Dieser Text (Der Wutbürger – eine kleine Soziologie für Einsteiger und Unterhaltungsbedürftige) ist eine Leseempfehlung wert. Zum einen, weil er die passende Überschrift für den Argumentationsversuch wählt und zum anderen, weil er Wut als eine Form (instrumenteller) Emotionalität nicht aufgrund von psychischen Dispositionen erklärt, sondern explizit auf der sozialen, kommunikativen Ebene bleibt. Auch wenn ich dem Text inhaltlich nicht unbedingt zustimme, dient er als guter Hinweisgeber für ein Thema, das seit Beginn soziologisch interessant ist aber auch immer das Risiko in sich trägt, an zu hohen Ansprüchen zu scheitern oder auf halben Wege zu entgleiten in Vermutungen, Spiritualität oder wissenschaftliches Terrain, auf dem sich Soziologen stets verirren (vornehmlich Psychologie). Ein kleiner Beitrag zum Phänomen des „Wutbürgers“.
An drei Aspekte im verlinkten Text kann man direkt anknüpfen: (1.) Die moderne Gesellschaft, (2.) die Position des Individuums in der Gesellschaft und (3.) das nie strukturell, sondern immer nur operativ lösbare Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: Die moderne Gesellschaft ist ein einziger Zusammenhang geplanter und zufälliger Kommunikation. Jeder nimmt prozessierend daran teil. Niemand, auch nicht der Elfenbeinturmsoziologe oder der vereinsamte Zivilisationsaussteiger, ist ein bloßer Beobachter. Jeder steht als individualisierte Adresse und Autor zur Verfügung. Adressiert wird man dagegen nur selten als unverwechselbares Individuum. Hauptsächlich ist man eine soziale Adresse mit psychischem Gehalt: Man spielt eine Rolle.
Man kann an dieser Stelle darüber streiten, wo die Grenze zwischen individueller und rollengestützter Kommunikation verläuft. Doch scheint es plausibel zu sein, dass man im Kreise seiner Arbeitskollegen, Familie und Freunde nicht nur eine Rolle spielt. Zwar befindet man sich stets in einem Netz aus rekursiven und antizipativen Erwartungen – doch in diesen kleinen sozialen Kreisen ist man eines nicht: austauschbar. Wer eine engere Nachbarschaft verlässt, hinterlässt seine Rollenerwartungen nicht für den Nächsten wie ein Kunde an der Kasse oder ein Patient im Behandlungsraum.
Mit Bezug auf die moderne Gesellschaft bedeutet das, jeder lebt in zwei Welten. Zum einen in der unmittelbaren Lebenswelt unter bekannten, zur regelmäßigen Anwesenheit verpflichteten, Arbeitskollegen, Freunden und Familienangehörigen. Zum anderen lebt man jedoch auch in der Welt der Arbeitsorganisationen, Stadtviertel und öffentlichen Bereiche. Und es lässt sich, ohne übermäßig dramaturgisch zu illustrieren, behaupten, beide Welten könnten nicht unterschiedlicher sein. Die unmittelbare, emotional integrierte, nahe Umwelt (Gemeinschaft) und die sozial strukturierte, sachlich durchreglementierte und von ihrer eigenen Geschichte abhängige Gesellschaft.
Man muss sich in beiden Welten zurechtfinden, doch offensichtlich (so viel Dramaturgie ist erlaubt) ist unser Gehirn nur für die kleine Umwelt gemacht. In diesem interessanten WDR-5 Tischgespräch mit Dieter Halbach kann man nachvollziehen, welche Mühe es Menschen macht, wenn sie die emotional integrierte Gemeinschaft über die Mitgliederzahl 7 vergrößern möchten. Es gelingt fast nie und wenn, immer nur auf Zeit.
Interessant ist nun ein ganz besonderes Problem, dass die Soziologie seit ihrem Beginn aus verschiedensten Perspektiven fasziniert. Manchmal schwappt die Emotionalität aus der Gemeinschaft in die Rationalität der Gesellschaft über. Man sieht das, natürlich, in der Politik: der aus der Politikverdrossenheit erwachte „Wutbürger“ beispielsweise. Aber auch in vielen anderen Bereichen. Beispielsweise in der Vergemeinschaftung von Fans bestimmter Marken („Apple“, „Tokio Hotel“, „Minecraft“). Auch die Religion kennt das Phänomen, wenn aus der Überzeugung in der richtigen Gemeinschaft zu sein, das gesellschaftliche Engagement des Missionars erwächst.
Gerade in diesen Tagen lässt sich dieses Phänomen der gesellschaftlichen Emotionalisierung wieder mannigfaltig aufzeigen. Statt eines Milliardenunternehmens, in dem Tausende von Mitarbeitern ihre Stärken einbringen, das als Organisation klug strukturiert ist und das auf eine jahrzehntelange Erfahrungswelt zugreifen kann beobachten wir: Einen Steve Jobs, der das iPad 2 präsentiert. Statt des umsatzstärksten Wirtschaftsbereichs der Welt, der vor Skandalen, blutiger Konkurrenz und ökologischer Weltzerstörung nicht zurückschreckt, beobachten wir statt einer weiteren Episode komplizierter Zusammenhänge: einen „beschädigten“ Umweltminister. Statt zwei Fußballvereinen, die schon seit Langem an ihren organisationalen Ansprüchen scheitern, nur aus Alphatieren bestehen und die Herausforderung der Verknüpfung sportlicher Leistung und massenmedialer Attraktivität stets neu bewältigen müssen beobachten wir: zwei gescheiterte Trainerpersönlichkeiten, die zum Saisonende ihre Anstellung verlieren werden.
Eigentlich, das muss man feststellen, gelingt unseren Gemeinschaftsgehirnen die Orientierung in der Gesellschaft recht gut. Wir Vertrauen dem (uns völlig unbekannten) Gesellschaftssystem und konsumieren, investieren, pflegen, heilen, bilden, amüsieren uns, … . Doch ab und an ist es nötig, all die unbewussten Verhaltensweisen, die wir in der Gesellschaft gelernt haben und auf die die Gesellschaft auch angewiesen ist, zu manifestieren und zu reflektieren. An diesem Punkt stimme ich mit Klaus Kusanowskys Feststellung im oben verlinkten Text überein:
Die eingangs erwähnten Diskussionsroutinen aller Art sind also nicht etwa nur eine nachfolgende Entwicklung der Überführung von Chaos in Ordnung und Ordnung in Chaos, sondern sie sind diese Überführungsprozesse.
Das sich in der Gemeinschaft wohlfühlende Individuum, dass auf seine gesellschaftliche Umwelt angewiesen ist, seine Erwartungen aber immer nur auf Zeit stabilisieren kann und für Überraschungen offenbleiben muss – reagiert darauf mit emotionalem Abarbeiten, für das es soziale, individualisierte Adressen benötigt, die in der Gesellschaft strukturell zwar vorhanden sind, die sich aber, nüchtern betrachtet, als ein Strukturmerkmal neben vielen anderen eingliedert. Wenn es konkret und kritisch wird, suchen wir nach Personen. Beispielhafte Emotionalisierungen sind Unzufriedenheit („Wutbürger“, der in Gemeinschaft empört nach Schuldigen sucht), Begeisterung („Fußballfans“, „Apple-Fanboys“, die den Kreateur bewundern), Trauer und Hilflosigkeit (Therapeuten, Anwälte und Berater werden ausfindig gemacht, Schuldige gesucht). Gleichsam wird der Mechanismus auch konstruktiv verwendet, etwa in der Werbung, die nicht mehr in der Sache, sondern mit (möglichst prominenten oder vorbildhaften) Personen überzeugen möchte.
Diese Form der Emotionalisierung und Personalisierung, die ein einzelnes Merkmal in einem unüberschaubaren Zusammenhang isoliert, ist, einmal (durch welche soziologische Theorie aus dem reichhaltigen Angebot auch immer) mit Abstand beobachtet, immer wieder von Neuem faszinierend. Und interessant wird es, schon jetzt, weil diese Strategie in vielen Bereichen nicht mehr zufriedenstellend funktioniert. Bald sind die letzten menschlichen Diktatoren und Aktienhändler verjagt und verschwunden und es wird trotzdem eine Sehnsucht nach Schuldigen geben – und nicht nur die Massenmedien und das Recht müssen darauf reagieren.
(Bild: Anders Adermark)
Das ist eine schöne Anschlussbetrachtung und ich wäre neugierig zu wissen, in welchen Punkten du meinen Ausführungen nicht zustimmen kannst, abgesehen davon, dass ich an einigen Stellen selbst meine Zweifel habe, ob das gut genug formuliert ist. Aber das Problem habe ich immer.
Im Nachhinein betrachtet würde mir nur auffallen, dass die Beobachtung des „Wutbürgers“ als Normalbürger nicht ausreichend kontingent betrachtet wurde, sie also gleichsam etwas unterkomplex erscheint. Man müsste eigentlich vom „Erregungsbürger“ sprechen, also davon, dass Menschen als anthropogene Umweltkomplexität für Kommunikationssysteme eigentlich ein enormes Gefährdungspotenzial darstellen. Man denke dabei etwa Selbstmordattentäter oder Amokläufer. Aber auch Fuballfans, Rockkonzertbesucher oder Autofahrer sind als Umweltbedingung für die Stabilität von Kommunikationssystemen eigentlich höchst prekär. Interessant aber, dass eine Grenze des Prekären ohne weiteres hinaus geschoben werden kann; dass also trotz schwerwiegender Umweltbelastungen wie etwa Traumatisierungen (wie etwa der 2. WK) die Kommunikation weiter gehen kann. Ich vermute, dass liegt daran, dass die moderne Gesellschaft entstehen und sich bewähren konnte, indem sie Massen organisierbar machte, und damit das Problem der Fortsetzbarkeit von Gemeinschaft auf Organisation umstellte. Organisation garantiert, dass Massen nicht den Zerfall beschleunigen, sondern andersherum: die hohe Wahrscheinlichkeit des sozialen Zerfalls wird durch Massen in Organisationen und Organisation von Massen gelöst – eine Lösung die historisch durch die Überformung des ganzen Landes durch urbane Funktionsprinzipien notwendig wurde. Die Beobachtung der Erregbarkeit untersteht damit unter ganz anderen Bedingungen als in der Antike, da zu dieser Zeit Massen lediglich lokal in Erscheinung traten und nicht organisationsbedürftig waren. Die moderne Gesellschaft entlokalisiert Massen durch Vereinzelung. Erst die Vereinzelung, damit einhergehend Selbstbeschreibungen über das autonome Subjekt, der einsame Mensch, der handelnd tätig wird, bildet eine Medium für Konnektivität, um die Klemme, in welcher jeder sitzt, aushalten zu können. Beobachtet wurde dies dann bei Hegel durch objektives und subjektives Bewusstsein, bei Marx durch Klassen, die objektiv „an sich“ und subjektiv „für sich“ mächtig werden können.
Interessant in diesem wäre dann auch die Zurechnung auf Rationalität des individuell Handeln wie in der Wirtschaftslehre, welche wohl ein direktes Reflexphänomen der Erregbarkeit der Massen ist.
Jo. Also meine anfängliche Zurückhaltung ist ganz einfach zu erklären. Zum einen wollte ich unbedingt auf deinen Text verweisen, ohne mich aber selbst als Mittäter darzustellen. Nicht, weil ich nicht gut finde, was du schreibst, sondern weil ich es sehr oft auf Satzebene nicht verstehe. ;-)
Deinen Ausläufer im Kommentar finde ich gut. Denn Organisation ist genau das Stichwort, was im historischen Verlauf auf das Problem verweist. Auf das Bevölkerungswachstum, die Kommunikationsverdichtung, die Zunahme der Kontakthäufigkeit reagiert die Gesellschaft – grob vereinfacht – mit kollektiven (Mitgliedsschaftsprinzip in Organisation) und konnektiven (Verkettung symb. gen. Kommunikationsmedien) Gesellschaftsstrukturen, die zu Entlastung (und damit Komplexitätsaufbau) aber auch zu Entfremdung führt.