Twitterianische Liebeserklärung

Gestern war „tazlab“, das „Zukunftslabor der taz“. Nach ein paar #tazlab-Tweets bin ich darauf aufmerksam geworden. Der recht witzige 343max war für ein Podium angekündigt, auf dem zu meiner Überraschung auch Rainer Langhans eingetaktet war. Er fiel, für uns junge Generation, schon im Dschungelcamp durch seine imposante Gelassenheit auf. Seit dem interessiert es mich, wenn er sich aktuell äußert.

Die Veranstaltung war zäh. Es fielen Satzteile wie: „ich bin absolut gegen Urheberrecht und so“, „Adorno hat …“, „bei Enzensberger …“, … . Nur Max Winde und Rainer Langhans konnten trotz mieser Moderation noch sinnvolle Statements abgeben. Und Rainer Langhans fiel wieder durch seine Unbekümmertheit auf. Was er sagte kann man ganz gut zusammenfassen (auch wenn leider kein wörtliches Manuskript vorliegt): Seine Generation habe damals in jungen Jahren den Versuch unternommen, einen Gesellschaftsentwurf zu leben, der zum einen dem „Materialismus“ entsagt und zum anderen auf Liebe basiert. Dies sei aber nicht gelungen. Jetzt allerdings beobachtet er, dass mithilfe des Internets eine Gemeinschaft entsteht, die recht nah an seine alte Idee heranreicht: kommunikatives Beisammensein ohne Zweck, ohne Raumgebundenheit, ohne Körperlichkeit, ohne Zwänge und ohne Angewiesenheit auf materielle Grundlagen – eine vergeistigte Welt als pure Liebe.

Solche Sätze, gerade im Duktus von Rainer Langhans, führten natürlich in der Situation nur zu Gelächter und der im taz-Yuppie-Publikum humortechnisch naheliegenden Frage, wo man seine Drogen denn bekommen könne. Doch es lohnt sich, genau dieser Idee von Rainer Langhans ein wenig zu folgen. Es fällt nämlich nicht schwer, die vorgebrachte Wortwahl zu ignorieren und die Idee mit der soziologischen Ideengeschichte zum Thema Liebe abzugleichen. Wenn man Liebe und Freundschaft als Idee zusammennimmt, handelt es sich immerhin um eine der Top-Ten-Faszinationen, mit denen sich die Soziologie ausführlich und seit Beginn beschäftigt. (Liebe ist als Forschungsthema aktuell. Die im zweiten Halbjahr 2010 in Bielefeld ausgezeichnete Soziologie-Diplomarbeit beschäftigt sich beispielsweise mit der Frage „Liebe – Ein Tausch?“)

Ohne zu sehr in die Autoren-Historie einzusteigen, lässt sich zum Thema Liebe soziologisch Folgendes umreißen: In der modernen Gesellschaft, in der wir in beinah jedem Moment nur als Rolle adressiert werden, stets um das eigene Wohl besorgt sind, kompromissbereit sein müssen und zweckrationale Planungen die Tages- und Lebensagenda bestimmen, gibt es viele Wege der Kompensation (bspw. Kunst) und des Ausgleichs (bspw. Sport). Es gibt allerdings nur einen (Gegen-)Weltentwurf, der so radikal mit der Mechanik der modernen Gesellschaft bricht, dass er sie überhaupt erträglich macht und jegliche Perspektivenbildung sinnvoll erscheinen lässt. Dieser Weltentwurf beruht (heute) auf Liebe. Er orientiert sich nicht an Zwecken und Zielen, sondern ermöglicht und erschöpft sich in Momenten. Er spannt den Erfahrungs- und Erwartungshorizont über das eigene Selbst. Er stellt der artifiziellen Nutzenorientierung eine unverfälschte Natürlichkeit gegenüber und bildet den einzigen Rahmen, in dem wir als (ganze) Person beansprucht und mit einem eindeutigen Namen adressiert werden. Der Weltentwurf auf Basis von Liebe nutzt eine idiosynkratische Sprache, ist niemals öffentlich und führt nie in Verlegenheiten durch eingeforderte Kompromissbereitschaft, weil er zwingend auf Kompromisslosigkeit beruht.

Es heißt allerdings nicht, dass der Weltentwurf auf Basis von Liebe so ist, sondern, dass allein Liebe diesen Weltentwurf ermöglicht. Und warum wir solch einen Weltentwurf brauchen, lässt sich vielleicht nur historisch erklären, wenn man über ein Jahrtausend zurückblickt. Beim Thema Liebe ist die Soziologie (noch mehr als sonst) nur ein Hinweisgeber. Die Plausibilität solcher Aussagen muss von Fall zu Fall hergestellt werden. Doch mit solch einem Definitionsrundumschlag lässt sich ein bisschen spielen. Denn, wenn Rainer Langhans von Liebe spricht, scheint er so etwas wie das Beschriebene zu meinen. Und die Frage ist, wieso erzählt er von Liebe, wenn er über das Internet spricht?

Geteilte Weltentwürfe, Ungezwungenheit, Idiosynkrasie, Natürlichkeit, Weltflucht, geschlossene Gemeinschaften, Momentbezogenheit, temporale Kontextabhängigkeit, … – wer denkt denn da nicht an Twitter? Wo sonst, wenn nicht dort, werden denn derart ungezwungen gleiche Erfahrungshorizonte aufgebaut und genutzt (bspw. per Mem), wird idiosynkratisch geplaudert (bspw. per Hashtag), mit zwingendem Situationsbezug gewitzelt (Sonntags zum Tatort) und eine humorige Gegenwelt gebaut, die sich mit eigenen Regeln und Sitten gegen den „RL“-Weltentwurf positioniert..? (Außerdem, so ist es zumindest in meiner Timeline, gehört es mittlerweile zum Standardsprech, Twitter explizit als Liebesersatz zu benennen, wenn man in der „richtigen“ Welt nicht zum Zuge kommt. Auch wenn man im Twitterverhalten weder ehrlich noch realistisch sein muss, steckt in der Wahl der Beschreibungsformel doch ein interessantes Indiz.)

Rainer Langhans meinte, für die Jugend drehe sich eventuell die Welt gerade um. Statt der realen, „materiellen“ bietet das Internet die „eigentliche“ Lebenswelt, in der man sich geborgen, verstanden und in Gemeinschaft aufgehoben fühlt. Das ist vielleicht ein Quäntchen zu radikal. Doch, wenn man daran festhält, online und offline zu unterscheiden, ist da was dran. Und falls man nur eine Gesellschaft beobachtet, kommt man fast nicht umhin, die Twittersphäre mit dem soziologischen Begriffsapparat zur Liebe – wenn auch mit zentralen Abstrichen – zu beschreiben. (Falls das alles zu radikal erscheint, kann man auch dem Freundschaftsbegriff nachspüren. Schon Aristoteles beginnt sein Freundschaftskapitel mit einer Unterscheidung von Freundschaft und „aller anderen Güter“.)

Funktionalistisch beobachtet ermöglicht das Internet kein Liebesäquivalent. Aber, es bietet sich an, beispielsweise in Twitter mehr zu sehen, als ein „Tool“, mit dem sich jeder im Internet selbstverwirklichen und zur politischen Demonstration verabreden kann. Statt die Rolle der Akteure zu beschreiben, sollte man mehr versuchen, die erzeugte Kommunikation und ihre Gesetze zu untersuchen. Twitter ist nicht bloß ein Werkzeug, mit dem sich Sprechakte regulieren lassen – es steckt ein erhebliches, noch unbeschriebenes generatives Moment darin, dass sich handlungstheoretisch kaum fassen lässt. Das zu sehen fällt noch schwer, doch man kann an dieser Stelle schon mal Rainer Langhans Mut bewundern, es trotzdem kurz versucht zu haben.

(Bild: Johan Larsson)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

1 Kommentar

  1. Dass junge Leute auf der Welt sich plotzlich alle verbunden und liebevoll fuhlten all das haben wir damals mit rein geistigen Mitteln in diesem eigenartigen Moglichkeitsfenster gelebt ohne technische Hilfsmittel. Wenn Sie zum Beispiel annehmen dass Sie ein geistiges Wesen sind und wissen wollen was Sie in dieser Welt sollen was der Sinn des Ganzen ist dann kann man das doch am besten dadurch tun dass man sich selbst und viele andere Leute besser kennenlernt.

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