Sprechstundenproblemchen

Warum gehen viele Menschen eigentlich so ungerne in Sprechstunden? Sei es die Konsultation eines Arztes, der Besuch beim Bürgeramt oder die die Beratung beim Professor, alle Situationen haben eins gemein: Sie sind unbefriedigend. Und zwar für beide Seiten, für denjenigen der die Sprechstunde anbietet und für die Person, die in die Sprechstunde kommt. Der Grund für die unbefriedigende Situation liegt darin, dass hier Routine die Interaktion einseitig determiniert und damit stört. Warum nur kann man sich damit nicht abfinden?

Das Beispiel der Sprechstunde, die ein Professor seinen Studierenden anbietet, um ihre Hausarbeiten zu besprechen oder in Prüfungsfragen zu beraten, wird das Beispiel sein, um der Antwort auf die obige Frage nachzugehen.

Routinehandlung

Für den Professor, als Mitglied der Organisation Universität, ist seine Sprechstunde und die Beratungsleistung eine Routinehandlung. Die Verwaltung von Studierenden und ihren Angelegenheiten ist nicht nur eine sich wiederholende Aufgabe, sondern im systemtheoretischen Sinne eine in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen auftauchende Umweltinformation, die nach Gesichtspunkten konditional programmierter Vorgaben der Universität bearbeitet werden muss. Dass heißt für den Professor, dass er immer dann, wenn Beratungsbedarf Seitens der Studierenden angemeldet wird, einen Sprechstundentermin anbieten muss, in dem er studienrelevante Themen mit den Studierenden diskutiert. Vor der Interaktion ist bereits entschieden, wer teilnimmt, auf welche eng umfassten Themengebiete man sich beschränken muss und in welchem Zeitrahmen das Ganze über die Bühne gebracht werden muss. Für viele alltägliche Interaktionen sind diese Einschränkungen (vor der eigentlichen Interktion!) untypisch. Warum?

Ansprüche an Interaktion: Takt

Alltägliche Interaktionen (und damit sind solche gemeint, die keinen direkten Einfluss von organisationalen Zumutungen aufweisen) müssen taktvoll gestaltet werden. Das bedeutet vor allem, die Darstellungen des Gegenüber zu stützen, zu respektieren und auch über Situationen hinwegzuschauen, in denen offensichtlich ist, dass es sich um eine Darstellung handelt. Den anderen seine Rolle spielen zu lassen und auf dieser Grundlage seine eigene Darstellung inszenieren zu können, ohne dabei der Gefahr ausgesetzt zu sein, in das offene Messer der Demaskierung laufen zu müssen, nennt man gemeinhin taktvollen Umgang.

Solch alltäglich Interaktionen leben in der Regel mit sehr wenigen Einschränkungen in sozialer, sachlicher und zeitlicher Dimension. Vielmehr werden die Grenzen der Interaktion in ihr selbst ausgehandelt, wobei maßgeblich auf die Darstellungsbedürfnisse der Beteiligten zu achten ist, sofern einem an einem taktvollem Umgang gelegen ist. Und genau diese Freiheit ist in der Sprechstunden-Situation unmöglich, weil in ihr die Grenzen bereits im Vorfeld durch die Routineprogramme der determinierenden Organisation gesetzt wurden.

Taktunfähigkeit der Routine

Der Student, der sein Anliegen beim Professor vortragen möchte, ist in der Wahl der Themen soweit eingeschränkt, dass er ohne Umschweife auf das Ziel hin losreden muss. Das ist unangehm, weil keine Zeit bleibt, sein inhaltliches Anliegen in entsprechende Ausführungen zu kleiden und darüber sein Gegenüber am eigenen Aufbau der Rolle und einem Verhalten zum Anliegen zu unterstützen. Ohne seine Ausführungen auf sachlicher Ebene einleiten zu können, gibt man sich darüber hinaus auf der Sozialdimension in die Gefahr der formalen Ablehnung, indem sich der Professor gar nicht erst auf persönlicher Ebene in die Interaktion begibt, sondern lediglich als Organisationsmitglied auftritt und jegliche persönliche Rollenbeziehung in der Interaktion vermeidet. Diese potentielle Gefahr der persönlichen Blöße ist faktisch ein Hemmnis, das jede Sprechstunden-Interaktion mit sich bringt. Problematisch ist in Sprechstunden darüber hinaus das starre Zeitbudget, das garantiert verhindert, dass eine Interaktion, die trotz enormer Hürden, einmal angelaufen ist, auch zu einem taktvollen Ende geführt werden könnte. Darauf kann in der Regel keine Rücksicht genommen werden, wartet doch meist schon der nächste Kunde vor der Tür.

Für den Professor sieht es indes nicht besser aus. Steht er doch vor dem gleichen Problem der vorher festgelegten Begrenzung der Interaktion auf sozialer, sachlicher und zeitlicher Dimension. Für ihn liegen die Gefahren der Interaktion allerdings noch zusätzlich in zwei Bereichen, die hier kurz genannt werden müssen. Zum einen wird sein Beitrag zur Inteaktion nicht auf ihn persönlich, sondern auf das Routineprogramm der Organisation zugerechnet. Er ist schließlich nicht freiwillig da, sondern weil er dafür bezahlt wird. Er hat auf jeden Fall schlechte Karten, um persönlich zu glänzen. Zum anderen gilt er als der Statushöhere, weshalb ihm die Verantwortung für persönliche Initiative obliegt. Das allerdings ist riskant, weil er damit aus der Rolle des Routineprogramms hinaus fällt und sich auf verschiedene Weise angreifbar macht. So ist nicht nur der Professor gefürchtet, der sich bei jungen, attraktiven Studierendinnen besonders persönlich engagiert zeigt, sondern auch derjenige Professor, der soviel damit beschäftigt ist, seine Routine-Rolle abzulegen, dass er seinen ursprünglich geforderten Beratungsleistungen nicht mehr nachkommen kann.

Für beide Seiten, die Studierenden und den Professor ließen sich sicherlich noch einige Beschränkungen und Risiken thematisieren. Es wundert unter diesen Prämissen allerdings nicht, dass Studierende und Professoren wechselseitig übereinander kaum gute Worte verlieren. Die Interaktion ist schließlich programmatisch unbefriedigend.

Lösungen? Keine.

Mal davon abgesehen, dass die wechselseitigen Lästereien bereits eine Lösung des Problems darstellen, was zumindest die emotionale Augeglichenheit der Beteiligten angeht, muss darüber hinaus eingesehen werden, dass man wohl mit solchen unbefriedigenden Situationen leben muss. Denn zu starkes persönliches Engagement in routineprogrammierten Interaktionen riskiert die Demaskierung der eigenen Darstellung. Diese Taktlosigkeit ist durch den formalen Anklang der Interaktion nämlich gedeckt und muss weder gerechtfertigt noch verantwortet werden. Bliebe noch, an die Beteiligten zu appellieren, ihre Ansprüche an die Interaktion zu mäßigen und auf die Routine-Handlung der Organisation hin auszurichten und sich von einer unbefriedigenden, weil taktlosen Interaktion nicht enttäuschen zu lassen. Für das Mitglied der Organisation könnte man qua Entlohnung oder Ähnlichem einen Ausgleich anbieten, für das Publikum aber nicht. Es wird weiterhin ungerne die Sprechstunde aufsuchen. Und diejenigen, die die Sprechstunde anbieten, werden das wissen und sich entsprechend darauf einstellen. Lösungen gibt es allerdings keine.

Dazu lesenswert: Niklas Luhmann, Lob der Routine

2 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Aber (ohne es jetzt soziologisch aufzudröseln). Ich gehe sehr gerne in Sprechstunden, auch zum Arzt. Das Problem bei Ärzten ist nicht, dass ich die Interaktionssituation nicht mag, sondern, dass es sich eben um ein Arzt handelt, der eventuell irgendwas an mir macht. (Da ist der Zahnarzt dann besonders schlimm, weil er so nah an meinen Sinnesorganen rumdokort.)

    Sprechstunden sind von mir bevorzugte Interaktion. Probleme entstehen dann, wenn versucht wird Interaktion zu beginnen, obwohl die Situation nicht als Sprechstunde ausgeflagt ist. Bsp. wird die Anwesenheit eines Dozenten während einer Vorlesung gerne „mißbraucht“, um ihn Fragen zu stellen, die nichts mit der Vorlesung zu tun haben. In dem Fall trifft die These zur Routineunterbrechung meiner Ansicht nach zu. Daher finde ich es auch verständlich, wenn Dozenten vor und nach einer Vorlesung alle Fragen mit „Kommen sie in meine Sprechstunde“ abtun.

    Jedoch. Wenn die Sprechstunde dann läuft, ist der Dozent selber schuld, wenn er Routineerwartungen aufrecht erhällt… Verstehe sowieso nicht wie das gehen soll… Welche Sprechstunde ist denn Konditionalprogrammiert und welcher Sprechstunden-Anbietende ist denn überrascht, weil er eine Frage gestellt bekommt, die er nicht auf (s)einem Wenn-Dann-Routinezettel vermerkt hat…

    Das einzige was von der Sprechstunde programmiert wird sind Ort und Zeit. Der Rest wird (beinah komplett!) dem Eigenrecht der Situation übergeben.

    Ich jedenfalls empfinde Sprechstunden als sehr entlastend, weil eben klar ist, dass ich in diesen Situationen nicht störe. Und falls ich das Gefühl habe zu stören, kann ich es allein auf die Persönlichkeit des Sprechstunden-Anbieters zurechnen.

    Die „Problemchen“ die du hier oben formulierst, treffen immer und überall in organisierter Interaktion zu, aber gerade nicht in Sprechstunden. Ich würde das Argument also auf Links krempeln.

  2. Stefan Schulz sagt:

    Nachtrag: Folgende Sätze von dir: „Zum einen wird sein (Professor) Beitrag zur Inteaktion nicht auf ihn persönlich, sondern auf das Routineprogramm der Organisation zugerechnet. Er ist schließlich nicht freiwillig da, sondern weil er dafür bezahlt wird. Er hat auf jeden Fall schlechte Karten, um persönlich zu glänzen. Zum anderen gilt er als der Statushöhere, weshalb ihm die Verantwortung für persönliche Initiative obliegt.“

    …würde ich genaus entgegengesetzt formulieren. ;-)

    -ich rechne natürlich auf den Dozenten zu.
    -er ist freiwillig da, sonst wäre er ja nicht da.
    -er hat gute Karten persönlich zu glänzen, weil seine organisatorische Rolle durche die private Atmosphäre der Sprechstunde zurücktritt.
    -die Initiative liegt nicht bei dem der die Sprechstunde anbietet, sondern bei dem der sie wahrnimmt.

    Wie immer: Organisation schön und gut… In der unmittelbaren Interaktion tritt sie zurück und stellt bei aktiver Rückbindung (Formalisierung) eine Krise der Interaktion dar.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.