Brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen

Regelabweichungen und Gesetzesbrüche in Organisationen werden im Allgemeinen als Problem betrachtet. Sie werden als „Verfehlung“, „Fehlverhalten“, „antisoziales Verhalten“, als „Sittenverfall“ oder gar als „Verbrechen“ bezeichnet. Gesprochen wird von den „schmutzigen Geschäften“ von Unternehmen, dem „falschen Handeln“ in Organisationen oder den „dunklen Seiten“ von Organisationen. Die Organisationen, in denen solche Regelabweichungen und Gesetzesbrüche exzessiv zu beobachten sind, werden als „unzivilisierte Organisation“ oder als „Schattenorganisationen“ bezeichnet.

Die Formen der Regelabweichungen dieser so kritisierten Organisationen können sehr unterschiedlich sein. Sie können in der Manipulation der Finanzabschlüsse von Banken, im Schmieren von Auftraggebern in der Elektronikindustrie oder in Verstößen von Automobilkonzernen gegen Umweltschutzauflagen ausgemacht werden. Es kann um die alltäglichen Manipulationen in Universitäten gehen, mit denen die Leistungen der Studierenden in ein immer komplexer werdendes Regelwerk eingepresst werden, um die kleinen Tricksereien bei der EDV-gestützten Dokumentation von Pflegeleistungen in Altenheimen oder um die Kniffe, mit denen in Verwaltungen und Unternehmen Ausschreibungsrichtlinien umgangen werden.

Wenn Abweichungen von Regeln öffentlich bekannt werden, ähneln sich die Reaktionen der betroffenen Organisationen. Die Organisationen versuchen zu zeigen, dass lediglich wenige Einzelpersonen für die Regelverstöße verantwortlich seien, die allen anderen Mitgliedern der Organisation hätten verborgen bleiben müssen. Außerdem versuchen sie sich dabei selbst als Opfer darzustellen. Es wird ein Finanzvorstand ausgeguckt, der vermeintlich ohne Wissen anderer Vorstände sowie des Aufsichtsrats Buchhaltungstricks angewandt und damit letztlich die ganze Organisation in den Abgrund gerissen habe. Entwicklungsingenieure, die auf Anweisung von Vorgesetzten Umweltgesetzte gebrochen haben, bekommen nach ihrer Verurteilung durch ein Strafgericht auch noch die Kündigung durch den Arbeitgeber wegen Schädigung des Unternehmens.

Solche Versuche der Personalisierung von Regelabweichungen und Gesetzesbrüchen sind aus der Perspektive der Organisation nachvollziehbar. Der Verweis auf einzelne Verantwortliche bietet für die Organisation die Möglichkeit, den Skandal einzugrenzen. Organisationsmitglieder werden öffentlich angeprangert, um die Distanzierung der Organisation von diesen Regelbrechern deutlich zu machen und die Organisation zu entlasten. Einzelne Organisationsmitglieder werden dabei für einen Regelbruch verantwortlich gemacht und die öffentlich sichtbare Trennung von ihnen als Reinigungsakt inszeniert.

Aber durch Personalisierung verbaut sich die Organisation den Blick auf die in ihrer Struktur angelegten Gründe für Regelabweichungen. Durch die Personalisierung des Ereignisses wird eine schlüssig erscheinende Erklärung geliefert, die es der Organisation erspart, genauer nachzufragen, weswegen es zu den Regelabweichungen gekommen ist. Die Organisation kann sich so zwar schnell des Problems entledigen, sie macht sich dadurch aber dümmer, weil sie nicht begreift, welche tiefergreifenden Prozesse zu den Regelabweichungen und Gesetzesbrüchen geführt haben.

Entgegen dieser Personalisierung legt eine grundlegend andere Erklärung für Regelabweichungen und Gesetzesverstöße nahe – Regelabweichungen sind für Organisationen funktional. Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als die effektivste Streikform, um eine Organisation lahmzulegen. Wenn alle Regeln und Anweisungen buchstabengetreu ausgeführt werden, wird die Organisation auch bei noch so guter Planung immer schwerfälliger. Die Organisation zerbricht an der rigiden Auslegung ihrer formalen Strukturen. Sie geht an ihrem „Ordnungs- und Verordnungswahn“, ihrer „Regulierungswut“ und ihrem „Regelfetischismus“ zugrunde. Der Soziologe Niklas Luhmann spricht von der brauchbaren Illegalität in Organisationen.

Wer es nicht glaubt, probiere in einer Art Krisenexperiment aus, über mehrere Tage bis ins Detail nur genau das zu tun, was von der Organisation vorgeschrieben ist. Man würde den Arbeitsprozess weitgehend zum Erliegen bringen. Man würde als „bürokratischer Virtuose“, der nie auch nur eine Regel vergessen könne, als „penetranter Formalist“, der nicht in der Lage sei, auch mal „Fünfe grade sein zu lassen“, oder als „regelbesessener Korinthenkacker“, der nicht wisse, wie eine Organisation wirklich funktioniert, diskreditiert werden. Der Druck von Kollegen und Vorgesetzten würde stetig wachsen, den „Bürokratismus“ – so nennt man die strikte Einhaltung der formalen Ordnung – nicht zu übertreiben.

Organisationen lösen die häufig fehlende Passung ihrer formalen Struktur dadurch, dass sie den Mitarbeitern zwar ein formal konsistentes Regelwerk vorgeben, gleichzeitig aber ein gewisses Maß an informalen Abweichungen dulden. Es wird akzeptiert, dass sich kleine und große Schleichwege ausbilden, die im Widerspruch zu den offiziellen Dienstwegen stehen. Es wird geduldet, dass Ziele, Verfahren und Richtlinien immer wieder umdefiniert, gedehnt und umgangen werden, sofern dadurch die Starre des formalen Regelwerks abgemildert werden kann. Es wird ertragen, wenn bei der Rekrutierung, Versetzung und Entlassung von Personal nicht immer alles nach den Regeln abläuft, weil sonst häufig nicht das geeignete Personal zur geeigneten Zeit zur Verfügung stände.

Erst die Möglichkeiten zur punktuellen Abweichung vom formalen Regelwerk geben der Organisation eine gewisse „Leichtigkeit“. Widersprüchliche Anforderungen an die Mitarbeiter müssen nicht sofort durch ein neues formales Regelwerk entschieden werden, sondern man duldet, dass Mitarbeiter in gut begründeten Fällen von den formalen Regeln abweichen. Gleichzeitig verhindert die Existenz der formalen Ordnung, dass sich eine Organisation „balkanisiert“ und alle tun, was sie wollen.

Letztlich wird durch diese Duldung von Abweichungen die Regel selbst stabilisiert. Würde eine strikte Regelbefolgung eingefordert werden, würde für alle offensichtlich werden, dass diese für viele Entscheidungssituationen zu starr und zu unpassend ist. Ohne die Duldung von Abweichungen würde der Rechtfertigungsdruck für die Regel so stark werden, dass diese gerade wegen des Drucks, diese befolgen zu müssen, an Akzeptanz verliert. Eine begrenzte Duldung von Abweichungen ist also notwendig, um die Regel überhaupt beibehalten zu können. Überspitzt ausgedrückt: Die Duldung der Abweichung ist das nötige „Schmiermittel“, damit Regeln überhaupt funktionieren können.

 

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant bei der Organisationsberatungsfirma Metaplan. Mitte September erscheint sein neues Buch „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus Verlag)

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

3 Kommentare

  1. Manfred Stockinger sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Kühl,
    Gratulation zum mutigen Thema Ihres neuen Buches. Ich freue mich schon darauf.
    Ich hoffe, dass darin auch die Definition und Formulierung von Regeln zerpflückt wird. Reicht die Bandbreite doch von harten Gesetzen bis zu weichen Spielregen mit hohem Interpretationsspielraum. Als Manager Und Berater von vornehmlich produzierenden Industrieunternehmen stelle ich mir auch immer wieder die Frage:“Wie man eine hilfteiche und für alle Mitarbeiter verständliche Balance zwischen Überregulierung und Laizzez-faire herstellen kann.“ Vielleicht können Sie vorab (zum Lesevergnügen) ein paar Gedanken mit mir teilen.

    Liebe Grüsse von einem „Fan“ aus Österreich
    Manfred Stockinger

  2. Manfred Stockinger sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Kühl,
    Gratulation zum mutigen Thema Ihres neuen Buches. Ich freue mich schon darauf.
    Ich hoffe, dass darin auch die Definition und Formulierung von Regeln zerpflückt wird. Reicht die Bandbreite doch von harten Gesetzen bis zu weichen Spielregen mit hohem Interpretationsspielraum. Als Manager Und Berater von vornehmlich produzierenden Industrieunternehmen stelle ich mir auch immer wieder die Frage:“Wie man eine hilfteiche und für alle Mitarbeiter verständliche Balance zwischen Überregulierung und Laizzez-faire herstellen kann.“ Vielleicht können Sie vorab (zum Lesevergnügen) ein paar Gedanken mit mir teilen.

    Liebe Grüsse von einem „Fan“ aus Österreich

  3. Jörg Laser sagt:

    Sehr interessantes Thema und Absatz,
    ich bin sehr auf die weiter- und tiefergehende Erarbeitung im Buch gespannt.

    Eine editoriale Anmerkung: ich denke, die Verwendung des Begriffs „Balkanisierung“ – auch wenn in „“ – ist in einem Fachtext nicht wirklich angebracht.

    Freundliche Grüsse
    Jörg Laser

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