Wenn ich einen wissenschaftlichen Text lese, beginne ich nach dem Titel mit dem Inahltsverzeichnis, dass gibt den ersten thematischen Überblick. Als zweites folgt der Blick in die angegebene Literatur, dies gibt Aufschluss über den Kontext der Studie, die Autoren und den Inhalt. Als drittes folgt das Lesen des ausgewiesenen Abstracts, durch das sich letzlich klärt, ob ich in den Text der Arbeit selbst einsteige.
Heute morgen verwies mich meine Morgenlektüre auf eine wissenschaftliche Studie, in der angeblich behauptet wird, dass der Hartz IV Monatssatz im Vergleich zu seinem Ziel, der Grundsicherung, zu hoch bemessen sei. Man könne dieses Ziel auch mit Monatssätzen von 132 Euro für Erwachsene und 79 Euro für Kinder erreichen.
Auf den ersten Blick respektloses Geschwafel aus dem Elfenbeinturm, das den Tag über Entrüstung und Missfallen in den Medien auslöste. Als Soziologe ist einem diese Rezeption nicht fremd. Ein zweiter Blick lag also nahe. Ich wollte nachschauen, worum es den Autoren genau ging.
Jedoch, Entrüstung und Missfallen machte sich auch bei mir breit. Inhaltsverzeichnis, Literaturangaben, Abstract? Fehlanzeige! Listen, Tabellen, unklare Überschriftenkonstellation ohne Nummerierung und Zusammenhang ergeben den Text. Fussnoten gibt es nicht und nach 7 Seiten (sic) hört der Text auf.
Es handelt sich also nicht um eine wissenschaftliche Arbeit. Wenn man es beschreiben sollte, läge „beschämende Frechheit“ näher. Dann stellte sich heraus, das es sich um die Kurzfassung einer längeren Studie handelt. Ein Text von 33 Seiten, der in der „Zeitung für Wirtschaftspolitik“ erscheint und die formalen Mängel natürlich nicht aufweist.
Ich bleibe aber mal bei der Zusammenfassung, da sie die mediale Runde gemacht hat. Formal hat der Text unglaubliche Schwächen. Vielleicht ist das auf dilettantische Hilfskraftarbeit zurückzuführen. Inhaltlich ist es jedoch nicht besser. Es handelt sich um eine wirtschaftswissenschaftliche Berechnung, die ihre Axiome als Naturgesetze begreift und sie daher nicht mal mehr nennt, geschweige denn begründet. Die, trotz nachträglich eingefügter Entschuldigungspräambel, normative Instruktionen ableiten lässt und mit Stilblüten gespickt ist.
Der Text liest sich durchgehend wie folgender Satz, der direkt in der ersten Minute der Lektüre mein Soziologenauge blendete:
„Unsere Gesellschaft hat sich bisher davor herum
gedrückt, die Ziele der sozialen Mindestsicherung exakt zu formulieren.“
Was soll man sagen? Gibt es noch was zu sagen? Ich denke nicht. Hier ein link zur Zusammenfassung der Studie. Und falls tatsächlich noch jemand dem Kompletttext eine Chance geben möchte, findet er ihn hier.
Update (05.09.08 – 11:30):
Hier eine alternative Mindestlohn- und Grundversorgungsberechnung. Mit einem Ergebnis, mit dem man Leben kann.
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