Im letzten Artikel ging es um die auf jede größere regionale Naturkatastrophe mittlerweile folgende globale Kulturkatastrophe. Der Zwang, eine Atomkatastrophe wie die in Japan mitzuerleben, führt dazu, das der bestehende Semantikapparat, der für Diskussionen seit Jahren und Jahrzehnten genutzt wird, ein geändertes strukturelles Fundament bekommt. Aus manchen Befürchtungen wurden Gewissheiten aus vielen Vermutungen wurden harte Fakten.
Im momentanen Ablauf der Krise erhärtet sich dabei langsam aber sicher eine Erkenntnis, die eventuell höherer Aufmerksamkeit bedarf, wenn das momentan zu lösende Problem hinreichend abgekühlt ist. Man sieht schon, der aktuelle Fall dient nur als Metapher.
Die Idee, dass Industrieanlagen auf irregulären Ablauf hin ausgelegt werden müssen und dass eine Grenzziehung zwischen Denkbar und Planbar (GAU) und Denkbar aber Unplanbar (Super-Gau) zu ziehen ist – ein „Rest“-Risiko also gesehen aber nicht mit kalkuliert wird – ist ein Zugeständnis an die Wirklichkeit, das nicht nur naturwissenschaftlich-technische, sondern auch soziale Riesenmaschinen betrifft.
Wenn rückblickend die Bücher zum Ablauf der Atomkatastrophe geschrieben werden, wird man sehen, dass die Werksmannschaft vor Ort, die Kraftwerksbetreiber und die japanische Regierung neben dem Druck im Reaktor einen immensen, unplanbaren Druck von der Weltgesellschaft erfuhr. Gerade Japan, das durch lächelnde Zurückhaltung, entschuldigende Gesten und unbedingte Disziplin auffällt, steht zurzeit (zumindest in Europa) derart im Aufmerksamkeitslichtkegel, dass man hofft, es wird überhaupt mehr getan als Theater gespielt.
Die Frage zur Lage und zur Kritik ist: Wenn ein halbes Dutzend Reaktoren eine technische Intensivbehandlung benötigen, wäre es dann nicht unverantwortlich, das wenige Fachpersonal, dass es für einen solchen Fall nur gibt, teilweise von der Arbeit abzuziehen, um Fragen der Weltpresse zu beantworten? Wie steht es eigentlich um das Problem, dass die Werksmannschaft, die das Kraftwerk (aus der Praxis und somit sicherlich) am besten kennt, auch privat eine Naturkatastrophe erlebte.
Ein paar Feststellungen: 1. Die Welt verfügt über eine „Internationale Atomenergiebehörde“. Diese Organisation, die für die Aufsicht aller militärischen und zivilen Atomprojekte Personal, Wissen und Strukturen hat, darf jedoch ohne eigene staatliche Anfrage oder UN-Beschluss für ein anderes Land nicht tätig werden. 2. Die Japaner berichten anscheinend nicht regelmäßig, sondern nur auf sachlichen Anlass und anscheinend auch immer zu spät. 3. Die Kraftwerksbetreiber halten anscheinend das Heft des Handelns in der Hand. 4. Neben dem Mangel an Sachwissen gibt es keine Aussagen zu momentanen Zielsetzungen und Aussichten des Handelns vor Ort.
Es lässt sich festhalten: Die globalen, nationalen und organisationalen sozialen Strukturen, die derzeit konkret mit der Katastrophe betraut sind, sind für ihre jetzigen Aufgaben nicht ausgelegt. Nicht nur das AKW wird im Planungsblindflug betreut, sondern die ganze Gesellschaft stolpert derzeit von einer Überraschung in die nächste, orientiert sich an Vermutungen, ungleichen aber ähnlichen Erfahrungsberichten und Hoffnungen. (Neben all dem noch das politische Geschwätz.)
Es wird also auch, hoffentlich, in der Hinsicht gelernt, dass die bestehenden sozialen Strukturen für „neuartige Katastrophen“ ausgelegt werden. Beispielsweise indem die Internationale Atomenergiebehörde in jedem Land tätig werden darf, dass entweder zivil oder militärisch Atomkraft nutzt oder vorhält und ein Erdbeben Stärke >5 erlebt. Oder indem ein Land externe Hilfe explizit absagen muss, anstatt stolz und steif keine Anfragen senden zu müssen, um sein hilflos lächelndes Gesicht zu wahren.
Über die organisationale Ebene kann man derzeit noch kaum etwas sagen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass eines der ganz großen Probleme derzeit, neben all den technischen Herausforderungen, darin besteht, dass qualifiziertes Personal fehlt, dass zum einen ein Jahrzehnt Atomphysik studiert hat und nun Gefahr läuft, verstrahlt zu werden.
Die Idee des „Auslegungsfalls“ wird, nach allen Ideologien die die Wirtschaft und ihre Organisationen durchgeschüttelt haben, sicherlich ein interessantes Feld für praktische und praxisnahe Sozialforschung bieten. Denn dass „Boiling Water Reactor Engineers“ mit der „ability to work well under pressure, diligence and a sense of responsibility“ derzeit per Internet-Job-Börse gesucht werden – wo doch jeder Staat mit angeschlossenem Unibetrieb weiß, wie viele Atomkraftwerke er die nächsten Jahrhunderte zu betreiben und zu betreuen hat – beunruhigt sicherlich nicht nur mich.
Vielleicht könnte man, nach der Errungenschaft der sozialwissenschaftlich gestützten „Technikfolgenabschätzung“ mit einer naturwissenschaftlich-technologischen „Sozialstrukturfolgenabschätzung“ beginnen.
(Bild: alancleaver_2000)