Zu einer ungewollten Nebenfolge holakratischer Organisationen
Der Anspruch des holakratischen Organisationsmodells ist, dass die schrittweisen Anpassungen in den dafür vorgesehenen Sitzungen dazu führen, dass die formale Struktur immer besser an die an die Organisation herangetragenen Erwartungen angepasst wird. Zur Erfüllung dieser Erwartungen sei es sowohl möglich, neue Kreise oder Rollen zu bilden, als auch diese Kreise oder Rollen wieder abzuschaffen, wenn sie zur Erfüllung eines Zweckes nicht nötig sind.
Aber trotz dieser Möglichkeit zur Abschaffung von Kreisen oder Rollen fängt in vielen holakratischen Organisationen die Formalstruktur an zu wuchern. Wenn man in der holakratischen Organisation aus einer Rolle „Einkauf“ einen „Kreis Einkauf“ bildete, dann vervielfältigen sich die Rollen. Statt einer Rolle „Einkauf“ gibt es dann Rollen wie „Sortimentsgestaltung“, „Lieferantengespräch“ und „Disposition“, die häufig von den gleichen Mitarbeitern wird. Wenn aus einer Rolle „Qualitätssicherung“ ein „Kreis „Qualitätssicherung“ gemacht wird, dann entstehen daraus untere Rolle wie „Zertifizierung“, „Rückrufmanagement“ oder „Lieferantenmanagement“.
Der Effekt der Vervielfältigung von Rollen kann sein, dass das Einnehmen einer Rolle zu einem Selbstzweck wird. Es wird dann in den Organisationen „cool“, eine Rolle zu übernehmen. Zu den Standardklagen in holakratischen Organisationen gehört es deswegen, dass die Mitarbeiter Rollen „sammeln“ würden, sie aber dann faktisch keine Zeit hätten, diese entsprechend auszufällen.
Zur Illustration der Vervielfältigung von Rollen kann man sich kleine holakratische Beratungsfirmen anzusehen, die aus Illustrationszwecken ihre Formalstruktur auf der Website öffentlich zugänglich machen (man braucht nur über das Profil einer Mitarbeiterin gehen und „see my roles in glassfrog“ in die Formalstruktur einzusteigen). Ein Ausdruck der aus den unterschiedlichen Rollen bestehenden „Stellenbeschreibung“ einer Mitarbeiterin kann dann schon einmal ausgedruckt mehr als hundert Seiten beinhalten – bei einer Organisation, die aus nicht einmal einem Dutzend Mitarbeitern besteht.
Wegen der Tendenz zum Sammeln von Rollen, kann es dann schon mal passieren, dass aufgrund einer herumirrenden Beschwerde bemerkt wird, dass eine Rolle seit Monaten nicht besetzt ist, weil die Mitarbeiterin seit längerer Zeit nicht mehr in der Firma ist. Es gibt in holakratischen Organisationen Kreise, die über Jahre faktisch inaktiv sind, aber sich niemand daran stört, weil sich niemand die Mühe machen will, diesen Kreis wieder aufzulösen. In jeder holakratischen Organisation lassen sich solche „Rollenruinen“ oder „Kreisruinen finden, die selbst durch eingesetzte holakratische „Säuberungstruppen“ häufig nicht leicht zu entdecken sind.
Dieser durch das holakratische Organisationskonzept produzierte Effekt ähnelt einem Fußballspiel, in dem die Verhaltenserwartungen an die Spieler immer weiter in einem Regelwerk schriftlich spezifiziert werden würden. Der „Purpose“ der Mannschaft – das Gewinnen eines Spieles – würde in schriftliche Regeln übersetzt werden, wonach die Fußballspieler sich bemühen sollten, den Ball in das gegnerische Tor zu treten, in Zweikämpfen anstreben sollten, den Ball zu erobern, ohne dass der Schiedsrichter ein Foul pfeift, oder flache Bälle möglichst mit dem Fuß und hohe Bälle mit dem Kopf weiterzuspielen. Jedes verlorene Spiel würde dann zum Anlass genommen werden, die formalen Anforderungen weiter zu spezifizieren.[1]
Hier erkennt man eine Wirkung der Formalisierung, die für bürokratische Organisationen schon gut untersucht wurde. Auf Probleme in der Organisation wird in den meisten Fällen mit der Schaffung neuer formaler Strukturen – in Form von neuen Kommunikationswegen oder neuen Programmen – und nicht mit der Abschaffung von formalen Strukturen reagiert.[2] Veränderungen in der Formalstruktur haben deswegen zur Folge, dass zusätzliche formale Erwartungen geschaffen werden, ohne dass aber dadurch zwangsläufig andere existierende formale Regeln abgeschafft werden.
[1] Rainer Dollase: Sinn und Unsinn des Qualitätsmanagements. Analyse und Verbesserung. Berlin 2011, S. 9.
[2] Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Opladen 2000, 346ff.