Familienunternehmen – Ein hartnäckiger Mythos und seine Funktion für die Darstellung von Organisationen

„[…] die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

(Hegel 2009 [1820]: 16)

Die Entzauberung der Welt hätte schon ihr Ende nehmen können, als namenhafte Wissenschaftler herausfanden, dass es Gott nicht gibt (Nietzsche 2013 [1887]: 135). Doch damit gaben sie sich nicht zufrieden. Später zeigten sie uns auch noch, dass Filterblasen im Internet nicht existieren (Törnberg 2022) und, als wäre das noch nicht genug gewesen, sie nahmen uns sogar die Generationen X, Y und Z (Schröder 2018). Solche Enthüllungen erzeugen oft starke Verwunderung. Denn, sobald man einen Begriff von etwas hat, meint man es auf einmal auch überall beobachten zu können. Erwartungen strukturieren die Wahrnehmung (Weick 1995: 223). Wer einen Hammer in der Hand hält, für den sieht jedes Problem aus wie ein Nagel. Und wer eine familientherapeutische Ausbildung im Kopf hat, für den sieht jedes Entscheidungsproblem aus wie ein Vater-Sohn-Konflikt.

Der Grund dafür, dass solche „Urban Legends“ entstehen, liegt darin, dass Menschen permanent versuchen, die Gesellschaft, in der sie leben, zu beschreiben und dadurch besser zu verstehen. So entstehen laufend Geschichten, die sich die Gesellschaft über sich selbst erzählt. Man kann diese Geschichten von der Differenzierung der Gesellschaft unterscheiden, die ihre grundlegende Funktionsweise ausmacht. Luhmann nennt letzteres Gesellschaftsstruktur und ersteres Semantik. Die Semantik hinkt dabei immer der Struktur hinterher (Schützeichel 2018: 263). Es ist wie in der Philosophie, die Phänomene erst dann richtig erkennen kann, wenn sie schon fast wieder verschwunden sind. Und das Phänomen dieses Textes heißt „Familienunternehmen“.

Das Problem der Definition von Familienunternehmen

Nach einer geläufigen Definition sind etwa 90% der Unternehmen in Deutschland Familienunternehmen, wie die folgende Grafik zeigt:

 

(Quelle: Stiftung Familienunternehmen)

Die Definition dafür kommt von der „Stiftung Familienunternehmen“:

„Ein Unternehmen beliebiger Größe ist ein Familienunternehmen, wenn:

    sich die Mehrheit der Entscheidungsrechte im Besitz der natürlichen Person(en), die das Unternehmen gegründet hat/haben, der natürlichen Person(en), die das Gesellschaftskapital des Unternehmens erworben hat/haben oder im Besitz ihrer Ehepartner, Eltern, ihres Kindes oder der direkten Erben ihres Kindes befindet, und

    die Mehrheit der Entscheidungsrechte direkt oder indirekt besteht, und/oder

    mindestens ein Vertreter der Familie oder der Angehörigen offiziell an der Leitung bzw. Kontrolle des Unternehmens beteiligt ist.

Börsennotierte Unternehmen entsprechen der Definition eines Familienunternehmens, wenn die Person(en), die das Unternehmen gegründet oder das Gesellschaftskapital erworben hat/haben oder deren Familie(n) oder Nachfahren, aufgrund ihres Anteils am Gesellschaftskapital mindestens 25 Prozent der Entscheidungsrechte hält/halten.

Diese Definition umfasst auch Familienunternehmen, die die erste Generationsübertragung noch nicht vollzogen haben. Sie umfasst weiterhin Einzelunternehmer und Selbstständige, sofern eine rechtliche Einheit besteht, die übertragen werden kann.“

(Quelle: Stiftung Familienunternehmen https://www.familienunternehmen.de/de/news/definition-von-familienunternehmen, Abruf am 23.06.2024)

In der deutschen Sprache ist es einfach, Wortneuschöpfungen vorzunehmen. Sie regt deshalb zur Kreativität an. Eine Stehlampe ist eine Lampe, die steht. Ein Kopfhörer ist ein Hörer, den man auf dem Kopf trägt. Beide Begriffe zeigen: Man kann einfach zwei Substantive nehmen, die in einer beliebigen Beziehung zueinander stehen, und sie dann zu einem neuen Substantiv vereinen. Fragt man sich also, was ein Familienunternehmen ausmacht, muss man diese Beziehung klären.

Es gibt, das steht auch auf der Website der oben erwähnten Stiftung, keine einheitliche Definition von Familienunternehmen. Der obige Versuch einer solchen deutet allerdings eines schon an: Die Beziehung im vorliegenden Fall liegt darin, dass eine Familie wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen des Unternehmens hat. Hier gibt es bereits das erste Problem: Wann kann man davon sprechen, dass eine Familie als solche Einfluss genommen hat und nicht etwa einzelne Mitglieder dieser Familie? Die Definition umfasst nämlich auch solche Unternehmen, bei denen die Hauptentscheidungsrechte beim Gründer liegen – selbst dann, wenn er gar keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat.

Was eine gute Definition außerdem braucht, sind spezifische Charakteristika, die alle Familienunternehmen teilen und sie von Nicht- Familienunternehmen unterscheiden. Manche Kategorien eigenen sich nämlich nicht zu einer Gegenüberstellung. Die Gender Studies arbeiten z.B. gerade an einer Dekonstruktion der Geschlechter und das nicht zu Unrecht. Die Unterschiede innerhalb der Gruppen der „Männer“ und der „Frauen“ sind größer als die durchschnittlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen.

Wer zeigen kann, was die Gruppe der 90 % gemeinsam von denen der restlichen 10 % unterscheidet, der hat wohl auch die Definition gerettet. Doch es erfordert sicherlich viel Fantasie, um einen Großkonzern mit 142,6 Milliarden Euro Umsatz wie BMW mit der kleinen Gaststätte um die Ecke gleichzusetzen. Beide fallen unter die Definition „Familienunternehmen“. Man müsste nun zeigen, inwiefern diese Organisationen durch Entscheidungen beeinflusst werden, die nicht nur von einzelnen Personen in der Rolle des Organisationsmitglieds, sondern auch in ihrer Rolle als Familienmitglied getroffen werden.

Der Idealtypus des Familienunternehmens – ein vormodernes Phänomen

Als nächstes will ich argumentieren, dass Familienunternehmen ihre Hochphase zu einer Zeit hatten, als es noch gar keine Familienunternehmen gab. Systemtheoretisch spricht man von der dunklen Zeit vor der funktionalen Differenzierung. Den Wendepunkt zwischen stratifizierter (geschichteter) und funktional Differenzierter (arbeitsteiliger) Gesellschaft macht man etwa an dem Wechsel vom 19. Ins 20. Jahrhundert fest. Davor waren Familien nicht nur Familien, sondern auch Kollektive ökonomischer Produktion (Apelt et al. 2017: 11).

Ein Beispiel für ein soziales Gebilde, das vor dieser Differenzierung existierte, nennt man in der Forschung „komplexe Familien“. Hier fungierte die Familie gleichzeitig als eine Arbeitsgruppe, die sowohl über Hierarchien als auch Arbeitsteilung verfügte (Laslett 2011, Waris 2002). Solche komplexen Familien, die ohne Zweifel ein lokal begrenztes Phänomen darstellen, zeigen einen Grenzfall der Organisierbarkeit von Familien. Die Gruppenkohäsion, die durch familiäre Bande aufrechterhalten wird, funktioniert ab einer gewissen Größe nicht mehr und führt zu Konflikten, die sich zwischen entfernten Verwandten abzeichnen (Waris 2002: 43).

Ein Beispiel für eine solche komplexe Familie zeigt die folgende Grafik, die entfernt an ein Organigramm erinnert:

(Quelle: Waris 2002: 44)

Das, was die moderne Gesellschaft zusammenhält, ist das, was sie auseinanderhält. Die Trennung von Haushalt und Betrieb, nicht nur räumlich, sondern auch personell, ermöglicht es, sich auf der Arbeit anders zu Verhalten als zuhause. Selbst dann, wenn die Werte, die man in einem System vertritt, im anderen ernste Krisen auslösen würden, kann man sich darauf verlassen, dass die eine Bezugsgruppe von der anderen nichts mitbekommt. Während der Vater seinem Sohn beibringt, dass er sich nächstes Mal nicht erwischen lassen soll, wenn er die Kaugummis vom Kiosk nebenan stiehlt, trichtert er am Montag, wenn er seine Polizeiuniform wieder anhat, dem Schulkind die Wichtigkeit der Gesetze ein, nachdem es über die rote Ampel gelaufen ist.

Natürlich gibt es auch heute Unternehmen, bei denen das Personal nahezu deckungsgleich mit den Familienmitgliedern ist. Man denke vor allem an kleine Gaststätten oder Restaurants, die von den Eltern geführt werden und bei denen die Kinder mithelfen. Hier zeigt sich allerdings ein wesentlicher Unterschied zur Vormoderne. Ein angestellter Sohn kann über seine Mutter folgenden Satz sagen: „Meine Mutter ist gleichzeitig auch meine Chefin“. Erst die funktionale Differenzierung macht es möglich, überhaupt zwischen Mutter und Chefin zu unterscheiden und hier eine Rollendifferenz zu sehen, mit der unterschiedliche Erwartungen verbunden sind. Man kann eine Semantik nutzen, die durch die Struktur der modernen Gesellschaft ermöglicht wird. Vor den Kunden kann die Mutter ihren Sohn zur Sau machen, wenn er die Bestellung verwechselt hat. Danach kann sie sich trotzdem noch für ihr hartes Eingreifen mit Verweis auf ihre Rolle entschuldigen und sich damit von ihrem vorherigen Verhalten distanzieren.

Familienunternehmen als Mythos

Warum der Verweis auf vormoderne Familien so wichtig ist, zeigt sich in der Art und Weise, wie Mitglieder von Organisationen selbst das familiäre an ihrer Organisation beschreiben. Denn hierbei verhärtet sich der Eindruck, dass eine Semantik aus vormodernen Zeiten sich ihren Weg in die PR- Maschine moderner Organisationen gebahnt hat.

Ich habe bei einem Vortrag eine Führungskraft aus der Öffentlichkeitsarbeit und ihren Praktikanten gefragt, woran man merkt, dass es sich bei ihrem Konzern mit 11.000 Beschäftigten weltweit um ein Familienunternehmen handelt. Sie verwies zunächst auf die „familiäre Kultur“ und darauf, dass es sich bei ihrem Unternehmen um kein Aktienunternehmen handle. Des Weiteren betonte sie die „Tradition“, die im Unternehmen besonders gewahrt werde.

Der Praktikant meinte, man habe das familiäre schon an der Ausschreibung seiner Stelle bemerkt. Es gebe viele „Benefits“ und man kümmere sich gut um die Praktikanten. Beim Unternehmen gebe es einen „familiären Zusammenhalt“. Alle zwei Wochen kommen die Praktikanten zum „Prakti-Stammtisch“ zusammen.

Seine Vorgesetzte löste ihn wieder ab. Das Unternehmen besitze ein „fair-company-siegel“. Die Firmenfeste für die Mitglieder seien eine besondere Freude. Selbst die Pensionäre seien jedes Jahr dazu eingeladen. Mitglieder dürfen sogar noch nach ihrer Pensionierung in die Mensa des Unternehmens gehen.

Diese Formulierungen kommen offensichtlich genau von der Stelle, die sich mit der Außendarstellung des Unternehmens beschäftigt, dazu auch noch in einem öffentlichen Vortrag. Trotzdem kommen viele Beschreibungen von Familienunternehmen über diese Wertebene nicht hinaus – sie können die strukturellen Besonderheiten dieser Organisationen nicht benennen, ohne Begriffe wie „Kultur“, „Tradition“ oder „Zusammenhalt“ mitzuführen.

Arbeit nervt, und die Kollegen manchmal auch. In Organisationen fühlt man sich oft unwohl, man soll einfach in seiner Rolle funktionieren, der Rest ist Nebensache. Der Mensch gehört in Organisationen zur Umwelt, wie Niklas Luhmann es formuliert (1964: 25). Leider hat man sich selbst aber immer mit dabei. Und auch, wenn die Bürokratie einen unpersönlichen Verhaltensstil fordert, will sich der Mensch dahinter trotzdem angesprochen fühlen.

Die Vermutung liegt nahe, dass das, was durch die Struktur der Organisation nicht geleistet werden kann – namentlich die Integration der vollen Persönlichkeit eines Menschen – mithilfe von Semantik versucht wird auszugleichen. Oder, um es mit den Worten Nils Brunssons auszudrücken fungiert „talk“ als Ersatz für „action“ (1986:175).

Literatur:

Apelt, Maja et al. (2017): Resurrecting organization without renouncing society: A response to Ahrne, Brunsson and Seidl. In: European Management Journal 35 (1), S. 8–14.

Brunsson, Nils (1986): Organizing for inconsistencies: On organizational conflict, depression and hypocrisy as substitutes for action. In: Scandinavian Journal of Management Studies 2 (3-4), S. 165–185.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2009) [1820]: Gesammelte Werke. Teilband 1. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hamburg: Meiner.

Laslett, Peter (2011): Family and household as work group and kin group: areas of traditional Europe compared. In: Richard Wall (Hg.): Family Forms in Historic Europe: Cambridge University Press, S. 513–564.

Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.

Nietzsche, Friedrich (2013) [1887]: Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe 1887. Hamburg: Meiner.

Schützeichel, Rainer (Hg.) (2018): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Köln: Herbert von Halem Verlag.

Schröder, Martin (2018): Der Generationenmythos. In: Köln Zeitschrift für Soziologie 70 (3), S. 469–494.

Stiftung Familienunternehmen https://www.familienunternehmen.de/de/news/definition-von-familienunternehmen, Abruf am 23.06.2024

Törnberg, Petter (2022): How digital media drive affective polarization through partisan sorting. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 119 (42)

Waris, Elina (2002): Komplexe Familienformen. Neue Forschungen zu Familie und Arbeitsorganisation im finnischen Karelien und in Estland. In: Historische Anthropologie 10 (1), S. 31–50.

Weick, Karl E. (1995) Der Prozess des Organisierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp

(Bild: fietzfotos)

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