Democracy (Charles Tilly, 2007)

REZENSION

Die Demokratie. Ein großes Thema für 200 Seiten Text in acht Kapiteln, die der im April 2008 verstorbene Charles Tilly ein Jahr zuvor vorgelegt hat. Er zieht mit diesem Buch eine auch für interessierte Leser außerhalb der Wissenschaft gut lesbare Bilanz seiner jahrzehntelangen Forschung über die Entstehung moderner Gesellschaften. Sein besonderes Augenmerk lag auf sozialen Bewegungen und Contention: „Streit“. Er prägte damit nicht zuletzt einen konflikttheoretischen Strang der politischen Soziologie mit.

Wie Tilly direkt im Vorwort einräumt, hätte das Buch eigentlich den sperrigen Namen „Demokratie, Demokratisierung, Entdemokratisierung und ihre Interdependenz“ erhalten müssen, um einen Eindruck über die Argumentation zu vermitteln. Er verfolgt einen prozess-orientierten Ansatz, um darüber den erreichten Grad von Demokratie in einem Land zu diskutieren und gleichzeitig die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass auf Phasen der Demokratisierung auch Zeiträume der Entdemokratisierung folgen können. Er erarbeitet nicht universell gültige Bedingungen, die hinreichend oder sogar notwendigerweise erfüllt sein müssen, damit sich ein Land demokratisiert.

Beispiele wie Frankreich, Indien, die Schweiz und Irland zeigen vielmehr, dass die sozialstrukturellen, ökonomischen oder ähnlich qualifizierbaren Ausgangssituationen von Ländern, die wir heute als demokratisch betrachten, sehr unterschiedlich gewesen sind. Seine These ist, dass sie in ihrer Verschiedenheit eine wesentliche Gemeinsamkeit haben. In jedem sind drei Prozesse beobachtbar, die in ihrem jeweiligen Verlauf zu unterschiedlichen Demokratisierungsgraden geführt haben; immer verbunden mit der Möglichkeit der Entdemokratisierung.

Es handelt sich um die Zu- oder Abnahme

  1. der Integration von interpersonellen Netzwerken gegenseitigen Vertrauens und öffentlicher Politik. Großfamilien, Religionsgemeinschaften oder Zünfte können damit (k)eine Sonderstellung für sich beanspruchen;
  2. der Isolierung öffentlicher Politik von zentralen Kategorien sozialer Ungleichheit. Die Politik erhält oder verliert damit eine Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Konfliktlinien entlang von Geschlecht, Ethnie, Religion oder Klasse.
  3. konkurrierender Machtzentren mit eigenen Zwangsmitteln.

Jedem dieser Prozesse widmet Tilly ein Kapitel (4, 5 und 6), nachdem er zuvor in drei Kapiteln seinen Analyserahmen dargelegt hat.

Inwiefern Länder als demokratisiert gelten können, konzeptionalisiert Tilly im ersten Kapitel anhand von vier Beziehungsmustern zwischen Bürgern und Staat. Zusammengenommen bezeichnet er diese Muster als Regime, in dem sich niederschlage, inwiefern sich staatliche Stellen in Übereinstimmung mit den Anforderungen aller Bürger verhalten. Kriterien sind

  • der Umfang des in politischen Entscheidungen berücksichtigten Bevölkerungssegments,
  • die Verleihung gleicher Rechte,
  • der Schutz vor staatlicher Willkür und
  • ein auf gegenseitiger Bindung beruhendes Verhältnis, das Staat und Bürger einander verpflichtet, sich entsprechend von in öffentlicher Beratung gefassten Beschlüssen zu verhalten.

Ebenfalls in Kapitel 1 macht Tilly deutlich, dass Staatlichkeit noch in einer weiteren Hinsicht Erklärungswert für Demokratisierungsprozesse hat. Keine Demokratie kann sich in dem beschriebenen Sinn entfalten, wenn Staaten keine Kapazitäten ausbilden, um die demokratische Entscheidungsfindung abzusichern und die getroffenen Entscheidungen umzusetzen. Gleichwohl müssen Staatlichkeit und Demokratie (bzw. ihre Variation von Land zu Land) getrennt voneinander betrachtet werden. Ein hohes Maß an staatlicher Durchsetzungsfähigkeit in der Weise, Personen in ihrem Verhalten sowie die Verteilung von Ressourcen zu dirigieren, führt nicht automatisch zu einem hohen Maß an Demokratie – und andersherum. Vielmehr lässt sich der Entwicklungspfade eines Landes sehr vereinfacht in einem Vier-Felder-Schema nachzeichnen, je nach staatlicher Durchsetzungsfähigkeit (stark/ schwach) und Demokratisierungsgrad (hoch/ niedrig). Die von ihm diskutierten Beispiele wie Frankreich (Kap. 2) und Indien (Kap. 3) zeigen, das sich die Position in diesem Schema fortlaufend verschiebt. Dabei fällt auf, dass Entdemokratisierung wesentlich schneller eintritt als eine Phase, in der ein Land als einigermaßen demokratisch gelten kann; nicht zuletzt weil vormals demokratisch in Staatsämter gelangte Eliten „abtrünnig“ werden.

Im siebten und achten Kapitel verdichtet Tilly seine Ergebnisse, die er vor allem aus der Erzählung von landesspezifischer Geschichte gewinnt. Bemerkenswert sind vor allem zwei Aspekte. Der erste Gesichtspunkt ergibt sich aus seiner Diskussion von drei idealtypischen Entwicklungspfaden zur Demokratie. Der erste Weg verläuft über einen „starken Staat“, der sich erst nach seinem Entstehen sukzessiv demokratisiert; der zweite Weg basiert auf einer balancierten Gleichzeitigkeit von Staatsentstehung und Demokratisierung; im dritten Fall demokratisiert sich ein Land, ohne dass damit zunächst eine nennenswerte staatliche Durchsetzungsfähigkeit verbunden ist. Tilly ist hier unmissverständlich: historisch gesehen haben sich diejenigen Ländern besonders erfolgreich als Demokratien behaupten können, in denen bereits ein funktionsfähiges Staatswesen existiert hat (gegen dessen Willfährigkeit nicht zuletzt wirkungsvoll opponiert wurde). Demgegenüber haben sich schwache Staaten in den wenigsten Fällen demokratisiert. Sie wurden eher von anderen Staaten usurpiert oder verstrickten sich in Bürgerkriege. Damit liefert er zwar all jenen in der internationalen Politik ein Argument, die wie im Fall von Afghanistan darauf drängen, zunächst einmal funktionierende Staaten „zu bauen“ (Fukuyama), um auf dieser Grundlage die Einführung der Demokratie zu „promoten“.

Entsprechenden Hoffnungen nimmt er allerdings in seinem Fazit „den Wind aus den Segeln“, im Rahmen dessen er den zweiten besonders bemerkenswerten Punkt äußert. Über bisherige Demokratisierungsverläufe (insbesondere aufbauend auf vorhandener Staatstätigkeit) könne man nicht in der Weise auf die Zukunft schließen, dass sich Demokratie planen ließe oder bereits regional zum Selbstläufer geworden ist. Die Geschichte zeige vielmehr, wie diskontinuierlich selbst Entwicklungswege in scheinbaren „Musterländern“ wie Frankreich, der Schweiz oder Indien waren. Er beschreibt, wie unwahrscheinlich es eigentlich ist, dass ein Land demokratische Züge aufweist.

Insgesamt entwickelt Tilly eine Perspektive politischer Evolution, im Rahmen derer die Kontingenz sozialen Wandels betont wird. Von Planungsphantasien sollte man sich spätestens nach der Lektüre verabschieden. Das bedeutet nicht, dass man sich anhand des Ansatzes nicht mit zukünftig möglichen Entwicklungen beschäftigen kann. Er hat zumindest analytischen Wert: kann man z.B. in einem demokratischen Land den Prozess beobachten, dass autonome Gewaltzentren an Bedeutung gewinnen, kann die Aufmerksamkeit auf diesen Vorgang gelenkt werden.

Diese Betonung von Kontingenz, der immer auch anders möglichen sozialen Entwicklung als einer Eigensinnigkeit von sozialen Vorgängen, die niemand steuern kann, ist die zentrale Stärke des Buches. Gleichwohl hat es im Wesentlichen zwei Schwächen, die sich daraus ergeben, dass er die in der zeitgenössischen Soziologie weitgehend anerkannte Perspektive funktionaler Differenzierung der Gesellschaft unberücksichtigt lässt, um seine Argumentation zusätzlich zu plausibilisieren. Nach dieser Sicht entfällt die Möglichkeit, normativ in der Weise zu argumentieren, dass sich eine Bevölkerung über eine gemeinsame Wertbasis koordiniert. Vielmehr setzt jedes Funktionssystem Eigenwerte, über das es sich gegen die übrigen abschließt. Tilly dagegen begreift Demokratie als „a good in itself“, setzt also die Einsichtsfähigkeit einer Bevölkerung voraus, dass ihre Einführung die allgemeine Lebensqualität erhöhe. Dann kann man allerdings fragen: warum ist die Demokratie eigentlich noch nicht weltweit verwirklicht?

Der zweite Kritikpunkt schließt daran unmittelbar an. Tilly lässt unberücksichtigt, dass die Demokratie ein spezifisch politisches Strukturmuster ist und hält sie für ausschlaggebend, dass sich die Wohlfahrt eines Landes mit ihrer Evolution erhöhe. Eine Begründung für diesen „Kurzschluss“ von Politik und Wirtschaft gibt er allerdings nicht. Er lässt damit das Erklärungspotential ungenutzt, das in seinem prozess-orientierten Ansatz selbst angelegt ist. Demokratisierung durch Inklusion, Isolierung und Monopolisierung von Gewalt lässt sich als Ausdifferenzierung eines politischen Systems begreifen, dass die Eigenlogik anderer Gesellschaftsbereiche wie die Wirtschaft oder die Wissenschaft erst zur Entfaltung bringt, indem es diese davon entlastet, jede Zahlung oder jede Wahrheitssuche Mehrheits- oder Konsensentscheidungen zu unterwerfen. In dieser Hinsicht ließe sich die Demokratie nicht nur normativ, sondern auch als funktional begründen.

Tilly, Charles 2007: Democracy, Cambridge u.a.

Erschienen im April 2007. Cambridge University Press. 234 Seiten. Paperback.

$ 19,99 (ISBN 978-0-521-70153-2)

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.