Zum Thema Sarrazin etwas Lesenswertes, Konstruktives zu finden war nicht ganz einfach. Dass der Mann ein Geschichtswissenschaftler mit einer beeindruckenden Publikationsliste ist, bleibt im Medientheater verborgen. Man kennt ihn als Finanzsenator und Bankvorstand und als Meinungsbekundler.
Seine zuletzt vorgetragenen Meinungen sind derart haarsträubend, dass man inhaltlich dazu nichts sagen muss. Wie man zu vielen anderen Autoren auch nichts sagt, weil man sie nicht kennt oder sie nach Buchdeckellektüre links liegen lässt.
Die Frage ist, wie schaffte es Thilo Sarrazin die Medien in einen derartigen Aufruhr zu versetzen..? Es lag offensichtlich nicht allein daran, dass er momentan Vorstandsmitglied in der Bundesbank oder Mitglied der SPD ist.
Eine meiner Meinung nach recht nachvollziehbare Begründung lieferte letztes WE Frank Schirrmacher: „Thilo Sarrazin ist der Ghostwriter einer verängstigten Gesellschaft.“ Das erscheint schlüssig. Den Deutschen wird ja sowieso die „german angst“ nachgesagt. Wie groß und konkret sie tatsächlich ist, sah man erst kürzlich bei der Hamburger Bürgerbefragung zum Schulsystem. Die Gesellschaft ist verängstigt und orientierungslos. Selbst Menschen, die einen Uni-Master mit 1.0 abschließen, leben mit einer 3-Monats-Perspektive und fürchten sich vor dem Tag hinter diesem Horizont.
Und so stürzt man sich gern ins unbekannte Terrain des Biologismus. Wenn schon die Gesellschaft keine Orientierungspunkte mehr liefert, so ist es doch sicherlich die gottgegebene Biologie, die uns Wahrheit und Halt liefert. Das nun gerade die Intelligenz als Begriffsanker herhalten muss, ist in der Wir-sind-alle-hochbegabt-Hysterie des letzten Jahrzehnts nachvollziehbar. Doch weiß man doch mittlerweile durch die Statistik und Literatur auch, dass es gerade die Intelligenten sind, die ihren Zwang zum Nachdenken durch Depression und Fundamentalismus ausgleichen. Intelligent(er) zu sein, ist sicherlich kein Grund zur unbedingten Freude.
Eine weitere Erklärung für den sarrazinesken Medienstress liefert aber sicher auch noch ein anderer Punkt: Die wütende Gesellschaft. Es gibt so viel Grund, momentan so richtig wütend zu sein: Krise, Kriege, Katastrophen – und niemand ist Schuld oder verantwortlich zu machen. Wie lange hat man sich danach gesehnt, mal wieder richtig personenbezogen Hassen zu können. Und zwar nicht platt und vorwurfsvoll, sondern elegant und durchdacht mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments im Ärmel. Sarrazin sei Dank, kann und darf nun jeder einmal die Wahrheit sagen. Es ist nicht Mal nötig, etwas über Epigenetik zu wissen oder darüber, wie kritikwürdig die Mehrheit der Intelligenztests gestaltet ist. Es reichte zu wissen, „das es so einfach“ und „volksverhetzend“ ja nicht sein kann/darf.
Thilo Sarrazin ist jetzt erstmal Privatmann. Das Medientheater hat damit hoffentlich ein Ende. Nicht, weil es wichtigere Themen gibt, sondern weil sich die profilierungsgeile Politiker- und Journalistenscharr beim abfackeln ihres selbstgebauten Strohmannes zu offensichtlich blamiert.
(Bild: Aaron Logan)