Ein nachvollziehbarer Traum, aber letztlich nur ein Traum
Den Traum von der optimalen Organisationsstruktur gab es schon, bevor sich im 17. und 18. Jahrhundert ein allgemeines Verständnis ausbildete, was eine Organisation überhaupt ist. Schon die Sassaniden, die im 3. Jahrhundert nach Christus Persien dominierten, debattierten, wie man die Herstellung von Glas und Seide optimieren könnte. Zur Hochzeit des Stadtstaates Venedig im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit diskutierten die Räte, wie die Schiffsproduktion am effizientesten organisiert werden könnte. Die holländischen und britischen Kaufleute, die im 16. und 17. Jahrhundert ihre Schiffe nach Asien schickten, um Gewürze einzukaufen, berieten darüber, wie diese Unternehmungen am besten strukturiert werden könnten. Und heute verwenden Unternehmen, Verwaltungen, Armeen, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen und Verbände viel Zeit darauf, die Organisationsform auszumachen, die ihnen den am besten geeigneten Rahmen für die optimale Ausführung ihrer Arbeiten bietet.
Gibt es diese optimalen Organisationsstrukturen aber wirklich? Zwar suggerieren Managementbücher, Artikel in Wirtschaftszeitschriften und die Foliengewitter in Praktikervorträgen, dass man den heiligen Gral der Organisation gefunden hat oder jedenfalls sehr nahe daran ist, ihn zu finden. Schaut man jedoch genauer hin, wird offenbar, mit wie viel Widersprüchen die nach Perfektion strebenden Organisationen zu kämpfen haben.
Einerseits sollen Mitarbeiter als »Unternehmer im Unternehmen« innerhalb der Organisation konkurrieren, andererseits sollen sie mit anderen Mitarbeitern kooperieren können. Motto: Alle ziehen gemeinsam an einem Strang, aber nur die Besten setzen sich durch. Einerseits wird von den Mitarbeitern verlangt, dass sie ihren eigenen Weg gehen, andererseits sollen sie das Gesamtziel der Organisation nicht aus den Augen verlieren. Motto: Jeder sucht sich seinen eigenen Weg, aber wir sitzen alle in einem Boot. Einerseits sollen die Mitglieder ‒ wenn nötig ‒ die von oben verordneten Regelwerke verletzen, andererseits die von der Organisation vorgegebenen Strukturen achten. Motto: Tu, was du willst, aber verletze ja nicht die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze. Einerseits soll für Querdenker mit ihrer Kreativität und Flexibilität Platz und Handlungsspielraum vorhanden sein, andererseits sollen die Ressourcen der Organisation möglichst effektiv eingesetzt werden. Motto: Sei unorthodox, behindere dadurch aber nicht die im Namen der Effizienz stattfindende Standardisierung von Abläufen.
Gerade in Organisationen, die Entscheidungskompetenzen dezentralisieren, ihre Hierarchiestufen reduzieren und die strikte Abgrenzung von Abteilungen auflösen, stellen sich grundlegende Koordinationsprobleme: Wie wird die schwierige Koordination zwischen selbstständigen, vorrangig auf sich selbst bezogenen Einheiten hergestellt? Wie lässt sich die Koordination zwischen teilautonomen Gruppen, Prozesslinien, Segmenten oder Profitcentern organisieren, obwohl ihnen ein hohes Maß an Autonomie zugestanden wird? Wie findet der Ausgleich zwischen der geförderten und geforderten lokalen Rationalität der Teams und der Gesamtrationalität der Organisation statt? Das grundlegende Problem von Organisationen ist: Je mehr die einzelnen Einheiten einer Organisation in der Lage sind, sich zu verselbstständigen, desto dringender, aber auch komplizierter wird die Integration dieser Einheiten in die Gesamtorganisation. Mit der zunehmenden Differenzierung in selbstorganisierte, teilautonome Einheiten wird die Integration immer schwieriger, gleichzeitig aber auch immer notwendiger.
Unter diesen Bedingungen ähnelt die Suche nach der optimalen Organisationsstruktur den Bemühungen des Sisyphos, der vergeblich versucht, mit seinem Felsbrocken den Gipfel des Berges zu erklimmen. Genauso wie der Felsbrocken Sisyphos immer wieder entgleitet, genauso wird die Hoffnung des Managements, die optimale Organisationsstruktur gefunden zu haben, immer wieder zunichtegemacht. Die Maßnahmen zur stromlinienförmigen Gestaltung der Organisation produzieren ungewollte Nebenfolgen, die häufig erst nach einiger Zeit zutage treten. Ein zentrales Organisationsproblem mag man in den Griff bekommen haben, aber nur auf Kosten neuer organisatorischer Baustellen, die sich vor dem Management auftun.
Organisationssoziologen zerstören die Hoffnung, eine optimale Organisationsstruktur für ein Unternehmen, eine Verwaltung, ein Krankenhaus, eine Universität oder eine Armee finden zu können. Es erklärt die ungewollten Nebenfolgen und die paradoxen Effekte, mit denen sich das nach Perfektion strebende Organisationen herumschlägt.
Für postbürokratische Organisationen, die auf eine Auflösung der Abteilungsgrenzen, Reduzierung von Hierarchiestufen und Entformalisierung setzen, habe ich dies systematisch in dem Buch „Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur“ (Campus 20215) herausgearbeitet.
»Mit der zunehmenden Differenzierung in selbstorganisierte, teilautonome Einheiten wird die Integration immer schwieriger, gleichzeitig aber auch immer notwendiger.«
Aus meiner Sicht der Schlüsselsatz. (Ich nehme als gegeben hin, dass es kein stabiles Organisations-Optimum gibt.)
Sollten wir unseren Blick vermehrt auf eine Alternative zur Integration, nämlich zur Freisetzung richten? Bislang nur ein Nischenthema, ketzerisch gesagt aus historischen Gründen, weil man eben Kontrolle durch Hierarchien irgendwie gelernt hat.
Für die Systemtheorie wird das schwierig, weil die freigesetzten Einheiten zu fremden Systemen werden? Vermutlich gibt es dazu bereits Gedanken? (In der Informatik kennt man die lose Kopplung von Systemen – siehe z. B. https://en.wikipedia.org/wiki/Loose_coupling)
Luhmann spricht ja auch von losen Kopplungen, meint damit aber doch eher Kommunikation im System, wenn ich das richtig erinnere.