Zum Verlust der Zufälligkeit

Die Bedeutung von Zwischenräumen an Hochschulen

Die Pandemie hat Lehrende an den Hochschulen dazu gezwungen, innerhalb von kurzer Zeit auf digitale Lehre umzustellen. Die Lernkurve ist dabei in den meisten Fällen steil gewesen. Lehrende haben schnell verstanden, dass es für den Erfolg eines Seminars zentral ist, dass alle Studierenden ihre Videokamera anhaben, weil sonst eine ansteckende Entfremdung von der Interaktion einsetzt. Sie haben erfahren, dass bei über einem Dutzend Teilnehmer in einer internetbasierten Interaktion Störgeräusche entstehen, wenn alle ihr Mikrofon anlassen, es aber bei unter einem Dutzend sinnvoll ist, die Mikros anzulassen, weil kleine zustimmende oder ablehnende Geräusche den Gesprächsfluss erleichtern.

Auch wenn die Digitalisierungseuphorie einiger Bildungsplaner berechtigte Skepsis bei vielen Lehrenden hervorruft, hat die Verunmöglichung einer Lehre unter körperlicher Co-Präsenz von Lehrenden und Lernenden zu einer Reihe interessanter Variationen geführt. Bei forschungsorientierten Lehrveranstaltungen im Internet sind räumliche Grenzen so irrelevant, dass problemlos Autoren von Texten zugeschaltet werden und Studierende aus unterschiedlichen Hochschulen ohne Schwierigkeiten für Diskussionen zusammenkommen können. Statt Studierende zu fixen Zeitpunkten in Großinteraktionen zu versammeln – auch bei körperlicher Präsenz in Hörsälen nicht immer ein Höhepunkt der Lernerfahrung – werden jetzt Inhalte von Vorlesungen in Videosequenzen zur Verfügung gestellt, auf die in kleineren Übungen dann systematisch eingegangen werden kann.[1]

Aber obwohl sich inzwischen die vielfältigen Möglichkeiten digitaler Formate gezeigt haben, gibt es gerade bei Studierenden einen starken Drang, möglichst schnell zum Präsenzunterricht zurückzukehren. Dies ist überraschend, weil man gerade bei der Diskussion über Anwesenheitspflichten, Modulabschlussprüfungen und Benotungen häufig den Eindruck bekommen konnte, dass sich seit der Bologna-Reform eine Wahrnehmung durchgesetzt hat, nach der Studierende mit Druck in Präsenzveranstaltungen gebracht werden müssen. Woher kommt diese Sehnsucht nach der Universität oder der Fachhochschule als Ort körperlicher Anwesenheit?

Die fehlende Anwesenheit zwischen den Seminaren

Seminare und Übungen unter Bedingungen körperlicher Anwesenheit bieten sicherlich zusätzliche Chancen der Wahrnehmung. Der Wechsel zwischen Gesprächspartnern fällt bei körperlicher Anwesenheit leichter, weil eine Gesprächsbereitschaft durch paraverbale Zeichen wie Räuspern oder lautes Einatmen angezeigt wird. Das Reden fällt leichter, weil ein reichhaltigeres Spektrum nonverbaler Zeichen zur Verfügung steht, um Interesse oder Langeweile, Zustimmung oder Widerspruch der Zuhörer einschätzen zu können.

Aber Lehrende würden die Bedeutung ihrer Veranstaltungen überschätzen, wenn sie die vielfältigeren Möglichkeiten verbaler, paraverbaler oder nonverbaler Kommunikation bei körperlicher Anwesenheit als Hauptgrund für die Sehnsucht der Studierenden nach einer Rückkehr an die Hochschulen ansehen würden. Studierende scheinen nicht vorrangig die körperliche Anwesenheit im Seminar zu vermissen, sondern die Anwesenheit zwischen den Seminaren. Bei einer Umstellung auf digitale Lehre fehlen die mehr oder minder zufälligen Kontakte vor, zwischen und nach den Veranstaltungen – die Chance auf einen kurzen Schwatz mit Kommilitonen, die niedrigschwelligen Möglichkeiten zu langfristigen Kontaktanbahnungen oder die im Vergleich zu Dating-Plattformen kostengünstige Ermöglichung zum Kennenlernen von Sexualpartnern.

Diese für Studierende zentralen Funktionen der Anwesenheit vor Ort kommen in den offiziellen Selbstdarstellungen der Hochschulen nicht vor. Hochschulen würden Irritation auslösen, wenn sie in ihren Leitbildern ihre vorrangige Funktion darin sehen würden, als Kontaktbörse und Heiratsmarkt zu dienen. Stattdessen präsentieren sie sich als ein Ort, an dem Studierende sich grundlegendes Wissen, vertiefte fachliche Kompetenzen und wissenschaftliche Arbeitsweisen aneignen, sich eigene wissenschaftliche Interessen und berufliche Perspektiven erschließen und als Persönlichkeit entwickeln können.

Für die an geselligen Kontakten interessierten Studierenden hat diese offizielle Außendarstellung eine entlastende Funktion. Schließlich würde es Studierende erheblich unter Stress setzen, wenn Spaß haben, Freunde gewinnen und Liebespartner finden zum offiziellen Lehrplan gehören würden. Es ist angenehmer, wenn Veranstaltungen das Erlernen des Frühneuhochdeutschen, der relativistischen Quantenmechanik oder der experimentellen Ökonomik als offiziellen Grund des Zusammenkommens ausweisen und man diesen Rahmen dann weitgehend risikolos für Kontaktanbahnungen nutzen kann.

Gesellige Verdichtung zur Flexibilisierung des Lernens

 

Das Verständnis von Präsenzunterricht als notwendiges Hintergrundrauschen für Kontaktanbahnungen stellt natürlich eine Kränkung für das Ego von Lehrenden dar. Aber damit würde man die Bedeutung geselliger Interaktion für den Austausch an Hochschulen unterschätzen. Sicherlich – Studierende parasitieren an Hochschulen, um persönliche Kontakte herzustellen. Aber Hochschulen profitieren wiederum davon, weil persönliche Kontakte die Lernmöglichkeiten erhöhen.

Wenn man sich an der Hochschule nahekommt, werden inhaltliche Debatten schnell durch andere Themen verdrängt – Erfahrungen mit Hobbys oder aktuellen Lebenspartnern, die Freuden und das Leid in der Wohngemeinschaft oder Frustrationen im Nebenjob. Aber die persönliche Beziehung dient dann vielfach wiederum als Basis dafür, sich über Themen in Seminaren auszutauschen, sich bei Klausurvorbereitungen zu unterstützen oder gemeinsame Arbeiten zu schreiben.

An Hochschulen stellen persönliche Beziehungen den notwendigen Schmierstoff für die Vermittlung des Wissens, die Prüfung von Argumenten und die Entwicklung von Ideen dar. Vorlesungen, Seminare oder Übungen haben den Vorteil, dass sie sich gut planen lassen und sich deswegen gut als Grundpfeiler für offizielle Lehrpläne eignen. Aber diese formal vorgeschriebenen Lern- und Austauschformate sind statisch, weil sie nicht ausschließlich Personen umfassen, die an der Klärung eines Themas interessiert sind, sondern alle, die diese Veranstaltung laut Studienplan belegen müssen. Sie enden nicht, wenn sich die Diskussion erschöpft hat, sondern wenn die Uhr das Veranstaltungsende anzeigt. Über persönliche Beziehungen können diese Defizite kompensiert werden.

Anforderungen an eine Organisation der Zwischenräume und Zwischenzeiten

 

Die Schwäche internetbasierter Interaktion besteht darin, dass sie sich schwertut, Zufälligkeiten zu organisieren. Man kommt vor oder nach einer Vorlesung über das Internet nur schwer miteinander ins Gespräch. Man hat begrenzte Möglichkeiten in über Webplattformen durchgeführten Seminaren jemanden kennenzulernen. Kurz, bei ausschließlich digitalem Unterricht existieren zu wenige Zwischenräume und Zwischenzeiten, die das Zustandekommen zufälliger Kontakte ermöglichen.

Die Ausgangsbasis für die Entstehung von Zwischenräumen und Zwischenzeiten ist je nach Hochschule unterschiedlich. Einige Hochschulen sind außerhalb der Stadt auf eine grüne Wiese gesetzt worden und bieten deswegen wenig Anreiz zum Verweilen. Andere profitieren davon, dass durch die Kleinheit der Stadt oder durch die Einbettung in ein Universitätsviertel soziale Verdichtungen vereinfacht werden. Hochschulen, deren Studierende größtenteils aus der näheren Umgebung stammen, haben den Nachteil, dass diese täglich ihre alten Freunde aus der Schulzeit treffen oder abends zu Vater oder Mutter zurückkehren können. Universitäten mit einem weiten Einzugsgebiet profitieren von der anfänglichen Entwurzelung ihrer Studierenden, weil diese ihre sozialen Kontakte vorrangig an der Hochschule finden werden und die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um Kommilitoninnen und Kommilitonen mit ähnlichen fachlichen Interessen handelt, vergleichsweise groß ist.

Aber jenseits dieser nur schwer zu beeinflussenden Rahmenbedingungen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Wahrscheinlichkeit für die Nutzung von Zwischenräumen und Zwischenzeiten zu erhöhen. Exkursionen, Blockseminare oder vierstündige Veranstaltungen mit integrierter Pause bieten Studierenden zahlreiche Chancen zur Kontaktaufnahme. Themen, die zu Aufregung führen, könnten ebenso zu verstärkten sozialen Kontakten zwischen Studierenden führen, weil es kaum einen stärkeren sozialen Kit gibt als gemeinsamen Protest. Nicht zuletzt sind es also die formal vorgeschriebenen Interaktionen – und das ist nur auf den ersten Blick paradox – die maßgeblich beeinflussen, ob Zwischenräume und Zwischenzeiten an den Hochschulen entstehen und wie sie genutzt werden.

Überspitzt ausgedrückt  könnte man die Zeit, die Studierende vor, zwischen oder nach ihren Veranstaltungen in der Nähe der Hochschule verweilen, zur zentralen Qualitätskennziffer für die Lehr- und Lernevaluation machen. Wieviel Zeit verbringen Studierende jenseits der Pflichtveranstaltungen an der Hochschule? Bleiben Studierende nach einer Veranstaltung noch im Raum, um miteinander zu diskutieren? Trifft man sich danach noch in einem Café, um über Gott und die Welt – und am Rande auch über Fachthemen – zu diskutieren? Vermutlich hätten etliche Hochschulen auch schon vor der Pandemie bei der Ermutigung zu einer extensiven körperlichen Anwesenheit nicht besonders gut abgeschnitten.

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zu dem Thema erschien von ihm vor einigen Jahren „Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie“ (transcript 2012).

 

[1] Zu der nützlichen Filterwirkung von internetbasierter Interaktion siehe auch Kühl, Stefan (2020): Über die nützliche Filterwirkung internetbasierter Interaktionen. In: Marija Stanisavljevic und Peter Tremp (Hg.): (Digitale) Präsenz. Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre. Pädagogische Hochschule Luzern: Luzern, S. 59–60.

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

1 Kommentar

  1. Dirk Heidemann sagt:

    Die Relevanz der Zwischenzeiten konnte und kann man wahrscheinlich heute noch auch an Schulen beobachten. Ich hatte spätestens seitdem unsere Kinder die 9. / 10. Klasse besuchten immer den Eindruck, dass es beim Schulbesuch mehr um das Treffen der Ciique ging als um die Unterrichtsveranstaltungen. :))

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