Oder: die Mythen der Bildungsforschung
Ich werde niemanden damit überraschen, wenn ich schreibe, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben, deren gesellschaftlicher, organisationaler und individueller Wandel immer schneller voranschreitet und in der wissensbasierte Qualifikationen und lebenslanges Lernen von höchster Priorität sind, um den mehrdimensionalen Wandel nicht nur zu bewältigen, sondern auch gestalten zu können. Jeder kann und darf unhinterfragt behaupten, dass wir es mit einer dynamischen Wissensgesellschaft zu hätten. Die fraglose Verbreitung dieser beiden gesellschaftlichen Mythen überrascht mich allerdings jedes mal aufs Neue. Wer oder was ist denn die „Wissensgesellschaft“ und wo ist der Tacho, auf dem man die zunehmende Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels ablesen kann?
Höher! Schneller! Weiter!
Warum darf sogar in wissenschaftlichen Publikationen, quer durch die Disziplinen in den Einleitungen immer wieder behauptet werden, dass der gesellschaftliche Wandel (hier ließe sich je nach Thema oder Disziplin auch etwas spezifischeres einsetzen) immer schneller voranschreite, ohne dass dafür irgendein Beleg angeführt werden muss? Mal angenommen, es gäbe noch ein ernsthaftes Lektorat, warum werden solche Behauptungen nicht gestrichen? Bei der Behauptung der gesellschaftlichen Dynamik handelt es sich um einen Alltagsmythos, der unreflektiert auch in der Wissenschaft verwendet wird, weil er immer wieder Begründungen für die abenteuerlichsten Forschungsvorhaben liefert. Da alles immer schneller wird und alle zu erfoschenden Phänomene dementsprechend etwas neues an sich haben müssen, legitimiert dieser Mythos nahezu jede Fragestellung. Das führt dazu, dass Projekte immer wieder aufs Neue durchgeführt werden können, was unter forschungsökonomischen Gesichtspunkten natürlich eine großartige Chance ist. Das Resultat ist eine ahistorische Forschung, die ihre eigene Geschichte und Tradition negiert, ja vergessen und ignorieren muss. Der wissenschaftliche Wandel, der sich ja ebenso rasant entwickelt, bringt zwar in immer schnelleren Zyklen neue Begriffe, Theorien und Moden hervor. Aber die Veränderungen spielen sich dabei eben meist auf der semantischen Oberfläche ab und auf der inhaltichen Ebene wird das Rad für jede Publikation neu erfunden. Neues entsteht dabei selten und wenn, dann nur aus Zufall.
Wissensgesellschaft?
Mal davon abgesehen, dass die Gesellschaft nicht aus Wissen, sondern durch Kommunikation besteht, bleibt doch die Frage, ob es tatsächlich immer „geistiger“ zugeht. Zumindest was das Fernsehen angeht, kann man mit Reich Ranicki gegenteiliger Meinung sein.
Das Fernsehen mag ein singuläres Phänomen sein, dem ja schon seit seinem Bestehen „Verblödung“ vorgeworfen wird. Aber auch andere Bereiche, insbesondere Schule, Universität und Ausbildung erleiden einen Wandel, der durch Bemühungen der Wissensgesellschaftsgläubigen gekennzeichnet ist. Hier trifft man auf das gleiche mythologische Phänomen, das ich oben schon beschrieben habe. Lehr- und Lernprozesse werden mit dem Verweis auf die zunehmende Bedeutung der Wissensgesellschaft ständig neu erfunden. Dabei wird die Wissensgesellschaft einfach behauptet und im wissenschaftlichen Kontext so gut wie nie belegt. Die Bildungsforschung im besonderen Fall wird dadurch besonders ahistorisch und semantisch marktschreierisch, weil sie gleich zwei gesellschaftlichen Mythen in einer obskuren, aber etablierten Verbindung aufsitzt. So kommt es dazu, dass immer neue Kompetenzen entdeckt, „gemessen“ und gefordert werden und mittlerweile der Komplettmensch in Form von Humankapital in das Visier der Wertschöpfungsbemühungen geraten ist und sich die Bildungsambitionen nicht mehr nur auf die fachlichen Ressourcen beschränken. Selbstkompetenz, lebenslanges Lernen, lernende Organisationen, Qualitätssystem, Schlüsselqualifikationen und Gestaltungsphantasien sind das Resultat der letzten Jahrzehnte Bildungsforschung und -beratung. Die Kakophonie semantischer Feuerwerke erzeugt ein Gewitter greller Begriffe, die die Bildungsbeteiligten erfürchtig staunen und letztlich verblöden lässt. Denn vor allem die ahistorische, ehemals etablierte Erkenntnisse negierende Forschung und Beratung im Bildungsbereich führt zu einer Reformspirale, die Lernprozesse (egal auf welcher Ebene) in der Regel verhindert. Lernen des Lernens Willen. Pädagogische Bemühungen zum Selbstzweck. Soweit ist es mittlerweile vielerorts gekommen. Es ließen sich mannigfaltige Beispiel aus den verschiedensten Bereichen heranziehen. Letztlich sind sie offensichtlich, werden aber durch mythisch begründete Begriffserfindungen überdeckt. Und für das Bildungssystem und die daran interessierte Forschung ist das nur funktional: Es ermöglicht, immer weiter zu machen, da sie ihre eigenen Prämissen nicht benennt.
Publikationen, die die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels unbelegt behaupten oder propagieren, man lebe in einer Wissensgesellschaft, sollten mit Skepsis gelesen werden. Bücher, die beides in Verbindung behaupten, können eigentlich gleich wieder in das Regal gestellt werden.
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