Basisdemokratie: Ballast und Befreiung

Piratenparteichef Bernd Schlömer war sehr mutig, als er in Bochum zu Beginn des Parteitags meinte, die Piraten seien eine Bürgerrechtsbewegung und keine Volkspartei. Anwesende wie abwesende Piraten haben es vielfach anders gesehen. Denn die Prämisse des Ziels, in den Bundestag einzuziehen, kann keine andere sein, als dass die Piraten eine Partei haben und nicht nur Mitläufer in einer Bewegung sind. Nach sechs Jahren ringen die Piraten noch immer um ihre Identität, die sich nicht von selbst ergeben hat.

Der ÖR-Film „Alles Liquid“ (Ein Jahr #15Piraten) dokumentiert das gut. Wenige Wochen nach dem Entern des Berliner-AGH, sieht man die Piraten bei ihrem Parteitag in Offenbach. Die Piraten waren formal gerade unter den hunderten Parteien, die es in Deutschland gibt, in den winzigen Kreis der parlamentarischen Vertreter eingerückt. Das machte sie natürlich nicht zu einer Volkspartei, aber es etablierte sie, obwohl sie das nicht wollten. Christopher Lauer, einer der Berliner, sagte damals (19:45 Min. im Video):

Sie müssen sehen, wir sind im Grunde genommen eine sehr dynamische Partei. Wir benutzen ja asynchrone Zusammenarbeit. Das heißt, wir müssen uns nicht immer am selben Ort treffen. Die Anträge, die hier bei diesem Bundesparteitag behandelt wurden, die wurden über das Internet erarbeitet. Und da ist es egal, ob ich da morgens um 12 oder nachts um drei dran sitze. Das heißt, wenn wir uns mal eingespielt haben – wir werden ja immer besser – dann werden wir als Partei, denke ich, in einer Geschwindigkeit arbeiten können, die das, was wir von den etablierten gewohnt sind, doch um einiges übersteigt.

In der Szene direkt davor ist Simon Kowalewski zu sehen, der gerade dabei ist, darüber abzustimmen, ob ein Antrag auf Wiedereröffnung der Rednerliste ausgezählt werden muss. Müsse man das als Nichtpirat verstehen, fragen die Filmemacher. „Äh, nö (lacht)“ ist seine Antwort (notiert im Sponstyle).

Ein Jahr später zeigt sich, dass man das sehr wohl verstehen muss und das Lauers optimistische Prognose nicht aufging. Die Partei lernt sehr langsam:

Dieser Tweet ist der Stand heute. Er zeichnete sich in Lauers Aussage aus Offenbach schon ab. Aber mehr als ein Jahr und zwei weitere Parteitage sind vergangen. Man kann der jungen Partei nun noch drei Jahre mehr geben, erwarten, dass sie dann nicht nur thematisch, sondern auch strukturell eine Internetpartei geworden ist. Doch es spricht doch einiges dagegen, dass es hilft. Nicht nur Sebastian Nerz ist als stellvertretender Parteivorsitzender vehement gegen die ständige Mitgliederversammlung im Internet. Sondern mit ihm die halbe Partei.

Beim Parteitag in Bochum empörten sich die Piraten genau zwei Mal kollektiv mit Buhrufen. Einmal zu Beginn, am Samstag, als Bochums Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (deren Namen Bernd Schlömer nicht einmal über die Lippen kam, obwohl er sie ankündigte) in ihrem Grußwort die „lieben Delegierten“ begrüßte und am Sonntag, gegen Ende, als die SMV per GO-Antrag auf die Tagesordnung gesetzt werden sollte. Von GO-Anträgen waren zwar schon alle genervt, die Reaktion jedoch galt dem Tagesordnungspunkt.

Die Piraten leiden an einer Störung. Sie lehnen jede Form von Repräsentation und Delegation ab, akzeptieren aber auf der anderen Seite auch keine Methode, die die Partizipation aller ermöglicht. Sie begnügen sich stattdessen mit dem einfachen Prinzip der Anwesenheit. Was den grundlegenden Aspekt der politischen Entscheidungsfähigkeit angeht, ist die Partei rückständig, mutlos und frei jeder Kreativität und Intelligenz. Ihr Entscheidungsprinzip ist das einer mittelalterlichen Villikation, das mehr als 150 Menschen nicht aushält.

Die Piraten werben für ein netzneutrales Internet, weißen darauf hin, dass dort sehr wohl das Recht gilt und meinen zu erkennen, dass das Internet zum einen sowieso nie mehr weggeht und zum anderen bereits heute als Skelett der Gesellschaft fungiert. Aber für sich selbst lehnen sie das alles ab. Für die Parteiorganisation sollen nur die elementarsten Prinzipien von Sozialität gelten, Prinzipien, über die nicht entschieden wird, die zuweilen auch nicht entscheidbar sind, die sich im Grunde unter dem Begriff „Naturzustand“ sammeln: Es tobt der Mob, es gibt kein Gedächtnis und Misstrauen überwiegt alles.

Die Piratenpartei bestätigt die Tausende von Jahren alte Kritik an der Demokratie. Obwohl doch mit dem Internet nun zum zweiten Mal eine Methode bereitstünde, ein Update zumindest auszuprobieren. Wenn die Partei mutig wäre, könnte sie sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie würde zum einen zeigen, dass das Internet nicht nur für Geschwätz da ist und sie könnte, zum anderen, gleich eine Lösung für die Eurokrise präsentieren: Mit vorhandenen möglichen Lösungen nicht warten, bis der Leidensdruck in die Selbstzerstörung* führt.

* Na klar, kann die Piratenpartei bis nach der nächsten Wahl des Bundestags warten, in den sie nicht 2013 schon einziehen muss. Aber die Partei ist derzeit, von 45 parlamentarischen Mandaten abgesehen, auf nichts, als auf Engagement und Idealismus gebaut. So schnell wie sie, verschleißt nicht einmal die CDU ihre Köpfe und Hoffnungen.

(Bild: Joachim S. Müller, Joachim S. Müller)

Update 5. Dez. – Identitätsfindung, piratig

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. Nivatius sagt:

    Als aktiver Pirat lese ich Ihre Kritik natürlich ungern, muss aber zustimmen. Haben sie aus dieser richtigen Analyse heraus auch Ideen zur Lösung gefunden?

  2. juhi sagt:

    Die Piraten skalieren nicht. Keine Ahnung, warum ausgerechnet sie selbst das nicht (bzw. nicht als ihr größtes Problem) erkennen.

    • Das Skalieren ist wirklich ein Problem, das in so vielen Institutionen zu beobachten ist. Das Hauptproblem aber scheint mir die frei flottierende Meinung. Meinung trifft auf Meinung trifft auf Meinung und sofort. Abbau und Aufbau stehen in einem perfekten Gleichgewicht. Es gibt eine maßlose Aktivität, aber nichts bewegt sich, also Brownsche Molekularbewegung. Sehen wir genauer hin, unterscheiden sich die etablierten Parteien von den Piraten nur dadurch, dass die sich fortlaufend weiter dequalifizierenden Meinungen (Merkel, Rösler, Steinbrück…) hier in einem Oligopol sitzen.
      Die hochgerichtete Dynamik spielt sich anderswo, nämlich in der Finanzwelt ab, wo ein rasender Schuldenaufbau fast überall die „Akteure“ vor sich hertreibt. Bestes Beispiel: Japan. Die hatten 5 Finanzminister in 3 Jahren. Da könnten die Piraten nahtlos einsteigen. Sie würden nichts verbessern oder verschlechtern, sie wären einfach wie ihre Vorgänger – wirkungslos.
      Warum gerade die Finanzwelt? Ganz einfach. Sie ist das derzeit abstrakteste und schnellste „Interaktionssystem“, das sich selbst und die von ihr abhängigen Systeme permanent akzelleriert oder lähmt. Politik und Realwirtschaft sind im Vergleich dazu quälend langsam und werden „outperformed“.
      Hat man das erst einmal begriffen, lässt man alle Hoffnung fahren und zerbricht sich den Kopf nicht mehr.

  3. Ihr dürft zwar gerne mein Foto verwenden. Aber von dem Inhalt, vor allem den Vorwürfen („rückständig, mutlos und frei jeder Kreativität und Intelligenz“) distanziere ich mich hiermit.
    Dass es bei der Kritik an der SMV (vor allem DIESER konkreten SMV, umn die es in Bochum hätte gehen können) um etwas ganz anderes geht, haben ja schon genügend Leute beschrieben.
    http://www.patrick-breyer.de/?p=37090

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