Nicht alles ist möglich – Fünf entscheidende Faktoren rund um den Machtwechsel

Letzte Umfragen verheißen ein enges Rennen bei der Bundestagswahl. Welches Bündnis am Ende zustande kommt, ist nicht abzusehen. Kanzler werden könnte sogar der Verlierer. Doch die Möglichkeiten zur Macht sind mehrfach begrenzt. Eine Analyse.

Gerade frisch durchgesaugt: Wer demnächst auf der Regierungsbank Platz nehmen darf, ist noch längst nicht ausgemacht. Bild: AFP.

 

Auch wenn die SPD in allen Umfragen vorne liegt, ein knappes Rennen könnte es bei der Bundestagswahl dennoch werden. Über etwaige Bündnisse lässt sich nur spekulieren. Sowohl einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP („Ampel“) als auch einer von CDU/CSU, Grünen und FDP („Jamaika“) werden höhere Chancen beigemessen. Rechnerische, wenn auch nach Meinung vieler eher wenig(er) wahrscheinliche Szenarien, böten sich eventuell mit einer Wiederauflage der Großen Koalition oder in einem Kabinett aus SPD, Grünen und Linke.

Lässt sich die Koalitionswahl bis auf Weiteres also überhaupt nicht absehen – wie sieht es dann aber mit den Voraussetzungen und Bedingungen zur Regierungsbildung generell aus? Lassen sich hier zentrale Einflussfaktoren bereits identifizieren? Abseits der Bündnisfrage dürften nach Schließung der Wahllokale einige solcher Rahmenpunkte in den Mittelpunkt rücken. Sie sollen hier kurz umrissen und vor dem Hintergrund der bisher als wahrscheinlich erachteten Ausgänge präzisiert werden.

Erstens: Das reale Ausmaß der Abstände

Der maßgebliche Faktor zur Regierungsbildung liegt wie eh und je in den Stimmenanteilen der Parteien. Jede Partei, die auf Platz eins steht, formuliert in der parlamentarischen Demokratie üblicherweise auch als erstes den Machtanspruch. Wird – wie zumindest auf Bundesebene praktisch nie der Fall – keine absolute Mehrheit erreicht, müssen Parteien koalieren. Schon die Definition des „Wahlsiegers“ betrifft im Prinzip nur die best- bzw. höchstplatzierte Partei; selbst dann, wenn andere Parteien Stimmen hinzugewonnen haben.

Könnten potenziell auch Mehrheiten gegen den Erstplatzierten gebildet werden, dürfte es darauf ankommen, wie groß der Abstand zwischen den Parteien ausfällt.

Das gilt mindestens solange wie es dem Erstplatzierten gelingt, Sondierungs- und Koalitionsgespräche einem erfolgreichen Abschluss zuzuführen. Es ist jedoch möglich, dass selbst Wochen oder Monate nach der Wahl als Wahlsieger am Ende ein anderer gilt als der, der es am Wahlabend zu sein schien. Gelingt der stärksten Partei keine Koalitionsbildung, kann sie eine Minderheitsregierung mit wechselnden Partnern anstreben. Oder die zweit- oder drittstärksten Parteien versuchen nun selbst eine Regierung zu bilden.

Wie müssten die Abstände am Wahlabend aussehen? Eine klare Grenze, wie weit eine stärkste Partei vorn liegen muss, um das exklusive Recht zur Regierungsbildung zu erhalten, gibt es nicht. Bei deutlichen Lagervorsprüngen stellt sich die Frage gar nicht. Sich nahestehende Parteien mit arithmetischer Bündnismehrheit treten umstandslos sofort in die Sondierung. Könnten jedoch potenziell auch Mehrheiten gegen den Erstplatzierten gebildet werden, dürfte es darauf ankommen, wie groß der Abstand zwischen den Parteien ausfällt. Zumindest eine kleine Differenz rund um ein oder zwei Prozente wird parallele Verhandlungen zwischen den Parteien noch nicht verhindern können.

Zweitens: Der Anspruch auf den Vortritt

Steht der Wahlsieger aber mit offensichtlich größerem Abstand fest, so werden nach Meinung vieler Beobachter die unterlegenen Parteien den Erstanspruch auch akzeptieren. Ganz entscheidend spielen hierbei Respektbekundungen, also gewissermaßen die exekutive Etikette, eine gewichtige Rolle. In einer parlamentarischen Demokratie ist es gute Übung am Wahlabend die eigene Niederlage einzuräumen und dem Sieger zu gratulieren.

Viel spricht dafür, dass eine deutlich vorn liegende Partei auch eine nicht zu unterschätzende symbolische Stärke auf die potenziellen Partner ausstrahlt.

Von diesem Protokoll kann man höchstens bei knappem Ausgang abweichen. Ein übermäßiger Machtanspruch würde andernfalls auch in den Medien kaum goutiert und die Verlierer sähen sich – allzumal in Trumpschen Zeiten – wenig hilfreichen Schlagzeilen ausgesetzt. Raffinierter kann es für die Unterlegenen daher sein, sich wenig später wieder anzubieten, sollten die Gespräche des Erstplatzierten schleppend verlaufen und bei den Verhandlungspartnern dazu führen, dass diese sich nach Alternativen umsehen. Generöses Zurückstehen und spätere Rückkehr ins Spiel dürften mit guter Presse belohnt werden.

Dennoch: Viel spricht dafür, dass eine deutlich vorn liegende Partei auch eine nicht zu unterschätzende symbolische Stärke auf die potenziellen Partner ausstrahlt. Es ist nun mal das ungeschriebene Gesetz, dass ein Wahlverlierer sich nicht so attraktiv präsentieren kann wie es die stärkste Kraft vermag. Potenzielle Partner prüfen mit ihren Spitzenkandidaten und Gremien, ob sie wirklich dem Kandidaten einer unterlegenen und womöglich stark geschwächten Partei ins Kanzleramt verhelfen wollen.

Drittens: Die plebiszitäre Stütze

Die diesjährige Bundestagswahl wird vor allem als ein Kampf um Köpfe beobachtet. Durch den Amtsverzicht der Noch-Kanzlerin wird die Wahl in unbekannter Weise personalisiert. Natürlich waren zahlreiche, vielleicht alle Bundestagswahlen maßgeblich auch personengetrieben. Allerdings gab es noch nie einen freiwilligen Abtritt des Kanzlers. Und nicht gleich drei zumindest zeitweise ernstzunehmende Interessenten. Wie in den letzten Monaten und Wochen zu sehen, wird den persönlichen Werten der drei infrage kommenden Kandidierenden eine hohe Bedeutung beigemessen.

Die darin zum Ausdruck gebrachten Sympathiebekenntnisse und Kompetenzvermutungen haben die politische Stimmung der vergangenen Zeit wohl erheblich geprägt. Profiteur all dessen ist, ausweislich aller Umfragen, der SPD-Kandidat Olaf Scholz. Das Nachsehen hatte hingegen Armin Laschet als Kandidat von CDU/CSU. Annalena Baerbock, die Kandidatin der Grünen, büßte ebenfalls an Popularität ein. Kurz vor der Wahl scheinen die entsprechenden Werte im Wesentlichen ohne große Veränderung.

Eine siegende Partei, die ihre Kandidatin oder ihren Kandidaten mit der offensichtlich größten Popularität stellte, würde auf jeden Fall alle Wege nutzen, diese Verbindung zu akzentuieren.

Welche Relevanz haben sie dann neben der eigentlichen Stimmverteilung am Wahlabend? Juristisch sind Popularitätswerte ohne Geltung. Es gibt keine Direkt- bzw. Volkswahl des Kanzlers. Verfassungs- und Wahlrecht kennen keine Beliebtheitswerte, kein Politbarometer, keine Kompetenzkriterien. Trotzdem wäre es ein Irrtum, wollte man ein emotional ergreifendes Ereignis wie die Parlamentswahl am Ende ausschließlich an Prozenten, losgelöst von den zuvor beworbenen Köpfen für das exekutive Spitzenamt, messen. Eine siegende Partei, die ihre Kandidatin oder ihren Kandidaten mit der offensichtlich größten Popularität stellte, würde auf jeden Fall alle Wege nutzen, diese Verbindung zu akzentuieren.

Man könnte hier auch von einer „kanzler-plebiszitären“ Ressource, einer zusätzlichen Machtstütze sprechen. Kandidatin oder Kandidat könnten darauf hinweisen, dass ihre oder seine Partei nicht nur die meisten Stimmen erhalten habe, sondern dass sie oder er auch sozusagen am ehesten der „Wunschkandidat“ des Volkes sei. Gerhard Schröder mag sich in der Berliner Runde 2005 geirrt haben, als er meinte, die Deutschen hätten sich klar für ihn als Kanzler ausgesprochen. Bei Olaf Scholz dürfte das im Falle eines Wahlsiegs schon anders aussehen. Würde ein unterlegener Armin Laschet die Kanzlerschaft beanspruchen, gäbe es nicht wenige öffentliche Stimmen, die ihn an seine Umfragewerte erinnerten.

Die Optik eines eigentlich informellen persönlichen Mandats, das den Wahlsieg der Partei gewissermaßen zusätzlich validiert, dürfte ein starkes Narrativ bilden.

Tatsächlich war nach früheren Wahlen mit größeren Abständen eine Kanzlerschaft auch vom zweiten Platz möglich. Dreimal zugunsten der SPD. Bei der Bundestagswahl 1976 trennten CDU/CSU und SPD satte 6 Prozent. Die unterlegene SPD regierte jedoch bereits in Koalition mit der FDP, die sie durch gemeinsame Mehrheit weiterhin fortsetzen wollte und konnte. Schon nach der Bundestagswahl 1969 trennten die führende Union und die unterlegene SPD immerhin über 3 Prozent. Dennoch bildeten bereits da SPD und FDP eine Regierung, weil ein solches Bündnis vor der Wahl angestrebt wurde. Zu bedenken sind in der derzeitigen Lage die Erwartungsrahmungen, das heißt auch und besonders die möglichen größeren Prozentverluste bei der Union. Bei der Wahl 1969 hatte die Union lediglich 1,5 Prozent eingebüßt, 1976 hatte sie bereits wieder 3,7 Prozent hinzugewonnen. Die SPD verlor rund 3 Prozente. Die Unionsparteien erfuhren insofern beide Male gegenüber heute eine komfortable Zustimmung. Bei der Bundestagswahl 1980 verlor die Union 4,1 Prozent, lag aber immer noch über ein Prozent vor der SPD, die fast nichts hinzugewinnen konnte. Doch noch hielt die Koalition von SPD und FDP und sicherte damit dem SPD-Kanzler die Mehrheit. Insgesamt lag die SPD lediglich nach den Wahlen 1972, 1998 und 2002 auf Platz eins vor der Union. Anders als die SPD stellte die Union noch bei keiner Wahl vom zweiten Platz den Kanzler.

So oder so: Die Optik eines eigentlich informellen persönlichen Mandats, das den Wahlsieg der Partei gewissermaßen zusätzlich validiert, dürfte ein starkes Narrativ bilden, das selbst bei nur knappem Vorsprung, in der öffentlichen Debatte schnell verfängt. Schließlich kann man eine über Monate aufgebaute Erwartung, wer als die oder der „Beste“ in den Augen vieler gehandelt wird, nach der Wahl nicht einfach ignorieren oder abschalten.

Viertens: Die Eigendynamik der Stimmungslage

Dieser Wahlkampf dürfte wie keiner zuvor das heutige Potenzial der ausgeprägten Wählermobilität und des beschleunigten Stimmungswandels offenbart haben. Sicher, die besonderen personellen Umstände dieses Regierungswechsels mögen dazu beigetragen haben. Zu pessimistisch eingeschätzt wurde der mögliche Aufholerfolg des SPD-Vizekanzlers, der offenbar über einen indirekten Amtsbonus verfügt. Viele Leitmedien und die noch regierende CDU/CSU gingen entweder von einem klaren Sieg des Unionskandidaten aus oder von einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Kandidatin der Grünen.

Warum sollte diese bemerkenswerte Dynamik am Wahlabend enden? Sehr wahrscheinlich werden die Parteien und ihre Spitzen auf der Basis der finalen Zahlen ihre Einschätzungen der Lage aktualisieren. Wem es gestern noch an Fantasie für eine bestimmte Zusammenarbeit fehlte, der findet sich jetzt vielleicht mit den Fakten ab. Wer hingegen gestern noch für alle Seiten offen bleiben wollte, kann sich nun vielleicht mit einer geklärten Machtoption anfreunden und vorherige Ideen aufgeben.

Der Wahlabend bildet eine Zäsur, die bei den Parteien und ihren Spitzen zu Distanznahmen gegenüber vorherigem Verhalten führt.

Kurz gesagt können die Parteien bislang erwogene Möglichkeiten verwerfen, neue hingegen als wahrscheinlich ansehen und sie bevorzugt verfolgen. Mit dem Wahlergebnis endet ja auch der Wahlkampf mit seinem typischen Gepolter. Bisher taktisch kommunizierte Verweigerungen und künstlich hoch gezogene Hürden verlieren allmählich an Würze. Es beginnt der Übergang in die Gesprächsbereitschaft und die Beteiligten positionieren sich vor den Kameras, um ihre vernünftige Herangehensweise unter Beweis zu stellen und sich als umsichtige Moderatoren zu verkaufen.

Es wäre zu hart, wollte man an Adenauers Unbekümmertheit gegenüber dem Geschwätz von gestern erinnern. Aber richtig ist, dass der Wahlabend eine Zäsur bildet, die zu Distanznahmen gegenüber vorherigem Verhalten führt – beim einen mehr, beim anderen weniger.

Fünftens: Die Selbstsortierung in den Parteien

Ein schwieriger, wenn auch einflussreicher Faktor besteht mindestens noch in den Selbstbeschäftigungen, die nach dem Ergebnis in den Parteien einsetzen werden. Große Prozentverluste führen zu unberechenbaren Auseinandersetzungen und Häutungen, die zum Schluss den Austausch nicht nur einzelner Köpfe, sondern ganzer Parteispitzen zur Folge haben können. Moderate Verluste und erst recht Zugewinne können die Personen hingegen im Amt halten und bestenfalls sogar ihre Rolle nur stärken.

Zugespitzt bedeutet dies, dass schon in den eigenen Reihen der Parteien Fakten geschaffen werden hinsichtlich der Frage, ob und wie Regierungsbeteiligungen zustande kommen können oder ausscheiden. Da der Union derzeit die größten Verluste drohen, sie aber zugleich die nächste Regierung anführen will, werden hier die spannendsten Entwicklungen zu erwarten sein.

Große Prozentverluste führen zu unberechenbaren Auseinandersetzungen und Häutungen, die zum Schluss den Austausch nicht nur einzelner Köpfe, sondern ganzer Parteispitzen zur Folge haben können.

Als konfliktreich erweist sich bekanntermaßen die Schwesterkonstellation der Partei. Die CSU hat mit Nachdruck, sollte die Union nicht mehr stärkste Kraft im neuen Bundestag werden, ihr Desinteresse bis zur Ablehnung gegenüber einer Regierungsbeteiligung betont. Das Kanzleramt ist im Falle einer Wahlniederlage für die bayerische Schwesterpartei von nachrangiger Bedeutung. Der Ministerpräsident Markus Söder dürfte seine eigene, von der CDU ausgeschlagene, Kanzlerkandidatur als vertane Chance werten und viel daran setzen, erst einmal den eigenen Status zu sichern und ggf. spätere Pläne dahingehend zu verfolgen.

Schließlich gilt auch die Weisheit „Nach der Wahl ist vor der Wahl“. Eine Partei, die große Verluste zu verkraften hat, lässt Personen aus der zweiten und dritten Reihe in den Vordergrund rücken, die eigene Ambitionen für den künftigen Kurs hegen und sich von den bestehenden zentralen Figuren absetzen. Hier kann die Oppositionsrolle auch eine Gelegenheit bieten, mit einiger Beinfreiheit die neue Regierung zu kritisieren und durch gezielte Kampagnen für kommende, stets auch symbolträchtige Landtagswahlen sowie die nächste Bundestagswahl Stimmen zurückzugewinnen. Zugleich kann in der Opposition der programmatische Kurs redefiniert werden.

Fazit

Wie auch immer das Rennen ausgehen mag – keiner der Faktoren kann losgelöst von den anderen verstanden werden, aber praktisch jeder für sich kann bereits zu zeitnahen Klärungen führen, wer als nächste oder nächster über die besseren Bündnisoptionen verfügt und voraussichtlich in das Kanzleramt einziehen wird. Man mag derzeit die Vermutung hegen, dass dies Wochen, wenn nicht Monate dauert. Hoffentlich ist dann keiner erschrocken, wenn auf einmal schon zur sonntagabendlichen „Tatort“-Zeit im Ersten (diesmal aber zur „Berliner Runde“) der ganze Wahlkrimi ein vorzeitiges Ende gefunden hat. Frei nach dem leicht variierten Motto: Erstens kommt es anders, und zweitens schneller als man denkt. Müsste man nicht zumindest das in diesem Jahr verstanden haben?

Ein ausführliches Interview zur Wahl mit Marcel Schütz ist hier erschienen.

Veröffentlicht von Marcel Schütz

Marcel Schütz ist Professor für Organisation an der Northern Business School in Hamburg. Er unterrichtet daneben an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

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