Ende der Kreditfähigkeit (reformuliert)

Mein letzter Text, über das Ende des Funktionierens des Kreditprinzips im Banken- und AKW-Betrieb, wurde von Kusanowsky interessant ergänzt. Allerdings legte er einen kleinwenig anderen Schwerpunkt. Seine Ergänzung (paraphrasiert): Die wachstumspflichtige Kreditwirtschaft (Prämisse) benötigt zügig, zuverlässig und nachhaltig Energielieferungen (These), die sie durch die Atomkraft bekommt (Argument). Das würde ich so erstmal unterstützen. Da ich in meinem Text allerdings einen bestimmten Mechanismus herausstellen wollte, und dieser sowohl in meinem Text selbst als auch in der fremden Antwort untergegangen ist, schreibe ich meinen Text aus anderer Perspektive noch einmal.

Wenn man, der angemessensten soziologischen Universaltheorie folgend, annimmt, dass das soziale Miteinander und Durcheinander allein auf Basis selbstbezüglicher Entitäten beruht, die ohne Zentralsteuerung auskommen und sich gegenseitig allenfalls reflexiv wahrnehmen, reduziert sich die Gesellschaft auf zwei grundlegende Prinzipien, auf denen alles Weitere aufbaut: 1. Soziale Systeme folgen nur einer, ihrer eigenen, selbst erzeugten Prozesslogik. 2. Soziale Systeme koppeln sich, im Rahmen reflexiver Wahrnehmung, per Leistungsbeziehungen aneinander. Sie irritieren sich mittels Transferleistungsbeziehungen (statt Konvertierungsleistungen).

Wir kennen unterschiedliche Typen solcher Leistungsbeziehungen: Einseitige (parasitäre) und wechselseitige (symbiotische); institutionalisierte und spontane; ausgeglichene (reziproke) und ausbeutende; je nach Beobachtung konstruktive und destruktive; … . Dieser einfachen Typologie ist grundlegend, dass die Leistungsbeziehung gegenwärtig ist. Der auf der Leistungsbeziehung beruhende „Tauschakt“ benötigt keine Zeit, er findet in einem Moment statt.

Anders ist dies bei Hinzuziehung der Kreditlogik. Ein Kreditgeschäft tauscht Jetzt-Wahre gegen Zukunfts-Wahre. Der Moment der Transferleistungsbeziehung wird also gestreckt. Markiert durch einen „Jetzt-Geben-Moment“ und einen „Später-Zurückgeben-Moment“ entsteht die – alles entscheidende – Zeit dazwischen. Diese Zeit soll zur Befähigung genutzt werden, um überhaupt erst zurückgeben zu können. Ein Kredit-Geben ermöglicht Produktivität, die sich erst später auszahlt. Eine kreditgestützte Leistungsbeziehung beruht also auf Reziprozität, die erst, durch Zuhilfenahme von Zeit, durch den Kredit selbst, hergestellt wird.

Am einfachsten gestaltet sich solch eine zeitintensive Leistungsbeziehung im finanziellen Kredit. Jemand bekommt Geld, transferiert es in Wissen und Produkte, transferiert dieses wiederum in Geld und zahlt es an den Kreditgeber zurück. Das Geld ermöglicht, bei allen Turbulenzen der sozialen Wirklichkeit, das standardisierte, mathemagische Prinzip, das über die Zeit hinweg funktioniert. Am Anfang und am Ende steht eine Zahlung und mithilfe von Zins wird die Zeit und alles (eben: egal) was dazwischen passierte – in Geld übersetzt – mit eingepreist.

Das Besondere am Kredit ist nun, dass er am Anfang, wenn noch unklar ist, ob er aufgeht, schon als Leistungsbeziehung funktioniert. Eine Bank muss somit nicht nur mit Zuversicht ihrem Kreditnehmer gegenübertreten, sondern auch mit Vertrauen sich selbst gegenüber. Sie kann nur Kredite vergeben, wenn sie im schlimmsten Fall deren Ausfall verkraften könnte. Kreditfähigkeit gilt also nicht nur für den Kreditnehmer, auch ein Kreditgeber muss wissen, wo seine Geber-Grenzen sind und darf sich nicht blind übernehmen. Eine Bank darf ihre Kreditfähigkeit nicht (wissentlich) überbeanspruchen. Die Institution sollte nicht durch ihre Leistungsbeziehungen selbst gefährdet werden. Darin steckt das Risiko. Die Kalkulationen gehen erstmal vom Schlimmsten aus, nicht vom Normalfall (und schwächen die extreme Kalkulation dann in der Praxis mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnungen und -regelungen ab).

Kleine Abkürzung: Eine Gesellschaft, die sich selbst mit Atomkraftwerken ausstattet, hat sich selbst mit dem Vertrauen ausgestattet, mit den zukünftigen Folgen dieser Anlagen umgehen zu können. Die Kalkulation sollte darauf beruhen, mit den schlimmsten denkbaren Folgen umgehen zu können. Das bedeutet, im weiteren Sinne des Kreditprinzips, dass sie davon ausgeht, im Falle des Falles die Mittel zur Verfügung zu haben, die Folgen des Schlimmsten abwenden zu können oder, falls nicht, an den Folgen (partiell) zu verenden. Angelehnt an den engeren Kreditbegriff hätte die Energie der Atomkraftwerke also auch genutzt werden müssen, um Technologien zu entwickeln, mit Atommüll und kaputten Kraftwerken klarzukommen. Dafür ist schließlich ein Kredit da: Er eröffnet den Zeitraum, innerhalb dessen die Produktivität anlaufen soll, zurückzahlen zu können.

Nur geht es beim gesellschaftlichen Atomkraft-Kredit nicht darum, später Geld zu haben, um die Leistungsbeziehung durch Zurückgeben auszugleichen, sondern Technologien zu haben, die das Kreditgeschäft wieder auflösen können: Abbau und Beseitigung aller Atomkraftrückstände.

Durch den japanischen Vorfall erkennt die Gesellschaft (zumindest in Deutschland) gerade, dass sie sich mit dem Kreditgeschäft Energie-Jetzt / Kosten-Später übernommen hat. Fukushima hat 40 Jahre lang Energie geliefert und Produktivität ermöglicht, doch die Kosten der Unterhaltung und Beseitigung des Schadens wird sehr viel mehr Produktivität und Kosten einfordern, als vorher durch das Kraftwerk beigesteuert wurden. Bzw. man ist noch nicht mal in der Lage, das bisher auf Fukushima basierende Wirtschaftswachstum mit den nun kommenden Naturausfall-Kosten in eine mathemagische Beziehung zu setzen.

In Deutschland beginnt man nun, das Kreditgeschäft mit der Atomkraft geordnet aufzulösen, um wenigstens nicht mehr als den Atommüll aufgelastet zu bekommen. Aber selbst da ist es fraglich, ob sich das Kreditgeschäft gelohnt hat. Es stehen sich 40 Jahre billige Energie und Jahrtausende Müllbetreuung gegenüber. Die Produktivität, die die Atomenergie brachte, wurde nicht genutzt, eine Atommüllbeseitigungstechnologie zu schaffen. Der Kredit hat nicht funktioniert, die Kreditfähigkeit hat sich nicht ergeben und war nie gegeben.

(Bild: Christian Revival Network)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. Brett sagt:

    Dass „die Gesellschaft“ respektive Teile von ihr ständig dabei sind, im guten Glauben und gleichzeitig im Bewusstsein gewisser Risiken auf zukünftige Ereignisse zu handeln ist sicherlich wahr und die Atomenergie ist wohl eines der teuersten „Kreditereignisse“ im meta-finanziellen Sinn.

    Bei deiner Argumentation frage ich mich nur, ob nicht in einem Punkt eine optische Täuschung vorliegt, und zwar hier: „Der auf der Leistungsbeziehung beruhende ‚Tauschakt‘ benötigt keine Zeit, er findet in einem Moment statt.“

    Das scheint unmittelbar evident, wenn man sich z.B. die Kasse im Supermarkt vorstellt. Allerdings kommt der Kassenvorgang nur zustande, weil vorher und hinterher auch wieder diverse meta-finanziellen Kredite eingegangen werden. Es ist doch nicht übersehen, das jeder Form von Wirtschaft von vornherein eine zeitliche Ausdehnung beigemssen ist. Am deutlichsten ist dies in der Agrarwirtschaft, wo der Bauer sozusagen 3 Quartale in Vorleistung geht, bevor er im 4 Quartal endlich „Transaktionen“ eingehen kann. Und so ist es im Prinzip mit jeder wirtschaftlichen Leistung – mir fällt jedenfalls keine ein, bei der es nicht entweder vor dem Kassenvorgang oder danach zur Abarbeitung kommt.
    Wie kriegen das Bauern, Schumacher, Schriftsteller, Unternehmensberater hin? Es gibt im Prinzip 3 Möglichkeiten: Sparen auf Seiten des Produzenten (Eigenkapitalbildung), Vorauskasse durch den Abnehmer oder Kredit von seiten eines Dritten. Tatsächlich ist der Kredit ja nichts anderes als ein umgekehrter Sparvorgang: Das benötigte Geld ist sofort da, anschließlich wird zurückgespart.
    Was heißt das? Kredit ist nicht irgendeine künstliche Regel eines bestimmten sozialen Systems, die z.B. mit der kapitalistischen Wirtschaft in die Welt gekommen ist – Produktion und Reproduktion sind immer untrennbar mit einem Zukunftsglauben verbunden. Eine Gesellschaft, die nur aus Moment-Transaktionen bestünde, gibt es gar nicht, weil da kein einziger Spatenstich stattfinden würde – da würde kein Schiff fahren, kein Acker bestellt, kein Haus gebaut, kein Kraftwerk errichtet werden. Oder noch anders gesagt: Leistungsbeziehungen enhalten immer einen Vertrauensvorschuss und ein Risiko, die „Kreditlogik“ ist grundlegend für jede Form der Reproduktion.
    Die AKW sind lediglich der Extremfall, wo das „Kreditrisiko“ nicht wie üblich durch einen Marktteilnehmer, eine Bank oder durch eine Solidargemeinschaft (Versicherung) getragen werden kann.

  2. Stefan Schulz sagt:

    Es liegt keine optische Täuschung vor und ein Kredit ist nicht einfach ein „umgekehrter Sparvorgang“. Ihre Ansicht reduziert Kredit und Sparen auf das gleiche (vorwärtige/rückwärtige) Geld-Akkumulations-Prinzip, das für die Logik zwar ausreicht aber der Wirklichkeit nicht gerecht wird.

    1. Sparen heißt Geld sammeln, ohne sich festlegen zu *müssen* was man dann tatsächlich damit macht.

    2. Wenn ich gespart habe (Vergangenheit) weiß ich bereits, dass das Geld für die Ausgabe vorhanden ist.

    Beim Kredit ist nun beides anders. (1) Man erhält einen Kredit und man *muss* ihn durch Rückzahlung ausgleichen, man kann sich nicht später entscheiden, Anderes zu tun. (2) Kreditrückzahl-Geld ist noch nicht vorhanden (kann auch nicht „erspart“ werden), sondern muss verdient werden, in dem der Vorschuss durch den Kredit als Investition in Produktion verstanden wird.

    Das eine Operation auf ein System als Kontext angewiesen ist und das ein System eine Ausdehnung in der Zeit vorweist, ist geschenkt. Dieser Hinweis ändert jedoch an meinem Argument nichts.

    Der „Atomkraft“-Kredit ist nicht bloß ein Extremfall der üblichen Kreditlogik. Gewissermaßen handelt es sich nämlich um ein Geschäft, das als Kredit (Reziprozität über Zeit) angelegt wurde aber nur als Ausbeutung der Zukunft praktizierbar ist. (Deswegen stellte ich oben auch nicht die Frage, ob es eine Solidargemeinschaft gibt, die das finanzielle Risiko trägt, sondern beantwortete die Frage, ob die durch AKWs bereitgestellte Produktivität genutzt wurde um den (sicheren) Folgeschäden begegnen zu können – und wir wissen nun seit Fukushima, dass sich AKWs nicht auszahlen. Dafür musste nur eins kaputtgehen.)

  3. PolKomm sagt:

    Hallo,

    ob der Kredit nun funktioniert hat oder nicht ist natürlich im Sinne der langfristigen Konsequenzen verstrahlten Restmülls, etc bestimmt mit nein zu beantworten.

    Wichtiger erscheint mir hier aber die (für mich sehr augenscheinliche) Erkenntnis, dass Kredite eben nicht auf langfristige Rückzahlung durch den Kreditnehmer ausgelegt sein müssen, sondern es auch ermöglichen kurzfristig zu profitieren und dann eben dem Vertrauensvorschuss nicht gerecht zu werden. Hier wären etwa Atomkraftwerksbetreiber zu nennen, die scheinbar so „rechnen“ dass Investitionskosten in die Anlage durch den Strom refinanziert werden müssen (Subventionen des Staates nimmt man auch gern noch mit in die Kalkulation auf) und nicht die langfristige Beseitigung des Atommülls (es wäre bestimmt sinnvoll gewesen Subventionen daran zu koppeln, dass diese Frage beantwortet werden müsste – aber das geschah ja erst indirekt durch die Folgen des Erdbebens in Japan).

    Ein weiteres Beispiel für diesen „Kreditoptimismus“ sehe ich auch darin, dass Politik eben auch nur auf Zeit gewählt wird. Das Erreichen oder Scheitern an Zielen (etwa Atomkraftausstieg Ja oder Nein) ist eindeutig an Wahlergebnisse gekoppelt und nicht an den langfristigen Willen der Parteien (die Grünen vielleicht ausgenommen). Jeder der hier in ein Atomkraftwerk investiert hat, weiß dass es diese wechselnden Rahmenbedingungen immer gab. Neu ist vielleicht nun nur, dass die öffentliche Meinung die Risiken von Atomkraft kritischer bewertet. Ob und wie langfristig Atommüll besser beseitigt werden kann ist vielleicht ein viel zu langfristiges Problem für die Politik.

    Wahrscheinlicher ist nun, dass viele Parteien den „Wählerwillen“ akzeptieren und alte Atomkraftwerke vom Netz gehen. Wenn sozusagen das Parteienspektrum grüner geworden ist wird sich erst zeigen müssen, in wie weit „zusätzliche langfristige“ Herausforderungen von der Politik angenommen werden.

    Mich erinnert der Kreditnehmer Atomkraft daher an jemanden, der der Bank sagt er möchte das Geld gern langfristig in die Erhaltung des Regenwaldes investieren, und hat schon am nächsten Wochenende den kompletten Kredit verfeiert. Bei solchen Änderungen der Absichtsänderungen tritt der Kredit selbst für mich in den Hintergrund.

  4. Stefan Schulz sagt:

    Ja, da ist was dran. Wobei die Politik dem Wähler nicht auf diese radikale Weise ausgeliefert ist. Es greifen ja recht viele Mechanismen, die garantieren, dass politische Entscheidungen nicht nur in Hinsicht auf 4 Jahre getroffen werden. (Immerhin überdauert ein AKW-Bau diese Zeit bei Weitem…)

    Das Atommüll abfällt, ist für die Politik sicherlich keine Überraschung gewesen. Dennoch ist bemerkenswert, auch im Vergleich zu anderen großen politischen Entscheidungen (zum Rentensystem, Verkehrsplanung, …), dass man die Folgen so wenig abgeschätzt hat.

    So ein deutsches Atomkraftwerk erwirtschaftet etwa 1 Mio Euro pro Tag. Interessant wäre zu wissen, ob es eine AKW-Sonderabgabe gibt, die zweckgebunden der Atommüllbeseitigungsforschung zugeführt wird. (Der Berufsproduktivität wird ja auch Kaufkraft entzogen um das Rentensystem zu finanzieren und der Autofahrerei wird Geld abgezogen, um Bundesautobahnen zu bauen…)

    Die Politik ist für langfristige Entscheidungen fähig, um irgendwie Nachhaltigkeit zu fördern. Beim AKW-Betrieb wurde vielleicht eher wissentlich fahrlässig entschieden…

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