinen ausgetauscht werden (vgl. Orr 1996: S. 125–143) oder man denke an die kostümierten Mitarbeiter im Disneyland, die aufgrund organisationskultureller Erwartungen der „smile factory“ die formalen Erwartungen sogar übererfüllen (van Maanen 1991).
Was aber in der Managementliteratur über Vertrauen dezent übersehen wird, ist, dass sich viele auf Personenvertrauen basierende organisationskulturelle Erwartungen nicht reibungslos in die Steuerungslücken der Formalstruktur einfügen, sondern im Gegenteil Verstöße gegen die formale Struktur der Organisation oder staatliche Gesetze darstellen. Es ist für den Vorstand eines Autokonzerns leicht zu fordern, dass sich die Abgasreinigung im Rahmen der Umweltgesetze bewegen, der Benzinverbrauch nicht erhöht werden, die dafür notwendige Apparatur wenig Platz einnehmen und Kunden nicht häufiger als unbedingt notwendig in die Werkstätten gezwungen werden sollen. Spätestens in der konkreten Planung wird jedoch deutlich, dass sich diese Zielvorgaben grundlegend widersprechen und von den Mitarbeitern erwartet wird, dass sie bei diesen widersprüchlichen Zielen Prioritäten setzen. Ergebnis ist nicht selten eine Abweichung von gesetzlichen Vorgaben, um andere Ziele erreichen zu können. Wenn Manager oder Berater also Vertrauen als zentrale Steuerungsform propagieren, müssten sie sich bewusst sein, dass sie jenen Mechanismus propagieren, der für die Praxis brauchbarer Illegalität zentral ist.
4. Zur Durchsetzung informaler Erwartungen
Für die Durchsetzung formaler Erwartungen gibt es in Organisationen einen einfachen Mechanismus: Die Erfüllung der formalen Erwartungen ist die Bedingung, um Mitglied der Organisation bleiben zu können. In seltenen Fällen müssen Organisationsmitglieder durch explizite Anweisungen oder schriftliche Abmahnungen an die Erfüllung der formalen Erwartungen erinnert werden. In den allermeisten Fällen orientieren sich Organisationsmitglieder unaufgefordert an den formalen Erwartungen der Organisation. Das erklärt die im Vergleich zu Familien, Gruppen oder Protestbewegungen ausgesprochen hohe Konformitätsbereitschaft in Organisationen.
Bei der Durchsetzung informaler Erwartungen besteht die Herausforderung darin, dass diese nicht mit Verweis auf die Mitgliedschaftsbedingungen der Organisation durchgedrückt werden können. Weil man als Organisation nicht offiziell verkünden kann, dass bei besonders wichtigen Aufträgen die Arbeitszeitrichtlinien auch mal missachtet werden dürfen, kann man auch keinen Mitarbeiter offiziell dafür abstrafen, wenn er am Ende der offiziellen Arbeitszeit seine Firma verlässt. Deswegen wird auf informale, häufig implizit kommunizierte Mechanismen der Durchsetzung gesetzt (Pinto et al. 2008: S. 692).
Letztlich kann sich jedes Mitglied auf seine formale Rolle zurückziehen und damit informale Erwartungen außer Kraft setzen. Schließlich kann niemand davon abgehalten werden, das Befolgen formaler Regeln einzufordern, auch wenn deren Missachtung seit Jahren in der Organisation informal erwartet wurde (Ortmann 2003: S. 104). Dieses Zurückziehen auf die formale Rolle kann dem Mitglied nur unterschwellig zum Vorwurf gemacht, jedoch nicht offen als Versagen angekreidet werden (vgl. Luhmann 1964: S. 64).
Trotzdem überlegen sich Mitglieder sehr genau, ob sie die informale Anforderung zur Verletzung formaler Strukturen ignorieren. Die Frage ist für sie nicht alleine, ob sie formal im Recht sind oder nicht, sondern ob und von wem sie im Konflikt soziale Unterstützung erwarten können. Ähnlich wie im Rechtssystem müssen sie nicht nur voraussehen, wie die formale Frage in der Organisation entschieden wird, sondern besonders auch, wie sich ihr relevantes Umfeld zu ihrem formalen Klärungsversuch verhält (Luhmann 1981: S. 61). So kann es gut sein, dass sie mit ihrer Verweigerung von Regelbrüchen formal im Recht sind, sich aber durch ihre Initiative sozial isolieren.[29]
Im Hintergrund lauert immer die Drohung einer über Macht durchgesetzten negativen Sanktionierung der Verweigerung, sich an Regelabweichungen zu beteiligen. Bei diesen negativen Sanktionierungen handelt es sich um den Spiegelmechanismus der positiven Sanktionierungen einer informalen Ordnung (siehe dazu Kuchler 2014: S. 3). Während der Tauschmechanismus auf dem Versprechen basiert „Wenn Du mir etwas Gutes tust, dann werde ich Dir auch etwas Gutes tun“, basieren negative Sanktionen auf der Drohung „Wenn du mir nicht etwas Gutes tust, werde ich Dir etwas Unangenehmes antun“(Boulding 1963: S. 424) .
Die Methoden, mit denen die Befolgung informaler Erwartungen durchgesetzt wird, werden von Mitgliedern als folgenreicher betrachtet als die formal beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten von Vorgesetzten. Die Mechanismen mit denen in Armeeeinheiten Soldaten dazu gebracht werden, informale Normen zu befolgen, sind häufig brutaler als der offizielle Strafkatalog. Die Mechanismen mit denen „zickigen Kollegen“ in Verwaltungen wichtige Informationen vorenthalten werden, die diese eigentlich dringend zur Erledigung ihrer Aufgaben brauchen, haben schon zu mancher Kündigung einer lebenslangen Stelle geführt. Und Selbstmord von Mitarbeitern in Unternehmen ist häufig nicht das Ergebnis formal vorgegebener Erwartungen, sondern informalen Drucks, der von Kollegen, Vorgesetzten und manchmal auch Untergebenen aufgebaut wird.
Informale Sanktionierungen finden besonders zwischen Organisationsmitgliedern auf der gleichen Hierarchiestufe statt. Dies ist für Organisationsmitglieder besonders folgenreich, weil man in vielen Arbeitsprozessen auf kollegiale oder kameradschaftliche Unterstützung angewiesen ist. Informale Sanktionierungen werden aber auch von Vorgesetzten gegenüber Untergebenen eingesetzt, um informale Erwartungen gegenüber diesen durchzusetzen. Berufen sich „Untergebene“ zu sklavisch auf ihre formalen Rechte, kann der Vorgesetzte „Bossing“, also Mobbing von oben betreiben und dem Untergebenen wichtige Ressourcen zu Erledigung von Aufgaben vorenthalten. Allerdings finden sich informale Sanktionierungen auch von unten nach oben. Wenn sich eine Vorgesetzte der „Unterwachung“ durch ihr nachgestellte Mitglieder entzieht, verzichten ihre Mitarbeiter darauf, Fehler der „unkooperativen Chefin“ gegenüber anderen Abteilungen zu decken und lassen sie so ins offene Messer laufen.
Bei informalen Sanktionierungen geht es nur im Extremfall um den Ausschluss von Kollegen. Nur wenn man die Hoffnung aufgegeben hat, dass es mit dem Organisationsmitglied „noch etwas wird“, geht es darum, von unten eine Art informales Entlassungsverfahren anzustoßen, das letztlich auch zur formalen Trennung der Organisation vom Mitglied führt. In den meisten Fällen reichen zur Durchsetzung informaler Normen das punktuelle Ausschließen aus Informationsströmen, die zeitweise Ignorierung bei für die Arbeit wichtigen Zusammenkünften oder auch die heftige Ansprache aus, um das Organisationsmitglied wieder zu einem „guten Kollegen“ oder einer „guten Kollegin“ zu machen.
Rückgriff auf formale Ressourcen
Bei der Durchsetzung informaler Erwartungen kann auch auf Ressourcen zurückgegriffen werden, die durch die Formalstruktur der Organisation zur Verfügung gestellt werden (siehe dazu Kühl 2011: 125f.). So haben Direktoren von Berufsschulen aufgrund ihrer schwachen hierarchischen Stellung Schwierigkeiten, Erwartungen gegenüber den Lehrern ihrer Schule durchzusetzen. Sie verfügen in der Regel nicht über die Exit-Macht gegenüber den Lehrern, und auch Möglichkeiten die Karriere dieser zu beeinflussen, sind eher gering. Ein Mittel störrische Lehrer zu konformem Verhalten zu bewegen, ist, ihnen ungeliebte Fächer, wie beispielsweise die Fächer Deutsch und Geschichte für die Klassen „Schlachter I“ und „Fleischverkäufer II“, zuzuweisen. Wenn sie die Nachricht nicht verstehen, werden sie durch die Stundenplanung zu „Wanderpredigern“ in permanent wechselnden Klassen, bis sie entweder wohlfeiles Verhalten zeigen oder von sich aus um die Versetzung in eine andere Schule bitten.
Aus dieser Sicht kann es funktional sein, wenn – wie in einigen Organisationen üblich – Organisationsmitglieder mit formalen Erwartungen heillos überfordert werden. Aus der permanenten Verletzung formaler Erwartungen entstehen für Vorgesetzte Sanktionsmöglichkeiten, die gegen das Wohlverhalten der Untergebenen getauscht werden können. Für Armeen ist nachgewiesen worden, dass sich Soldaten in einer „Normenfalle“ befinden. Über eine Vielzahl von formalisierten Normen, die von Gruß- und Haltungsformen über Uniform- und Körperpflege bis zum Sauberhalten von Räumlichkeiten und Gerätschaften reichen, wird ein Soldat in einen „Zustand der ständigen Kritisierbarkeit“ versetzt (vgl. Treiber 1973: S. 51). Dadurch erhalten Vorgesetzte die Möglichkeit, durch die Duldung der Verletzung formeller Erwartungen Wohlwollen bei ihren Untergebenen zu produzieren, das sie wiederum einsetzen können, um auch nicht durch die Formalstruktur gedecktes Verhalten bei Untergebenen durchzusetzen. Ähnlich wie bei Vorgesetzten können aber auch Untergebene davon profitieren, wenn die Organisation stark formalisiert ist. Ausgefeilte Regeln, genaue Arbeitsanweisungen, bürokratische Vorschriften und präzise Arbeitszeitdefinitionen sind für Mitarbeiter nicht nur Restriktionen, sondern immer auch Verhandlungsgüter gegenüber Vorgesetzten, sofern Abweichungen von diesen Regeln notwendig werden (vgl. Gouldner 1954).
Jenseits der Klage
Solche Sanktionierungspraktiken werden mit klagendem Unterton gerne als Mobbing bezeichnet. Es wird über den „Psychoterror am Arbeitsplatz“ geklagt, die „Schikane im Büro“ verurteilt oder das „unmenschliche Verhalten unter Kollegen“ kritisiert (vgl. den guten Überblick bei Neuberger 1994a). Dabei ist die Wahrnehmung des „Sadismus einer Chefin“, der „Brutalität von Kollegen“ oder der „Grausamkeit von Untergebenen“ durch einzelne Mitglieder sicherlich gerechtfertigt. Aus organisationswissenschaftlicher Sicht ist es aber nötig, systematisch danach zu fragen, wem dieses Mobbing nutzt.
Sicherlich, in vielen Fällen handelt es sich um Mobbing, das lediglich der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse einzelner Organisationsmitglieder dient. Die sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen in einem japanischen Automobilkonzern dient der persönlichen Befriedigung männlicher Führungskräfte. Die Durchsetzung informaler Anforderungen der Organisation spielt dabei eine vergleichsweise geringe Rolle (siehe dazu Ashforth/Anand 2003: S. 4)
Aber es gibt auch Fälle, bei denen es sich um Versuche handelt, mit Hilfe informaler Sanktionierungen, die für die Organisation zentralen informalen Normen durchzusetzen (so Kieserling 28.10.2001). In diesem Fall werden Organisationsmitglieder vor die Entscheidung gestellt, sich entweder an die formalen Vorgaben oder die informalen Normen zu halten. Auch wenn Organisationsmitglieder in der Regel keine systematische Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen werden, ob sie eher bei einem formal korrekten oder informal erwarteten Verhalten relevante soziale Unterstützung erhalten, spielen Abwägungen zwischen den bei Regelabweichungen drohenden formalen Sanktionsmöglichkeiten und den bei strikter Regelkonformität drohenden informalen Sanktionsmöglichkeiten eine nicht irrelevante Rolle.
5. Öffnung und Schließung Fenster rationaler Kalkulationen
Es wäre naiv, davon auszugehen, dass Regelabweichungen immer auf Kalkulationen rational handelnder Organisationsmitglieder zurückzuführen sind. Häufig ist gar nicht klar, wie stark der Verfolgungswille letztlich ist, welche Strafen drohen und ob die Risikominimierung durch die Ausgliederung von Verantwortung überhaupt aufgeht (Vaughan 1998: 29fff.). Die Komplexität staatlicher Gesetze und formaler Regeln führt dazu, dass Mitglieder häufig nicht überblicken, ob sie abweichend handeln oder nicht (Palmer 2012: S. 64). Die Arbeitsteilung in Organisationen führt dazu, dass Mitglieder zwar ahnen, wenn sie gerade gegen Regeln verstoßen, sich häufig aber gar nicht über die Dimension ihrer Regelabweichungen bewusst sind (Stone 1975: 51f.). In der Regel sind Entscheidungen in Organisationen das Ergebnis nur begrenzt verfügbarer Informationen, die durch in der Organisation gepflegte Mythen, Dogmen und Fiktionen beeinflusst werden sowie ohnehin in der Regel Kompromisse auf Grundlage eines kleinsten gemeinsamen Nenners darstellen (March 2016: 56f.).[30]
Dennoch scheint es immer wieder Entscheidungsfenster zu geben, in denen Organisationsmitglieder sorgsam abwägen, ob sie von einer Regel abweichen oder nicht (in diese Richtung argumentierend zum Beispiel Luhmann 1985: S. 119; Box 1998: S. 41–43; Palmer 2012: 43f.).[31] Das Faktum der Abweichung führt in solchen Fällen dazu, dass es auch in Organisationen, in denen ansonsten eine Orientierung an Routinen vorzufinden ist, zu einer Abschätzung des Nutzens des Regelverstoßes im Vergleich zum Risiko der Aufdeckung des desselben und der Höhe einer möglichen Strafe kommt (siehe dazu Paternoster/Simpson 1993: 37ff.). Dabei konfligieren zwangsläufig die institutionalisierten formalen Erwartungen, die die Einhaltung von Regeln verlangen, mit den informalen Erwartungen, dass gegen diese Regeln verstoßen wird (siehe dazu z.B. Warren 2003: S. 624). Organisationsmitglieder sehen sich einerseits mit der Erwartung konfrontiert, sich an die entschiedenen Entscheidungsprämissen, also die formalen Regeln zu halten, andererseits aber auch die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen, die nicht selten auch die Verletzung von Regeln beinhalten können, zu befolgen. In solchen Fällen müssen sich Mitarbeiter zwischen den formalen und informalen Erwartungen entscheiden und nicht selten ist der Effizienz- oder Innovationsdruck in Organisationen so stark, dass die Mitarbeiter aus rationalen Gründen gegen Regeln der Organisation oder auch staatliche Gesetze verstoßen.[32]
Wenn Organisationsmitglieder gezwungen sind, ihre Entscheidung für regelabweichende Praktiken zu begründen, lassen sich vielfältige Neutralisierungstechniken beobachten (dazu allgemein Sykes/Matza 1957 und auf Deutsch Sykes/Matza 1968). Die Regeln, gegen die verstoßen wurde, werden als schlecht gemacht und völlig ungeeignet bezeichnet, während gleichzeitig auf die Vagheit und Widersprüchlichkeit derselben Regeln verwiesen wird. Der besondere Nutzen der Regelabweichung für die Organisation – vielleicht auch für die Gesellschaft als Ganzes – wird hervorgehoben und den überschaubaren Risiken gegenübergestellt. Sollte die Regelabweichung bekannt werden, wird erklärt, dass sie letztlich zu keinen größeren Opfern geführt hat und deswegen das Kosten-Nutzen-Kalkül immer noch aufgegangen ist (siehe Anwendungen des Arguments auf Abweichung von Regeln z.B. bei Box 1998: S. 54–57; Piquero et al. 2005: 163f.; Umphress/Bingham 2011: S. 625–626).
Entscheidungssituationen, in denen die Vor- und Nachteile der Regelabweichung derartig sorgsam abgewogen und systematisch anderen Alternativen gegenübergestellt werden, sind jedoch die Ausnahme.[33] Durch das Einspielen sich fortschreitend bewährender informaler Organisationspraktiken werden die ursprünglich noch bestehenden offenen Entscheidungssituationen zunehmend „wegdefiniert“. Organisationsneulinge erleben die an sie gestellten informalen Erwartungen als so selbstverständlich, dass sie gar nicht erst anfangen, sich die Gedanken eines risikokalkulierenden und nutzenmaximierenden Akteurs machen (siehe aus der Perspektive der Gehorsamkeitsforschung Hamilton/Sanders 1992; Hamilton/Sanders 1999). Die Beteiligten sind so sehr in informale Tauschverhältnisse eingebunden, dass eine Verweigerung der Teilnahme an regelabweichenden Praktiken gar nicht mehr ins Auge gefasst wird (siehe dazu besonders Umphress et al. 2010). Durch Wiederholung gewinnen Regelabweichungen immer mehr an Selbstverständlichkeit. Es wird unterstellt, dass diese ursprünglich mit guten Gründen eingeführt wurden und man diese Gründe nicht noch einmal überprüfen muss (siehe dazu Ashforth/Anand 2003: S. 8).[34] So werden die Entscheidungsfenster, in denen systematisch Vor- und Nachteile regelabweichenden oder regelkonformen Verhaltens abgewogen werden, durch eingespielte informale Praktiken zusehends verschlossen.[35]
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[1] In der Diskussion wird häufig nicht systematisch zwischen Rationalität und Irrationalität einzelner Organisationsmitglieder und der Organisation insgesamt unterschieden. Ich konzentriere mich in der Argumentation hier auf die Frage, ob Regelabweichungen von Organisationsmitgliedern rational abgewogen werden oder nicht.
[2] Wörtlich heißt es etwa bei Braithwaite/Geis (1982: S. 302): „Corporate crimes are almost never crimes of passion; they are not spontaneous or emotional, but calculated risks taken by rational actors“.
[3] Inzwischen geht die Forschung in eine Richtung, in der verschiedene Motivationsfaktoren für Regelbefolgung oder Regelabweichung in Betracht gezogen werden; siehe z.B. Kagan et al. (2011); Parker/Nielsen (2011).
[4] Siehe zu Verfolgungsproblemen die Argumentation von Jacoby et al. (1977) über die Schwierigkeit des Nachweises der Bestechung ausländischer Amtsträger. Siehe zur Kontroverse über die Bedeutung der Verfolgung von Bagatelldelikten zum Beispiel Robinson/Darley (1995) oder Green (1997).
[5] Siehe zum Fall der Bagatellabweichung auch Schütz et al. (2018: S. 103–104).
[6] Siehe zum Ansatz der „expected punishment costs“ bei kriminellen Handlungen von Organisationen schon früh Coffee (1981: 389f.). Hier fehlt es noch an Forschungen, inwiefern Strafzahlungen bewusst einkalkuliert werden. Eine interessante Fallstudie wäre beispielsweise die Zerstörung des elektrisch betriebenen öffentlichen Nahverkehrs in Los Angeles durch ein Kartell von General Motors, Standard Oil und Firestone (siehe Mokhiber (1988).
[7] Solche Strategien lassen sich besonders in Entwicklungsländern beobachten, in denen das Rechtssystem noch nicht voll gegenüber dem Politiksystem ausdifferenziert ist. Aber solche Strategien lassen sich auch in Industrieländern beobachten, in denen politische Parteien über Jahrzehnte an der Macht gewesen sind. Siehe zur Frage, ob bei Gesetzesbrüchen untergeordneter Behörden auch das Strafrecht greifen sollte Green (1993).
[8] Wegen der Prominenz der Rational Choice Theorie ist es wenig überraschend, dass dieses Experiment dort regelmäßig auch in populärwissenschaftlichen Darstellungen der Verhaltensökonomie auftaucht. Siehe nur zum Beispiel die Darstellung in Levitt/Dubner (2006) oder Gneezy/List (2013).
[9] Siehe zur Tendenz in Fällen von „Straßenkriminalität“ bewährte Theorien wie die rational choice theory, die opportunity theory oder die strain theory auf Fälle von Organisationskriminalität anzuwenden Vaughan (1981); Shover/Bryant (1993); Shover/Hochstetler (2002); Bergmann (2016). Prominent findet sich diese Position auch bei Fisse/Braithwaite (1993).
[10] Zur Soziologie der Verstöße gegen Verkehrsregeln, siehe früh schon Ross (1960).
[11] Es geht aus der Rational Choice Perspektive nicht um die Erreichung eines „Zero-Levels“ bei Regelabweichungen und Gesetzesverstößen, sondern um die Erreichung der optimalen Balance unter Berücksichtigung der Überwachungs- und Bestrafungskosten und der Kosten für Schäden durch die Regelabweichung (siehe dazu Palmer (2012: S. 59).
[12] Siehe zur Sanktionierung auf Basis von Rational Choice Überlegungen nur beispielhaft Garoupa (2000).
[13] In diesem Kapitel werden zwei konkurrierende Konzepte – die Erklärung von Regelabweichungen über rationale Kosten-Nutzen-Kalkulationen und die Erklärung über institutionalisierte Verhaltensmuster – gegenübergestellt und im Fazit dann ein Angebot gemacht, wie diese miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Siehe zur Differenz dieser beiden Ansätze z.B. Vaughan (1998); Klinkhammer (2013) oder Pohlmann/Höly (2017).
[14] Siehe nur beispielhaft für die klassische Herangehensweise an Innovationen Davenport et al. (2006); Tidd/Bessant (2014); Goffin et al. (2017).
[15] Siehe auch die Kritik von Donald Palmer (2012: S. 174) an der Vorstellung von Blake E. Ashforth und Vikas Anand (2003), dass Initiativen für Regelabweichungen und Gesetzesverstöße oben angestoßen werden und als nach unten weitergegeben werden.
[16] Häufig kann sich die in einem Staat gerade noch erlaubte Praxis in einem anderen Land schon nicht mehr im Rahmen des Erlaubten bewegen. So bewegen sich die von Automobilkonzernen eingesetzten Tricks zur Manipulation von Abgaswerten in vielen Ländern in einer rechtlichen Grauzone. Wenn das Know-how zum Schönen der Verbrauchs- und Abgaswerte – Stichwort Wissensmanagement – jedoch von einem Land zum anderen transferiert wird, kann leicht übersehen werden, dass diese Praxis gegen Gesetze verstößt. Es mag sein, dass einzelne Mitarbeiter bemerken, dass der Konzern durch die weltweite Diffusion von bewährten Täuschungspraktiken in einzelnen Ländern Gesetzesverstöße begehen könnte. Aber wie häufig in solchen Fällen, werden Warnungen nicht zur Kenntnis genommen, weil gerade die Sichtweise der Konzernspitze durch die Rechtslage im Heimatland geprägt ist.
[17] Siehe in Bezug auf Korruption die Unterscheidung von isolierter und systemischer Korruption Caiden/Caiden (1977: 304ff.) oder situativer und struktureller Korruption Höffling (2002: 78f.).
[18] Cressey (1976) vergleicht Branchen mit Nachbarschaften. Genauso wie sich in Nachbarschaften unter Jugendlichen Normen der Regelabweichung durchsetzen, können sich auch in Branchen wie der Rüstungs-, Pharma- oder Automobilindustrie Normen der Regelabweichung ausbilden, an die man sich zu halten hat.
[19] Siehe zur Verwendung von „Organisationskultur“ und „informaler Struktur“ als Synonyme ausführlich Kühl (2018).
[20] Siehe dazu Young (1989: S. 201); Alvesson (2016: S. 278). Bei der Unterscheidung zwischen entschiedenen und nichtentschiedenen Erwartungen handelt es sich um eine in verschiedenen Disziplinen gut eingeführte Praxis. So werden in der Politikwissenschaft formelle Institutionen, die schriftlich fixiert sind und durch Akteure sinnhaft gestaltet sowie verändert werden können, von informellen Institutionen unterschieden, die sich naturwüchsig ausbilden und zu denen nichts schriftlich niedergelegt wird (siehe zur Unterscheidung z.B. Lauth (1999: 64f.); Helmke/Levitsky (2004: 725ff.). In der Rechtswissenschaft kennt man die Unterscheidung zwischen gesetztem, positivem Recht und dem Gewohnheitsrecht, das sich durch Wiederholung langsam ausgebildet hat (siehe zur Unterscheidung früh schon Puchta (1828).
[21] Die Literatur über die Sozialisation von Neulingen in Organisationen ist überraschend blind gegenüber der Unterscheidung von Formalität und Informalität (siehe nur zum Beispiel den Überblick von Ellis et al. (2015)). Hier kann man unmittelbar an den Ansatz der „differential association“ von Edwin Sutherland anschließen, in dem herausgestellt wird, dass die Motive, Techniken und Haltungen zu abweichendem Verhalten in sozial verdichteten Interaktionen erlernt werden. Siehe dazu die ersten expliziten Überlegungen in der dritten Auflage von Sutherlands „Principles of Criminology“ (Sutherland (1939) und den ausgearbeiteten Ansatz in der vierten Auflage (Sutherland (1947). Für einen Überblick siehe Matsueda (1988).
[22] Eine wichtige Rolle spielt bei dem schrittweisen Vertrautmachen mit abweichenden Praktiken das Gefühl, dass die Neulinge eine Wahl haben, ob sie die Regeln befolgen oder von diesen abweichen. Die Sozialisation in abweichende Praktiken gelingt besonders dann, wenn Neulingen der „Illusion“ unterliegen, dass sie sich für die Abweichung von den Regeln selbst entschieden haben Anand et al. (2005: S. 15).
[23] Dieser Prozess ist besonders gut für die Sozialisation in illegale Bereicherungspraktiken untersucht worden, siehe Mars/Nicod (1984: 117ff.).
[24] Für den Fall des Einsatzes von Gewindebohrern zeigen Bensman/Gerver (1963) sehr genau, wie eine solche schrittweise Heranführung von Mitarbeitern an eine illegale Praxis funktioniert.
[25] Für diese traditionelle, auf die Formalstruktur fokussierte Managementlehre siehe für die prominentesten Ansätze Fayol (1916); Taylor (1967); Gutenberg (1958).
[26] Zur Tauschtheorie immer noch maßgeblich Blau (1964), aber auch Emerson (1976). Umphress/Bingham (2011: S. 624) machen zu Recht darauf aufmerksam, dass entgegen der Annahme zum Beispiel von Kamdar et al. (2006) oder Tekleab et al. (2005) die Tauschtheorie eher regelabweichende denn regelkonforme Praktiken nahelegt.
[27] Was passiert, wenn diese Tauschprozesse nicht gut genug funktionieren, kann man am Verpassen von Zielen aufgrund gleichzeitig schlafender Piloten beobachten. Den Rekord scheinen Piloten von Northwest Airlines mit einem Verfehlen des Flughafens um 240 Kilometer und 78 Minuten ohne Funkkontakt innezuhaben; siehe Pelczar (2019: S. 27).
[28] Siehe auch den Verweis auf den „Godfatherism“ in englischsprachigen Studien zu Regelabweichungen, zum Beispiel bei Needleman/Needleman (1979: S. 518).
[29] Siehe zu dieser doppelten Thematisierungsschwelle im Rechtssystem ausführlich Luhmann (1981: 61f.). Relevant ist, dass in Organisationen anders als im Rechtssystem auf der Ebene der Interaktionssysteme Rechtsfragen und Machtfragen nicht getrennt sind.
[30] Über die Grenzen der Rational Choice Theorie bei der Erklärung von Regelabweichungen hinaus gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur (siehe für einen Überblick nur zum Beispiel Vaughan (1998); Palmer (2008).
[31] Dieser an der Rational Choice Theorie orientierte Zugang wirft für Beobachter die Frage auf, weswegen sich angesichts des geringen Aufdeckungsrisikos so viele Organisationsmitglieder an Regeln halten (so z.B. Braithwaite (1985: S. 7).
[32] Die Vorgesetzte verlangt mehr oder minder explizit, dass man den Auftrag zeitgerecht erfüllt und dafür auch von zu Hause aus weiterarbeitet, die Personalabteilung erwartet, dass man sich strikt an die formal vorgegebenen Arbeitszeiten hält, die Qualitätsmanagementabteilung fordert, dass die Leistungserbringung strikt nach Vorgabe erfolgt, um die Qualitätszertifizierung durch Kunden nicht zu gefährden und die Kollegen verlangen, dass man die bewährten Abkürzungen wählt, um die Produktivitätsziele zu erreichen.
[33] Ziel der Überlegungen ist es, von der simplen Kontrastierung zwischen entweder rational oder irrational handelnden Regelabweichlern wegzukommen. Siehe für eine solche Differenzierung die Überlegung von Pohlmann et al. (2016), dass die Empfänger von Bestechungsgeldern durch rationale Kalkulationen getrieben werden, während die Bestechenden jenseits rationaler Kalkulationen eher durch die in der Organisation institutionalisierten Erwartungen getrieben werden.
[34] Organisationen erreichen ihre Effizienz und Schnelligkeit dadurch, dass Organisationsmitglieder eingespielte Routinen nicht laufend in Frage stellen. Das gilt – und das wird häufig übersehen – sowohl für Routinen, die mit den formalen Strukturen vereinbar sind als auch für Routinen, die formalen Strukturen entgegenlaufen.
[35] Diese Institutionalisierung bis zur Unkenntlichkeit der Regelabweicheichung ist auch rechtstheoretisch relevant, weil das Prinzip der „mens rea“ vorsieht, dass ein Regelverstoß nur sanktioniert werden darf, wenn sich die Regelverletzer der Natur des Regelverstoßes bewusst sind oder sich zumindest hätten bewusst sein können.