„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (Hegel 2000: 10).
Ungleichheit wird in der Systemtheorie von Niklas Luhmann eher am Rande behandelt. Dieser schließt an die Gedanken Durkheims (1893) an und verortet die stratifizierte Gesellschaft in der vormoderne, zwischen segmentären Gesellschaften und funktional differenzierter Weltgesellschaft. Er geht dabei von einem Primat der funktionalen Differenzierung aus, meint also, dass horizontale Differenzierung (Arbeitsteilung) für die Beschreibung unserer heutigen Gesellschaft wichtiger ist als vertikale (Ungleichheit).
Konservatismus
Man kann den Verdacht haben, dass sich die spärliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Ungleichheit bei Luhmann aus der Kontroverse mit der Frankfurter Schule und der kritischen Theorie erklären lässt. Er grenzt sich von Wissenschaftlern ab, die Politik unter dem Gesichtspunkt von Herrschaft zu analysieren versuchen und unterstellt ihnen, dass sie „[…] Selektion als Repression interpretieren“ (Luhmann 2019: 279). Marxistische Literatur findet er genauso „langweilig“ wie das Parteiprogramm der CDU (Luhmann 1977: 167). Ist klar, dass einer das so sieht, der den Export von Technologien mit Entwicklungshilfe gleichsetzt (ebd.).
Auch für André Kieserling ist die Theorie der Ungleichheit nur noch ein Überbleibsel der Vergangenheit. Heute erlaube sie es, „[…] den Versagern, sich von ihrem Schicksal zu distanzieren: Dass ihnen der Aufstieg misslang, muss nicht an ihrem Verhalten, es kann auch an den ungerechten Verhältnissen liegen“ (Kieserling F.A.S. 20.01.2022). Ihm zufolge könnten die feministischen und antirassistischen Bewegungen also direkt wieder nach Hause gehen, denn ihr Frust wurzelt gar nicht in einer tieferliegenden strukturellen Diskriminierung, sie haben lediglich im Leben versagt und suchen verzweifelt nach einer Erklärung dafür.
Bei den angeführten Zitaten handelt es sich offensichtlich um Meinungen. Dass von genau diesen Wissenschaftlern andere Theorierichtungen immer wieder als „normativ“ kritisiert werden, während man doch selbst „funktional“ denkt, ist überraschend. Denn der konservative Bias der Systemtheorie verleitet selbst zu einer Legitimation des Bestehenden und demotiviert gesellschaftskritische Ambitionen. Diese Pseudoobjektivität verleitet dazu, anderen Richtungen zu unterstellen, sie hätten die Gesellschaft nicht richtig verstanden oder würden noch mit einem Staatsverständnis aus dem 19. Jahrhundert arbeiten (vgl. Luhmann 2019: 351). Dabei sind politische Meinungen nicht nur Randphänomene in den Schriften Luhmanns, sie sind maßgeblich für die zentrale Theorieentscheidung, von einem Primat der funktionalen Differenzierung auszugehen (vgl. Goncalves 2016). Systemtheoretiker machen sich selbst diskursunfähig, wenn sie die in der Gesellschaftstheorie eingebauten Meinungen gar nicht als solche erkennen.
Formalismus
Luhmann will ein für alle Mal die Grenze ziehen zwischen Psyche und Gesellschaft. Am Anfang seiner Theoriebildung bestanden Systeme noch aus Erwartungen. Diese finden sich aber in den Köpfen der beteiligten Akteure. Deshalb stellt er im Laufe der Zeit seine Begriffe um. Das konstitutive Merkmal der Gesellschaft ist dann Kommunikation. Erwartungen werden in kommunikativen Ereignissen laufend aktualisiert. Die Erwartungsstrukturen, die nicht aktualisiert werden, lösen sich irgendwann auf. Dadurch wird der Akteur vollständig aus dem sozialen System gebannt. Analog wanderte Luhmanns Forschungsinteresse von gegenstandsbezogenen Fragen hin zu Problemen der Theoriekonstruktion. Am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere nutzte Luhmann die Systemtheorie, um die Gesellschaft zu erklären, später nutzte er die Gesellschaft, um die Systemtheorie zu erklären. Das können Gründe sein, wie der Text „Frauen, Männer und George Spencer Brown“ (Luhmann 1988) zustande gekommen ist, der viele Umwege mithilfe unnötiger Begriffsakrobatik macht, um dann am Ende zielsicher bei den immergleichen konservativen Parolen zu landen.
Durch das Primat der funktionalen Differenzierung brauche es ihm zufolge keine Repräsentation durch den Mann mehr, sodass alle Positionen gleichermaßen umkämpft sind. Die Vorstellung, „da[ss] gesellschaftliche Sinnzusammenhänge eher an die Position des Mannes als an die Position der Frau anknüpfen […] verliert an Plausibilität“ (Luhmann 1988: 61).[1] So kommt ein Denken zustande, bei dem der Fokus auf den formalen Vorgaben liegt, die offiziell alle Menschen gleich behandeln. Jedoch können sich sexistische Stereotype auch reproduzieren, ohne dass dies durch explizite Äußerungen geschieht. Frauen können immer in bestimmten Kontexten erwähnt werden oder übermäßig mit Verweis auf die eigentlich gleichen Regeln für alle sanktioniert werden. Auf Gleichheit vor dem Gesetz oder gleiche Bedingungen innerhalb wissenschaftlicher Verfahren hinzuweisen, greift an dieser Stelle zu kurz.
Genau darin liegt nämlich das Problem: Wenn Ungleiches gleich behandelt wird, dann reproduziert sich die Ungleichheit. Das zeigt sich besonders im Bereich der Bildung: „indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit“ (Bourdieu 2001: 39). Empirische Studien zur Bildungsungleichheit, wie die jährliche IGLU-Studie, die die Leistungen von Grundschulkindern untersucht, zeigen das. Zum Beispiel haben Kinder mit mindestens einem Akademiker als Elternteil eine 3-Mal höhere Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung zu bekommen als Kinder ohne Akademikereltern. Und zwar bei genau den gleichen Lese- und Rechtschreibleistungen (Hußmann et al. 2016: 244).
Pierre Bourdieu (1987: 286ff.) hat das mit dem Begriff der strukturellen Homologien beschrieben und vereint so vertikale und horizontale Differenzierung. Die einzelnen Teilbereiche der Gesellschaft funktionieren zwar nach einer eigenen Logik, allerdings gibt es überall ähnliche Orientierungen nach oben und unten. Personen können auch in einem anderen Teil der Gesellschaft von der Höhe der übrigen Positionen profitieren (Petzke 2009: 515). Um die Verhältnisse zu verändern, muss man Ungleichheiten durch ungleiche Behandlung in die andere Richtung ausgleichen. So werden latente diskriminierende Strukturen durch formal-diskriminierende Strukturen ausgeglichen und es hat für manche den Anschein, als ob objektive Verfahren jetzt durch neue Diskriminierung zerstört werden ( z. B. für Hirschauer 2016: 130).
Ansätze
Luhmann konstruiert seine Theorie anhand von drei Ebenen, die er als Interaktion, Organisation und Gesellschaft bezeichnet. Gesellschaft meint bei ihm immer Weltgesellschaft. Das liegt daran, dass er diese anhand der Möglichkeiten von Kommunikation definiert. Jeder auf der Welt hat heute theoretisch die Möglichkeit, mit jedem zu kommunizieren, also gibt es nur eine Gesellschaft. Durch diese Beschreibung ziehen sich auch die Funktionssysteme, also Wirtschaft, Wissenschaft, Politik usw. über die gesamte Welt. Ihm fällt dabei allerdings schon auf, dass es gewisse Bereiche gibt, die scheinbar mehr Einfluss auf das Weltgeschehen ausüben als andere. Vielleicht, um eine zu vertikale Formulierung zu umgehen, die er nur für die Feudalgesellschaften vorsieht, nutzt er für dieses Ungleichgewicht die Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie (Luhmann 2005: 249). Dabei sind wir, die aufgeklärten und fortschrittlichen Länder des Westens, natürlich im Zentrum.
Eine zweite Unterscheidung ist die nach Inklusion und Exklusion (Luhmann 1995). Dabei betont Luhmann zunächst, dass es eigentlich eine Totalinklusion in die Funktionssysteme gibt. Am Beispiel von sehr armen Menschen in Entwicklungsländern, die nicht einmal einen Pass haben, entwickelt Luhmann dann allerdings einen Gedanken, der darüber hinausgeht. Ihm zufolge scheint es, trotz der eigentlichen Totalinklusion, Schwierigkeiten zu geben, wenn man erstmal aus allen Funktionssystemen gefallen ist. Wenn jemand, der keinen Pass hat, ein Kind zur Welt bringt, das auch keinen Pass hat, dann hat dieses Kind Schwierigkeiten, in die Schule zu gehen. Wenn es nicht in die Schule gehen kann, wird es später keinen Job bekommen, es hat kein Geld, kann sich auch keine Wohnung besorgen und kann auch nicht wählen gehen. Die Exklusion aus vielen Funktionssystemen, so schließt er, scheint auch eine Exklusion aus anderen zur Folge zu haben (Luhmann 2005: 276). Dass diese Beschreibung der Totalexklusion von Menschen, die in Favelas leben, völlig stereotypisiert ist und wenig mit der Realität zu tun hat, zeigt die Elefenbeinturmmentalität, die vor allem in den späteren Texten Luhmanns immer wieder durchscheint (Goncalves 2016: 67f.).
Wir brauchen eine kritische Systemtheorie!
Die Systemtheorie verliert immer mehr an Relevanz. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich Systemtheoretiker nicht an den aktuell prominenten gesellschaftspolitischen Diskursen beteiligen können, die vor allem emanzipatorische Themen haben und sich mit struktureller Diskriminierung auseinandersetzen. Man kann nur immer wieder darauf hinweisen, wie naiv und moralistisch diese Diskurse geführt werden und dass die Betroffenen einfach nicht mit den Folgen der funktionalen Differenzierung klarkommen. Das liegt an der Bauart einer Gesellschaftstheorie, deren Verfechter das Primat der funktionalen Differenzierung als notwendige Beschreibung anstatt als ideologisch motivierte Entscheidung begreifen. Es gibt fast keine systematischen Versuche, Ungleichheit einzubauen. Die wenigen Ausnahmen, die existieren (z. B. Möller & Siri 2016, Pasero & Weinbach 2003) werden nicht ernst genommen und finden kaum Anschluss in der wissenschaftlichen Debatte.
Literatur:
Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg: VSA-Verlag.
Durkheim, É. (1893) De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures. Paris: Félix Alcan.
Goncalves, G. L. (2016) Funktionale Differenzierung als Ideologie. Von Niklas Luhmann zur postkolonialen Kritik. In Möller, K. & Siri, J. (hrsg.) Systemtheorie und Gesellschaftskritik. Perspektiven der kritischen Systemtheorie. Bielefeld: transcript Verlag, 57-75.
Hegel, G. W. F. (2000) [1820] Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hirschauer, S. (2016) Der Diskriminierungsdiskurs und das Kavaliersmodell universitärer Frauenförderung. In Soziale Welt 67 (2), 119-135.
Hußmann et al. (2016) IGLU. Lesekompetenzen von Grundschulkindern im internationalen Vergleich. Münster, New York: Waxmann.
Kieserling, A. (2022) „Wie man möglichst sanft enttäuscht.“ In F.A.S. 20.01.2022.
Luhmann, N. (1977): Probleme eines Parteiprogramms. In: Baier, Horst (Hrsg.): Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren von Helmut Schelsky, Opladen: Westdeutscher Verlag, 167-181.
Luhmann, N. (1988) Frauen, Männer und George Spencer Brown. In Zeitschrift für Soziologie 17 (1), 47-71.
Luhmann, Niklas (1995): Inklusion und Exklusion. In: ders., Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdt. Verlag, 237-264.
Luhmann, N. (2005) Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Luhmann, N. (2019) [1972]: Politikbegriffe und die Politisierung der Verwaltung. In: ders. Schriften zur Organisation. Bd. 4: Reform und Beratung. Wiesbaden: Springer VS, 273-291.
Luhmann, N. (2019) [2000]: Politische Organisationen. In: ders. Schriften zur Organisation. Bd. 3: Gesellschaftliche Differenzierung. Wiesbaden: Springer VS, 331-369.
Möller, K. & Siri, J. (2016) Systemtheorie und Gesellschaftskritik. Bielefeld: transcript Verlag.
Pasero, U. & Weinbach, C. (2003) Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Petzke, M. (2009) Hat Bourdieu wirklich so wenig ‚Klasse‘? Replik auf André Kieserlings Aufsatz „Felder und Klassen: Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft“. In Zeitschrift für Soziologie 38 (6), 514-520.
[1] Für systemtheoretische Gegenpositionen siehe Pasero & Weinbach 2003
(Bild: Send me adrift.)
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