These zur amerikanischen Religiosität

Da schrieb ich gestern noch:

Ähnliche Verständnisschwierigkeiten haben wir, wenn wir uns anschauen, wie religiös Amerika ist und wie sehr die Religion die Politik beeinflusst, obwohl es kaum ein Land gibt, dass die Säkularität ernster nimmt.

Das scheint tatsächlich so paradox zu sein, dass allein ein schnell hergeleiteter Ansatz fehlt, das zu erklären.

Fällt es mir heute, beim Fernsehen gucken, wie Schuppen von den Augen. Es gibt tatsächlich eine Erklärung, die den amerikanischen Pragmatismus und die extreme Religiosität zufrieden stellend fassen kann.

In der verlinkten Reportage führt Woody Allen durch die amerikanische Kulturpolitik und befördert für Europäer Erstaunliches zu Tage. Es gibt keine Kulturpolitik in Amerika. Gleich zu Anfang wird ein Ausschnitt einer Rede von Jimmy Carter gezeigt, in der er sich erfreut darüber zeigt, dass das amerikanische Volk die Sache mit der Kultur und der Kunst selbst in die Hand nimmt. Im weiteren werden zwei Aspekte betont. Erstens, die Kultur ist, seien es Museen, Theater, Festivals oder Weiteres eng mit dem Volk verbunden. Es gibt kaum öffentliche Fördertöpfe aber ein riesiges Netzwerk an Künstlern und Kunstkonsumenten, die über Nacht Millionen Dollar an Privatspenden oder tausende Beschwerdebriefe an Politiker organisieren können. Zweitens werden Künstler gezeigt, die darunter leiden, dass sie zu sehr von ihrem Publikum abhängig sind, dass sie sich nicht ausleben können und das sie sich, um überhaupt künstlerisch tätig sein zu können, zu sehr dem Mainstream verschreiben und nebenher in zwei einträglicheren Berufen arbeiten müssen.

Es zeigt sich also auch beim Blick auf die Kunst ein Pragmatismus, der in dem Fall der gesellschaftlichen Funktion von Kunst im Wege steht. Kunst kann gesellschaftliche Zustände verzerrt, also als anders möglich darstellen. Sie kann provozieren, inspirieren, das Gehirn fordern und fördern. Sie kann ein Spiegel der Gesellschaft sein, der zu offensichtlich Verstecktes freizügig präsentiert. Das kann die Kunst aber umso besser, je weniger sie von ihrem Publikum und deren Geldbeutel abhängig ist.

In Europa begann bereits Shakespeare damit, das Publikum mehr zu verwirren, als zu unterhalten. In Hamlet wird auf der Theaterbühne Theater gespielt, und die Protagonisten sehen sich in ihrem Theaterstück selbst, während das reale Publikum den Protagonisten als Publikum auf der Bühne dabei zusieht, wie es sich selbst zusieht. Das ist heute, da wir darüber reden können, noch großartiger als es damals war. Wenn er vom Geld des Publikums abhängig gewesen wäre, hätte er komplett unlösbare Geldschwierigkeiten gehabt und auf dem Feld gearbeitet.

In Europa ist es auch nicht unüblich, das Bühnenstücke 5h dauern. Selbst über zwanzigstündige und längere Aufführungen stößt man zuweilen. Und falls nicht die Länge überfordert, ist es die Ekelhaftigkeit in der Darstellung, die manchmal dazu führt, das Unvorbereitete den Publikumsraum schreiend verlassen. Gleichsam kann man aber in Europa Kunst finden, die wirkt als wäre sie für einen höchstpersönlich geschaffen.

Es ist nicht schwierig, sich in Europa vom Alltag abzulenken. Ein einfacher Gang ins Museum oder Theater genügt. Und Museen und Theater gibt es an jeder Ecke. Es ist eine Nachwirkung der einstigen Kleinstaaterei, das es beispielsweise in Thüringen in jedem 30.000 Einwohnerstädtchen mindestens ein Theater und in Großstädten unzählige gibt.

In Amerika ist das alles nicht so. Museen und Theater mit Niveau gibt es nur in Ballungsräumen oder traditionsreichen Universitätsstädten. Und das, was dort geboten wird, ist aus europäischer Perspektive nur sensationell. An New York lässt sich das verdeutlichen. Im MoMA gibt es nur großartige Kunst. Dabei handelt es sich entweder um europäische Importe oder farbenfrohe Basteleien von Andy Warhol. Alles, was dort an Bildern hängt, kennt man bereits vorher aus Büchern und von Fotos. Keine endlosen Gänge wie im Louvre, in denen man sich ohne Weiteres in tausenden Exponaten aus Zentralafrika oder Indonesien verlieren kann. Was in New York auf den großen Musicalbühnen stattfindet, ist so pompös, dass man kaum Zeit und Kapazität hat, über den Unterhaltungsaspekt hinaus zu schauen – das Erlebte verschwindet so schnell, wie es hervorpreschte, und bleibt dabei ziemlich anspruchslos.

Wer in Amerika dem Alltag entfliehen will, und sich mit Grübeln nicht zufriedengibt, kann nicht auf ähnlich einfache Weise losziehen und sich in dem Massenangebot der Künstler verlieren. So sehr die Nachfrage danach ist, es gibt schlicht kein Angebot, das über die pure Unterhaltung hinausreicht. Wer „das andere“ erfahren will, findet es eher in der Kirche. Dort kann man in der Masse zu sich selbst finden. Die Religion leistet den Alltagsausgleich, den in Europa die Kunst übernimmt.

Eine Ausnahme ist der Film. Allerdings scheint das auf das besondere Verbreitungsmedium zurückführbar. Ein Film zu zeigen ist nicht besonders aufwändig, er findet schnell ein Massenpublikum – so konnten sich in Hollywood immer ohne Probleme gesellschaftskritische, fantastische oder abwägig-fiktionale Spartenfilme durchsetzen.

2 Kommentare

  1. Rena Schwarting sagt:

    Auf die Gefahr hin, dass ich Dich nicht „richtig“ verstanden habe, versuche ich dennoch eine etwas andere Erklärung für Deine Beobachtungen vorzustellen:

    Habe ich Deine These richtig verstanden, dass Du die „Religion in USA mit der Kunst in Europa äquivalent setzt“? Falls dies der Fall ist, könnte man Dein Pragmatismus-Argument aber auch einfach mit Liberalismus oder der funktionalen Ausdifferenzierung erklären: (Zunächst würde ich dann aber das, was Du als Religion bezeichnest, als Moral beschreiben. Denn warum sollte sich Kommunikation im Religionssystem politisch begründen lassen, wenn es ein Religionssystem gibt? Die politische Predigt ist eben keine religiöse. Und das, was Du als Kunst in USA beschreibst würde ich eher dem Wirtschaftssystem zuschreiben).

    Man könnte dann mit dem Liberalismus bzw. mit der funktionalen Differenzierungsthese argumentieren, dass in USA die Moral in der Wirtschaft oder in der Politik „keinen bzw. weniger Platz“ (als in Europa) hat. Aus diesem Grund werden in USA mit moralischen Verweisen auch keine Zahlungen von der Politik an die Kunst begründet, sondern bleiben Zahlungen des Wirtschaftssystems: Kunst beobachtet die Gesellschaft, aber mit Kunst lässt sich auch Geld verdienen. Das ist ähnlich wie mit dem Mediensystem. Moral ist jedoch eine vormoderne Kategorie, die in funktional differenzierten Gesellschaften auf Interaktion beschränkt bleibt.

    Ich würde also folgern, dass in USA gerade die moralische Kommunikation Einzug in politische Interaktionen hält (und weniger in die Organisationen! Wie Du in vorangegangen Beitrag feststellst). Als Grund lässt sich mit Petra Hiller anführen, dass Moralkommunikation personalisiert und demnach Nachrichtenfaktoren generiert. Moralische Kommunikation ist also aufmerksamkeitsstärker als sachliche Argumente. Demzufolge lässt sich schließen, dass das Mediensystem in USA ausdifferenzierter ist als in USA (nicht im Sinne von „fortschrittlicher“ als modernisierungstheoretische Prämisse zu verstehen.) Dies lässt sich auch empirisch feststellen, wenn man die massenmediale Beobachtung von Wahlkämpfen in USA und Europa vergleicht, wie wir es in den vergangenen Monaten verfolgt haben.

  2. Stefan Schulz sagt:

    Ja, Moral ist der Begriff der mir hier fehlte… Habe gerade noch in einem Text von Kieserling (Das/Vom Ende der guten Gesellschaft, Titel erinner ich grad nich so ;-) gelesen, das Parsons beim Begriff Säkularisierung nur an eine Umstellung von „Hierarchie“ auf „Interpenetration“ denkt. Er bezieht das wie so vieles direkt auf die USA. Heisst ja, Säkularisierung entmachtet die Kleriker also nur, die religiöse Kommunikation bleibt jedoch, jedoch nicht mehr als repräsentative Kommunikation sondern ‚interpenetrant‘ als moralische Kommunikation, die immer und überall Werte thematisiert.

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