Unerträgliche Individualität

Ich vermute, ich muss mein, noch nie vorgetragenes aber bei Anlass stets mitlaufendes, hartes Urteil gegenüber All-Inclusive-Pauschaltouristen überdenken. Es gibt anscheinend doch nachvollziehbare Gründe, für viel Geld in ein fremdes Land zu fliegen und dort mit Absicht nichts weiter zu erleben, als ein nach globalen Standards gestyltes Hotel, 10 m Sand und überall gleiches Wasser.

Ich las gerade die FAZ-Rezension zum Datenfresserbuch. Ich hatte es selbst noch nicht zur Hand, kenne jedoch die Stoßrichtung (Frank Rieger ist ja derzeit kaum zu übersehen): Die allgegenwärtige, technikgestützte Datensammelei, die verdeckt prozessiert aber wirkungsvoll präsentiert, entmündigt den gemeinen Bürger, der sich einer unkontrollierbaren Riesenmaschine ausgesetzt sieht, gegen die er sich immer nur zu spät und zunehmen unzureichend zur Wehr setzen kann. Ich teile diese Einschätzung. Dennoch bietet es sich an, die Argumentation im Allgemeinen zu entdramatisieren und einen bestimmten Aspekt zu isolieren. Ausgangspunkt dafür sind folgende Sätze aus der Rezension:

Im Idealfall und bei detailgenauer Kundenkenntnis erscheint Werbung dann nicht mehr als lästige Indoktrination, sondern als Fortspinnen der eigenen Gedanken. Man staunt über die Bekanntschaft der Onlinedienste mit den eigenen Vorlieben.

(…)

Die Eckdatenbekanntschaft, die jeder persönlichen Begegnung vorausgeht, die Nachrichten, die uns auf personalisierten Websites zugespielt werden, die Kaufangebote, die wir erhalten, sie alle sind das Ergebnis von Mustern, die wir nicht kennen. Dieser Schatten, der einem immer voraus ist, bleibt örtlich unbestimmt, genauso, wie man nicht weiß, aus welchen Komponenten er sich gerade zusammensetzt.

Wenn ich das Buch zur Hand hätte, wäre wohl meine grundlegende Frage: Was ist wirklich neu? Neu ist nicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der oft vorher bekannt ist, was unsere Vorlieben sind. Gleiches gilt für die Idee, dass Verhalten und Kontakte registriert, gespeichert und ausgewertet werden. Und es gilt, vor allem, für das Phänomen, dass stets aus wenigen sichtbaren Merkmalen eine vollständige Person kreiert wird und wir nicht wissen, welche Merkmale gesehen werden.

Es scheint so, als verleite das aktuelle Nachdenken über Technikfolgen sehr leicht zu einer Verklärung des Vergangenen. Die einen Reden vom „Kontrollverlust“, als ob es mal Kontrolle geben hätte. Die anderen reden von „Social Media“, als ob es mal unsoziale Medien gegeben hätte. Und die Datenfresser-Autoren reden über Personenbilder aus Fremderwartungen, als ob es mal eine Zeit gegeben hätte, in der Menschen selbst bestimmen konnten, was sie als Person gelten.

Die Gesellschaft war jedoch nie kausal steuer- oder kontrollierbar, sondern konnte allenfalls durch Planungserwartungen erschlossen werden. Medien dienten immer der sozialen Kommunikation, es gibt ja keine andere. Und dass das Prinzip „Person“ auf herangetragenen, fremden Erwartungen beruht, die kaum Rücksicht auf involvierte Gehirnleistungen nehmen, gilt auch für jede Zeit.

Als vor Jahrhunderten die Frauen eines Dorfes das Wäschewaschen zum gemeinsamen Ritual machten und sich regelmäßig am Fluss trafen, um ihre Wäsche auf Holz zu schlagen, nutzten sie die Gelegenheit, über ihre Männer zu tratschen. Sie erfanden den „Klatsch“, das beiläufige Lästern über Abwesende. In diesen Momenten informierten sich die Frauen gegenseitig über die Eigenheiten und Vorlieben ihrer Männer. Während diese ihren alltäglichen Tätigkeiten nachgingen, entstand am Fluss eine zweite Version des Dorfes. Neben der sichtbaren, gemeinsam erlebten Dorfgeschichte etablierte sich eine Dorferzählung, die gerade das Unsichtbare und höchstpersönlich Erlebte fassbar machte. Die Männer ahnten von dem nichts, doch unweigerlich verschmolzen gelebte und erzählte Realität.

Eine ähnliche Geschichte kann man über den Moment erzählen, als der Konsum von den Marktplätzen in ständige Geschäfte abwanderte. Ladenbesitzer, die ihre Auslagen nicht mehr täglich beliebig einrichteten, sondern über Zeit hinweg beobachten konnten, welchen Unterschied verschiedene Präsentationsstrategien machen, lernten schnell. Das Phänomen des „Stammkunden“ stellte sich ein. Händler wussten mehr über das (Kauf-)Verhalten ihrer Stammkunden, als diese über sich selbst.

Soweit, so normal. Eine erste Eskalationsstufe setzte ein, als Städte wuchsen und Läden unüberschaubare Kundenzahlen hatten. Aus Lästereien wurden sich verselbstständigende Gerüchte, aus bekannten Stammkunden wurden marktforschungsmathemagisch durchkalkulierte Normalverbraucher. Die Mechanik änderte sich fundamental, die Prinzipien blieben jedoch dieselben. Das Bekanntsein von Personen beruht auf Gerede über sie und dem Hochrechnen weniger Merkmale.

Und an dieser Etappe setzt nun eine weitere Eskalationsstufe ein, die Individualisierung. Die heutige Technik erlaubt es, Gerüchten die Flüchtigkeit zu nehmen und Marktforschung nicht auf Stichproben und Aggregationen zu begrenzen. Dass man nicht weiß, was über jemanden geredet und was gesehen (und nicht gesehen) wird, stellt das aktuelle Problem dar. Jedes Gerede und jede Beobachtung kann gespeichert und in einem neuen Kontext ausgewertet werden – ohne mit dem Datensatz anderer abgeglichen werden zu müssen. Das erlaubt es, die Lebenswelt jedes Einzelnen so individuell auszugestalten, dass man tatsächlich nicht mehr zwischen werbender Indoktrination und eigenen Gedanken unterscheiden kann. Google zeigt höchstpersönliche Suchergebnisse. Die Arbeitsumgebung ist individualisiert. Die Bankberatung benötigt, ironischerweise, kein persönliches Vorgespräch mehr, sondern nur noch Small Talk, bis der Datensatz aufgerufen ist.

Das Problem ist aber nicht so sehr, dass man in Merkmale zerpflückt und nach fremder Logik wieder zusammengesetzt wird oder dass ständig und überall irgendetwas registriert und weggespeichert wird, sondern dass auf Basis dieser Vorgänge eine vielleicht zu artifiziell individualisierte Welt kreiert wird, in der zu viel ausgeblendet wird, ohne dass man je die Chance bekommt zu erfahren, was man nicht sehen darf. Eine der merkwürdigen Phänomene in der Gesellschaft ist, dass sich Menschen dann besonders aufgehoben und wohl fühlen, wenn sie wissen, dass sie in ihrem Erleben nicht alleine sind. Diese bewussten „Gleichschaltungen“ fanden früher bei „Wetten, dass..?“ statt oder heute, wenn große Fußballspiele stattfinden. Diese Ereignisse verlieren radikal an Erlebnisqualität, wenn man sie nicht live miterlebt. Miterleben ist vielleicht das richtige Wort. Auch Familien beruhen allein darauf, dass man gemeinsam erlebt, also miterlebt, was der andere erlebt. Die neue Technik verhindert so was sehr oft. Sie bettet uns in eine extra nur für uns geschaffene Welt, in der wir dann ein Stück weit vereinsamen.

Zurück zu den Urlaubern. Vielleicht ist ein All-Inclusive-Urlaub gerade deswegen so entspannend, weil man währenddessen jeglicher Individualität entfliehen kann. Keine höchstpersönlichen Ansprüche von Arbeitskollegen, kein höchstpersönlich zugeschnittener Alltag, kein Name an der Tür – nicht individuell, sondern Selbst sein in einer anonymen Masse Gleich(gesinnt)er.

Zum Schluss noch ein, beinah obligatorischer, Blick auf Twitter. Dieser kleine Dienst stellt auch im Rahmen der obigen Beobachtung ein Faszinosum dar. Auf der einen Seite ist das Internet selten so radikal individualisiert wie in der Präsentation einer höchst selbst zusammengestellten Twitter-Timeline. Auf der anderen Seite ist jedoch selten so viel nachvollziehbares Miterleben möglich, wie beim Tweetslesen. Jedes durchlaufende Mem zeigt an, dass gesehen, verstanden und angeschlossen – miterlebt – wird. Für Hashtags gilt prinzipiell das gleiche, wenn auch der Verstehensaspekt nicht derart im Vordergrund steht. Außer, wenn Hashtags auf aktuelle Ereignisse (Fernsehsendungen, Versammlungen, Wetter, …) verweisen, dann gilt das gesagte noch viel mehr.

(Bild: Boston Public Library)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

2 Kommentare

  1. kusanowsky sagt:

    Hach, ein sehr guter Artikel. Es ist sehr angenehm, in dem ganzen Gesabbel um post-privacy mal etwas mehr Nüchternheit einzubringen. Aber das beeindruckt nicht sehr viele. Wer weder Hoffnungen noch Angst erzeugen kann, wird mit Nichtbeachtung betraft. Was ich vor allen Dingen für die Zukunft interessant finde ist, wenn der Normalbürger aus dem Zustand des Datenanalphabetismus entlassen wird. Dieser Datenanalphabetismus entsteht ja dadurch, dass – wie du richtig schreibst – die Verknüpfung und Zusammenführung im Hintergrund passiert und mit Methoden, die nicht gemein zu gänglich und benutzbar sind. Letztlich funktionieren die Methoden auch nur auf der Basis von Algorithmen und auch diese lassen sich in benutzbarer Software umsetzen. Wenn es soweit kommt sollte, was zu befördern eigentlich die vornehmste Aufgabe von Hackern wäre, wird alles ein hübscher, bunter Karneval der Intransparenz, mit dem alle sehr gut leben können.

  2. […] sich einer Masse als unverwechselbares Inviduum vorzustellen, ohne bemerkbar zu machen, dass diese Invidualtität nur das Merkmal einer soziale Nutzierhaltung von Menschen ist, die ihr Humankapital als […]

Schreibe einen Kommentar zu kusanowsky Antworten abbrechen

Pflichtfelder sind mit * markiert.