(Buchempfehlung) Thema: Staatsschulden

Seit 2008 die „Krise“ losbrach, kamen, auch in Texten dieser Seite, viele soziologische Fragen auf, die den Unterbau der „wirtschaftlichen Realitäten“, wie er in den Massenmedien erzählt wurde, betrafen. Eine, und die mich am meisten interessierende, war die nach dem Phänomen der Staatsschulden. Während Unternehmen als Organisationen des Wirtschaftssystems klar was mit Geld zu tun haben und sich beinah gänzlich darauf (Kosten und Profit) reduzieren lassen, nicht weil es erkenntnisfördernd ist (ihren Organisationscharakter zu ignorieren), sondern weil es der Semantik der Gesellschaft entspricht, liegen bei Staaten doch andere Grundlagen. Ein Staat ist weder als Organisation noch als primär wirtschaftliches Phänomen zu begreifen. Doch gerade er ist die Instanz, die dem alltäglichen Geld, nach der Abkehr von materieller Rückversicherung, seinen Wert verleiht.

Das Ausgangsproblem setzt sich also wie folgt zusammen: (1) Geld sind offene Kredite; (2) der Staat ist der potenteste, tauglichste Schuldner – also ein guter „Geldwertabsicherer“; (3) Staatsschulden sind aber auch ein nationales Übel, dass staatliches/politisches Handlungsvermögen bindet; (4) Staatsschulden müssen, der Generationengerechtigkeit wegen, zurückgezahlt werden.

So gesehen gibt es die eine oder andere Ungereimtheit. Wie können überhaupt nur Staaten über Verschuldung Geld diesen vertrauenswürdigen Wert verleihen? Wieso werden Staatsschulden so negativ gesehen und warum wird seit Ewigkeiten das Märchen der Rückzahlung erzählt? Muss man sich einen Mittelweg vorstellen, auf dem der Staat genügend Geld per Verschuldung „herstellt“, damit es überhaupt eine moderne Wirtschaft gibt, auf dem er aber auch aufpassen und sparen muss, um nicht seine Handlungsfähigkeit zu verlieren. Und ganz praktisch: Was ist, wenn ein Staat Pleite geht und den Wert einer Währung mit sich reißt? Was passiert, wenn den USA niemand mehr glaubt, dass sie ihre Schulden bedienen können, und somit der Dollar an Wert einbüßt, mit ihm aber auch ein Staat untergeht, der auf der ganzen Welt Atombomben und durchtrainierte Kampfeinheiten verteilt hat..? (Staatschulden sind leicht ersichtlich kein primär wirtschaftliches Thema.)

Für soziologisch interessierte gibt es viel Klärungsbedarf. Seit letzter Woche liegt das, bereits vor ein paar Monaten angekündigte und mit Vorfreuden erwartete Buch von Thomas Strobl vor, das mit dem Titel „Ohne Schulden läuft nichts“ und der Kurzbeschreibung „(…)So funktioniert der Kapitalismus! Und die Staaten der Welt bilden die Nachhut. (…)“ Erklärungen verspricht. (Die Widmung geht übrigens an die Fans der schwäbischen Hausfrau, von denen wir wissen, dass sie das Sparen idealisieren, während sie gleichzeitig die Milliarden raushauen.) Das ist also thematisch das Buch der Wahl.

Normalerweise habe ich einen extrem selektiven Lesestil. Da ich aber das Journal von Herrn „Weissgarnix“ (und Herrn Luebberding) sehr gerne lese, betrachtete ich das Buch als langen Blogartikel und hatte dementsprechend auch langen Spaß damit. Es ist so locker geschrieben, dass ich es direkt weiterleite an eine Person, die mit Soziologie ‚und so‘ nichts am Hut hat, sich aber dennoch fragt, ob das mit dem Wachstum denn alles wirklich sein muss.

Zum Buch: Wenn man die ungelösten Rätsel von „Eigentum, Zins und Geld“ von Heinsohn/Steiger gelesen hat, kennt man die These, dass der initiale Funke der Moderne darin bestand, Menschen, die als Bauern und Arbeiter fremden Besitz bestellten/bearbeiteten diesen als Eigentum übertragen bekamen und dadurch pfändbare Güter besaßen, die erstens individuell Investitionen  ermöglichten und zweitens die Schulden/Zinsspirale des modernen Wirtschaftssystems entfachten, während die Menschen auf der einen Seite aus personenbezogener Verantwortung (Sklaverei, Lehnwesen) entlassen wurden und auf der anderen Seite ihre Erwartungsstrukturen am neuen Medium „Geld“ (und damit Markt und Zukunft) ausrichteten.

Strobls Buch knüpft an diesem Phänomen an (lieber hätte ich geschrieben: an dieser historischen Ausgangsstellung) und klärt aus heutiger Perspektive rückblickend über die Genese des Finanzmarktkapitalismus auf. Dabei gelingt ihm über das ganze Buch hinweg ein Schwenk über die historischen Etappen des Finanzwesens bis hin zur modernen, beinah tagesaktuellen Problemlage des Finanzmarktkapitalismus.

Statt den Beginn historisch zu plausibilisieren, nutzt das Buch die Bandgeschichte von The Who und die Buddenbrooks als metaphorischen Einstieg. Das erste Kapitel orientiert sich also eher an Semantik und ist somit auch reine Literatur, zumindest aus soziologischer Sicht. Kapitel 2 und 3 sind dagegen wahre „Volltreffer, Versenkt“-Kapitel. Zum einen, weil, wie immer häufiger zu lesen, die Neoklassik sehr instruktiv in Grund und Boden geschrieben wird, zum anderen, weil gerade Karl Marx herangezogen wird, um die grundlegende Unterscheidung von Konsum und Investition zu erklären und ihre Bedeutung für das moderne Wirtschaftssystem zu begründen. Wie sich britische Ökonomen gegenüber der Queen für ihre Blindheit vor der Krise entschuldigen oder warum Merkels Satz, „Wir gehen gestärkt aus der Krise“ ein Trugschluss ist, liest man amüsiert nebenbei.

Besonders gelungen sind die Erklärungen zum Problem der Zeit im Wirtschaftssystem. Mit Krediten belastetes Eigentum ist eine Wette in die Zukunft, die sich durch nichts anderes offenbart als Offenheit (wie Historiker sagen) und Unsicherheit (worauf Soziologen Wert legen). Wirtschaftliches Handeln muss somit stets von erheblichem Optimismus getragen werden – ruht also auf einer gehörigen Portion Irrationalität. Und damit auf dem Gegenteil dessen, was sich „vernünftige“ Ökonomen wünschen und was mathematisch abbildbar ist. Bei Luhmann steht es kompliziert, bei Strobl recht einfach verständlich. Neben der Unterscheidung von Konsum und Investition wartet das dritte Kapitel noch mit einer weiteren Unterscheidung auf, die ich bislang in ihrer ursprünglichen Form anscheinend stets unterschätzte: Produktion und Handel. Die Verknüpfung von Menschen-konsumieren, Banken-investieren-in-Realwirtschaft und Banken-investieren-in-Staatsanleihen hat mich überrascht. Leider kommt das (Handels-) Problem der Mehrfach-Verbriefung bzw. der Bündelung von Finanzhandelsware nur sehr kurz vor. Ich vermute da noch mehr Problemlagen, gerade weil in den letzten Jahren häufig das Phänomen thematisiert wurde, das die Schulden einmalig gebauter Häuser mehrfach neu verbrieft wurde – soweit, dass zuweilen keiner mehr durchblickt und eine rechtliche Auflösung der wahren Eigentumsverhältnisse fast unmöglich scheint.

Das Problem der Staatsschulden betreffend, sind die Kapitel 2 und 3 des Buches der erste Text, der individuelle Konsumentscheidung und die Investition in Staatsanleihen, also die Bandbreite der Möglichkeiten, was man mit Geld machen kann, in einen Zusammenhang stellen, den ich jetzt so verstanden habe, dass ich ihn nacherzählen kann. Kapitel vier greift lohnenswert in die Zukunft. Da muss jeder Leser selbst sehen, in wie weit die sich an der Realität orientierenden Projektionen und Ausblicke wichtiger Autoren erkenntnisfördernd sind. Interessant ist es allemal und das wir 2010 nicht am Ende der Geschichte angekommen sind ist leicht ersichtlich. Gerade heute scheint die Zukunft ja unsicherer denn je – ein Ausblick kann also nicht schaden, auch wenn er zum Teil auf hundert Jahre alten psychoanalytischen – ich sag mal – Wirrungen beruht.

Noch zwei Kritikpunkte

Der instruktive Schreibstil geht auf Kosten analytischer Tiefe (zwangsläufig, wenn das Buch nicht quantitativ ausarten soll). Da es nicht der Anspruch des Autors war, einen Anschlussband an „Eigentum, Zins und Geld“ zu schreiben, ist das nur eine halbe Kritik. Dennoch bleiben einige Fragen offen, und zwar vor allem die, die sich nicht makroökonomisch beantworten lassen. Dazu zählt u.a. der Umgang mit Erwartungen in der Wirtschaft. Die Kreation eines „subprime“-Wertpapieres ist ja nicht nur eine mathematisch-magische Aufgabe, sondern auch eine des tatsächlichen An-den-Mann-bringens. Die Beschreibungen der großen Vermögen, die ratlos auf Rendite-Suche sind und „subprime“-Papiere finden sind recht kurz. Damit zusammen hängt auch die oben genannte, grundlegende Frage: Warum zweifelt niemand (Privatperson, Organisation, Staat) an der Zahlungsfähigkeit der USA und kauft US-Staatsanleihen? Das Buch hat Erklärungen: „Herdentrieb“ und Alternativlosigkeit beispielsweise – doch irgendwie fehlt da noch eine letzte Stufe an Plausibilisierung. (Wobei der große Crash am Ende des Buches nicht ausgeschlossen wird – vielleicht gibt’s gar keine Erklärung und der Zweifel bricht sich irgendwann tatsächlich Bahn und löst einen apokalyptischen Herdentrieb aus..?)

Der zweite Kritikpunkt ist etwas folgenreicher: Im Buch wird mehrmals eine Unterscheidung von Moral und Marktwirtschaft in Stellung gebracht, deren Sinn ich nicht nachvollziehen kann. (Jedenfalls reicht es meiner Ansicht nach nicht, „Schulden“ begrifflich aus „Schuld“ abzuleiten, wie es ein Sloterdijk-Zitat aufzeigt.) Moral, soziologisch als generalisierte Achtungsbedingung, ist ein Aspekt des einfachen, menschzentrierten Zusammenlebens, der Interaktion unter Anwesenden. Dass die Wirtschaft ohne Moral auskommt stimmt selbst im Sinne der Systemtheorie nur insoweit, wie sich in ihr keine Menschen begegnen sondern Zahlungen aneinander anschließen. Wirtschaft ist aber auch das Zahlen an der Kasse, das Verhandeln in der Bankfiliale und das Übernehmen einer Wohnung. In solchen Interaktionssituationen hat man es mit Menschen zu tun, die Rollen spielen aber nicht vollständig in ihnen aufgehen. Die „Eigenrechte der Situation“ entfalten sich auch in der modernen Gesellschaft. Moral kann, als soziales Regulationssystem, nicht gegen das der Wirtschaft in Stellung gebracht werden, weil es auf einer anderen Ebene aktiv wird. Wirtschaft ist Gesellschaft, Moral ist (in Form von Achtungserweisung) Interaktion. Allerdings kann man die Textstellen, in denen die Moral/Marktwirtschaft-Unterscheidung erwähnt wird ohne großen Verlust ignorieren (oder den Moralbegriff im Kopf durch den der Ethik ersetzen, dann hat es auch eher Sinn) – das wäre zumindest mein Tipp, wollte man nicht jedes Werturteil bzgl. Wirtschaft, das man als menschlicher Leser hat, als unangebrachte, weil allzu menschliche, womöglich noch „linke“, Kritik missverstanden wissen.

In diesem Sinne ist es auch schade, dass allein der Goldman-Sachs-Chef mal als Akteur sein Fett weg kriegt. Im Buch wird, meiner Meinung nach, etwas zu sehr darauf geachtet, alles auf Strukturen zu münzen, obwohl doch jede Sozialstruktur eine Erwartungsstruktur ist – das menschliche Element also nicht so einfach herauszurechnen ist. Wobei am Ende viel wert drauf gelegt wird, darzustellen, dass die Innovationsantriebsfeder der Wirtschaft sehr wohl eine sehr menschliche Angelegenheit ist (bzw. sein kann, denn es sind gerade die als Thesen des Autors ausgeflaggten Passagen). Also, da muss man sehen, wie sich das mit den eigenen Erkenntniserwartungen verhält, aber meiner Ansicht nach geht das Buch sehr unklar mit dem Unterschied von Interaktion und Gesellschaft um, nicht nur beim Thema Achtung/Moral.

Gesamturteil: Leseempfehlung. Kein Text hat mir bislang die grundlegenden Zusammenhänge der modernen Wirtschaft und das Problem der Staatsschulden so klar dargelegt. Die Prämissen sind klar und die Zusammenhänge verständlich. Die Verknüpfung historischer Grundlagen (die dennoch zu kurz kommen) und tagesaktueller Probleme ist wirklich sehr gelungen.

Thomas Strobl: Ohne Schulden läuft nichts

(Bild: Arne Böll)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

1 Kommentar

  1. Systemfrager sagt:

    Ja, ich habe das Blog „Weissgarnix“ auch sehr gerne gelesen, ich lese es immer noch – ab und zu. Zu viel Rhetorik und Luhmann weckten bei mir immer wieder Zweifel. Nun nach dem Buch ist mir alles klar: Die WiWi braucht analytische Fähigkeiten, die Herr Strobl nicht besitzt und folglich die in seinem Buch nirgendwo zu finden sind. Das Buch ist ein Haufen von Beliebigkeiten im journalistischen Manier. Ein Rezensent weino/Amazon hat dies auf den Punkt gebracht:

    „Der redselige Autor scheint mir (methodisch und argumentativ) vom Thema überfordert. Ein ernsthafter empirischer Ansatz ist nicht zu erkennen. Einige Aussagen sind einfach unsinnig („Erst durch die Erfindung der systematischen Schuldenwirtschaft war es möglich, aus Geld mehr Geld zu machen.“, „Dabei ist unser ganzer Reichtum nur durch Schulden entstanden.“) andere sind Banalitäten oder unzulässige Verallgemeinerungen oder hochtrabend verklausuliert …“

    Und das ist noch nett ausgedrückt. Wenn jemand den Eindruck bekommt, es geht in diesem Buch um eine ökonomische Abhandlung, weil die Sprache ökonomisch ist, hat er nichts verstanden: ZB auch die Astrologie spricht gern die Sprache der Astronomie.

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