Rund um die Vorstellung der neuen Spielzeit 2024/25 des Hamburger Thalia Theaters kam es jüngst zu einem kleinen Aufschrei: Der Verein „Pro Quote Bühne“ beklagt die Auswahl der Inszenierenden mit dem Verweis darauf, dass in der neuen Spielzeit nur eine Frau* inszeniere und fordert einen Boykott.[1] Auf dem Portal nachtkritik.de wurde in der Folge ein Streitgespräch zwischen dem scheidenden Thalia-Intendanten Joachim Lux und Kerstin Steeb vom Verein „Pro Quote Bühne“ veröffentlicht.[2] Am Stillstand der Konversation lässt sich ein grundsätzlicher Widerspruch der deutschen Theaterlandschaft ablesen.
Die Positionen
„Wir haben mit unserem Boykott-Aufruf dem Frust darüber, dass zu wenige Frauen* bzw. FLINTA* Personen an Ihrem Haus inszenieren, Luft gemacht.“, sagt Kerstin Streeb, die selbst in der Theaterpädagogik des Thalia Theaters tätig ist. „Was wir möchten, ist, dass sich ein anderes Tempo einstellt, und dass Menschen, die die Macht und Verantwortung haben, Entscheidungen zu treffen, den Punkt der Geschlechtergerechtigkeit mitberücksichtigen.“
Joachim Lux hält dagegen: „Ich würde nie selbstgerecht behaupten, dass alles in Ordnung ist. Wir hatten schon Spielzeiten, die ausgewogener waren. (…) Das [Geschlechterverhältnis] war damals nicht das Thema, sondern ist – Gott sei Dank! – im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden. Der zweite Punkt: Diese letzte Spielzeit ist ein Ergebnis aus Ensemblewünschen und künstlerischen Kontinuitäten, die uns wichtig waren und sind.“ Er beklagt, dass es im Vorhinein keine Gesprächsangebote gegeben habe und gleich der Boykott-Aufruf erfolgt sei.
Beide einigen sich nach einer Diskussion der Zahlen bei den Regieführenden[3] und anderen Mitarbeiter:innen des Thalia-Theaters (375, davon 183 Frauen) darauf, dass das Gespräch eine gute Idee war und es bei der Quote „Luft nach oben“ gebe – so weit, so unbefriedigend. Schließlich kann weder das eine noch das andere ernsthaft bezweifelt werden. Das soll auch hier nicht geschehen: Zweifellos ist eine diverse Zusammensetzung der Regieführenden in Bezug auf Gender, Herkunft, Alter, Hautfarbe, Bildungshintergrund und in weiteren Dimensionen wünschenswert und auch zivilisierte Streitgespräche sind immer eine gute Idee. Doch wie kommt mehr Bewegung in die festgefahrene Konversation „Kunst vs. Quote“?
Eine kleine Soziologie der Personalwahl an deutschen Theatern
Wenn über die Auswahl von Regisseur:innen an einem öffentlichen Theater wie dem Thalia diskutiert wird, muss man sich vergegenwärtigen, dass es hier in erster Linie um die Personalwahl einer Organisation geht. Neben Programmen (z.B. einem Programm für Theaterpädagogik mit vorgesehenen Workshops) und Kommunikationswegen (z.B. der Unterscheidung von künstlerischen und technischen Bereichen) ist das Personaleine zentrale Prämisse für organisationale Entscheidungen.[4] Für Theater kommt nun eine Besonderheit hinzu – sie richten sich am Kunstsystem aus, in ihnen wird Kunst hergestellt.[5] Charakteristisch für das Kunstsystem ist eine verhältnismäßig starke Orientierung an Personen.[6] Wenn wir an Kunst denken, fallen uns viele Künstler:innen ein, auch beim politischen System denken wir noch an zahlreiche Politiker:innen, aber beim Gesundheits- oder Erziehungssystem fällt es schon erheblich schwerer, zentrale Personen auszumachen. Kunstorganisationen, die an sich schon Seltenheitswert haben, müssen herausgehobene Persönlichkeiten der Kunst engagieren, um als künstlerisch relevant wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig lassen sich für die Eignung einer Person kaum andere, objektivierbare Kriterien finden – der Geschmack regiert.
Die Theatersoziologie der letzten Jahre betont immer wieder die Bedeutung personaler Netzwerke in der Theaterlandschaft.[7] Und tatsächlich: Im Hinblick auf die oben erwähnten Entscheidungsprämissen wird auffällig, dass Theater ihre Kunst kaum durch Programmierung determinieren. Kunstwerke entziehen sich in der Rezeption, aber vor allem auch in der Herstellung einem rein an Prinzipien orientierten Zugriff.[8]
Vor dem Probenstart ist es schwerlich möglich eine Liste mit allen nötigen Formen zu machen, die dann nur noch beschafft werden müssen. Für Requisiten mag dies noch funktionieren, aber spätestens bei der Sprache und Bewegung der Darstellenden muss eben probiert werden, bis es passt. Diese Interaktivität[9] der Probenprozesse wird umso einfacher, je besser man sich kennt – Bekanntschaft ist ein wesentlicher Faktor in der Effektivität und Zielgenauigkeit der inszenierenden Arbeit.
Während Wirtschaftsunternehmen mit Blick auf die Zahlen auch liebgewonnene Kooperationen fallenlassen, gibt es dazu bei Theatern kaum organisationale Anlässe. Der wahrscheinlichste ist das Zerwürfnis im Streit oder der Skandal[10]. Was bedeuten diese soziologischen Erkenntnisse nun für Konversationen über Quoten bei Regisseur:innen?
Persönliche Netzwerke als Tabu
Trotz der immensen Bedeutung des Themas kommen Joachim Lux und Kerstin Steeb nur ganz vereinzelt auf die konkreten Modi der Personalwahl zu sprechen. Joachim Lux betont wolkig: „Ein Spielplan entsteht aus Prozessen“ und spricht von „künstlerischen Kontinuitäten“. Kerstin Streeb will über den „Schwellenabbau einer führenden Person gegenüber den Mitarbeiter:innen sprechen.“ Sie sei schließlich nur freiberuflich am Thalia tätig.
Beide scheinen Interesse haben, gerade nicht über konkreten Prozesse der Personalwahl zu sprechen – der eine tritt die Flucht nach vorn zum Fokus der Kunst gegenüber der „Statistik“ an und die andere wendet sich lieber an eine per Pressemitteilung adressierbare Öffentlichkeit als an den Chef.
Der Elefant im Raum bleibt das persönliche Netzwerk, das vielen künstlerisch Beschäftigten zu ihren Positionen und Engagement verhilft und auch bei der Auswahl von Regisseur:innen nicht wegzudenken ist.[11] Netzwerke dieser Art arbeiten einer quotierten Personalwahl nach formalem Programm entgegen, denn wer kann schon von sich behaupten, seine liebgewonnenen Arbeitskolleg:innen streng paritätisch auszuwählen? Besonders Intendantinnen und Intendanten genießen hier als künstlerische Leiter riesige Freiräume, die der Kunst zugutekommen können, aber nicht müssen. Wie oben bereits erwähnt, macht das Kunstsystem den Personenfokus wahrscheinlich und attraktiv: Der städtische Träger hat Interesse an einer gut vernetzten Intendanz und diese hat ein Interesse an einem ihr schon bekannten (und möglichst prominenten) Regie-Team und Ensemble. Der Erfolg des Thalia-Theaters in den letzten Jahren kann sicherlich auch auf gute Vernetzung zurückgeführt werden. Nichtsdestotrotz bleibt dieser Faktor weitgehend ein Tabu in der Diskussion.[12] Dies kann auch damit zu tun haben, dass dieser Form der Personalwahl schwer beizukommen ist: Besetzt man den Posten der Intendanz schlichtweg mit einer anderen, „diverseren“ Person hat man nicht unbedingt mehr Diversität beim Personal, sondern in erster Linie das persönliche Netzwerk der neuen Person – und damit neue Ungleichheiten – zu erwarten.
Freilich: Eine so geführte Argumentation lässt sich als Apologie des status quo abtun. Wer jedoch ernsthaft an der Verbesserung der Verhältnisse arbeiten will, bekommt das Gewicht persönlicher Netzwerke zu spüren. Der Streit am Thalia Theater macht deutlich: Es ist möglicherweise an der Zeit, zu genau diesem Thema ins Gespräch zu kommen.
Referenzen
[1] Pro Quote Hamburg kritisiert Thalia Theater Hamburg, 2024 (26. April): nachtkritik.de, https://nachtkritik.de/meldungen/pro-quote-hamburg-kritisiert-thalia-theater-hamburg (letzter Abruf am 13.05.2024).
[2] Siehe Ullmann, Katrin, 2024 (8. Mai): „Bitte macht was!“ Frauenquote & Spielpan – Gespräch mit Regisseurin und Pro-Quote-Vorständin Kerstin Steeb & Thalia-Intendant Joachim Lux. nachtkritik.de, https://www.nachtkritik.de/portraet-reportage/frauenquote-spielpan-ein-interview-mit-regisseurin-kerstin-steeb-und-thalia-intendant-joachim-lux (letzter Abruf am 13.05.2024).
[3] Auch die genaue Zusammensetzung der Regieführenden ist im Gespräch Gegenstand von Debatten – die offizielle Ankündigung des Thalia-Theaters findet sich unter https://www.thalia-theater.de/f/e/Presse%2024%2625/Pressematerialien%20Spielzeit%202024%262025.pdf (letzter Abruf am 13.05.2024).
[4] Siehe hierzu zentral Luhmann, N., 2000: Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 225ff.
[5] Näheres zur Bedeutung dieser Zuordnung z.B. bei Fuchs, P., 1993: Moderne Kommunikation: zur Theorie des operativen Displacements. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[6] Zilcher, Oliver, 2014: Evolutionstheater – Theaterevolution zwischen der Organisation künstlerischer Produktion und der Beobachtung durch die massenmediale Theaterkritik. Bielefeld, Diss., S. 3, 34.
[7] Siehe nur beispielhaft Schmidt, T., 2019: Macht und Struktur im Theater: Asymmetrien der Macht. Wiesbaden [Heidelberg]: Springer VS., S. 10.; Zilcher (2014), S. 68f.; Canyürek, Ö., 2022: Cultural diversity in motion: rethinking cultural policy and performing arts in an intercultural society. Bielefeld: transcript., S, 96.
[8] Zur Widersprüchlichkeit zwischen Zweckrationalität und Kunst, bzw. dem Schönen gibt es eine lange kunsttheoretische Diskussion. Die Idee findet sich sowohl bei Bourdieu, Pierre, 1997: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, S. 307–336 in: J. Gerhards (Hrsg.), Soziologie der Kunst: Produzenten, Vermittler und Rezipienten. Opladen: Westdeutscher Verl als auch bei Adorno, T.W., 2017: Ästhetik: 1958-59. (E. Ortland, Hrsg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 428.
[9] Dazu Zilcher (2014), S. 75f.
[10] Siehe dazu z.B. prominent die „Hundekotattacke“ in Hannover – die in Jena nun wiederum selbst Thema eines Theaterstücks geworden ist.
[11] Vgl. Zilcher 2014, S. 68f., 95.
[12] Ausnahmen wie die in einem Interview mit Frank Castorf in Theater heute (2004), 8/9, S. 6-7 bestätigen die Regel.
Stabil! Danke für den Artikel
Danke für den sehr gelungenen und angenehm nüchternen Versuch kulturpolitische Diskussionen „von der Seitenlinie“ zu beobachten und dadurch notwendige Reflexionspotenziale freizulegen!