Die Überschrift ist eine aus dem Fundus der inspirierenden Widersprüchlichkeiten, die immer wieder kurze Einwürfe und manchmal buchlange Diskussionen verursachen. Meistens driftet man mit ihnen in die Schöndenkerei ab, redet über Widerstände, die das Leben greifbar machen, über Hindernisse, die beim Blick zurück einen Weg erkennen lassen oder über unüberwindbare Barrieren, die alte Wege versperren und dadurch zu neuen führen. Wenn wir der Ratgeberliteratur glauben, können und müssen wir uns und andere zum Glück zwingen, weil Philosophen sagen, dass wir zur Freiheit verurteilt sind.
Diese Spielerei funktioniert aber nicht mehr, wenn anstelle von „Verurteilung“ von „Bestrafung“ gesprochen wird. Wer von „Lebensstrafe“ spricht, lässt keinen Raum mehr zum schönen Denken, weil er bereits versucht ist, hässlich zu handeln. Dafür kann es individuelle Gründe geben. Die Frage ist allerdings, ob die New York Times ein Forum sein sollte, in dem es ein Anwalt begrüßt, dass der Mörder der Familie seines Bruders „zu leben bestraft“ wird, weil die „Todesstrafe“ ein zu großes „Geschenk“ wäre. Der Täter solle lieber ein „Leben in Angst“ führen, in einer Umgebung, die ihm nach eigener Aussage nicht behagt – ohne Aussicht auf ein festgesetztes Todes-, gleichsam Erlösungsdatum.
Es kann sein, dass das jemand schrieb, der sich nach der Höchststrafe sehnte und nun vor sich selbst zu erklären versucht, was statt dessen geurteilt wurde. Es kann sein, dass hier ein neuzeitlicher religiöser Weltentwurf im Spiel ist, den wir außerhalb amerikanischer Alltagserfahrungen nicht nachvollziehen können. (Der vermuten lässt, dass der Autor sein Seelenheil im Recht sucht, wie Henrik meint.) Es kann auch sein, dass der Autor im Nachhinein selbst über seine Worte erstaunt ist. Der Text ist Ausgangspunkt vieler Überlegungen.
Eine steckt in folgender Frage: Was halten eigentlich Leute, die gegen die Todesstrafe sind und für ihre Meinung gute Gründe haben, von Menschen, die ebenfalls gegen die Todesstrafe sind aber aus schlechten Gründen? Ist man gegen die Todesstrafe, weil es eine Anmaßung ist zu entscheiden, dass und wann Menschen sterben? Ist man dagegen, weil die Methoden grausam sind? Und wie ist gleich das Argument, das die Zivilisation ins Spiel bringt?
Was wäre dann mit dem Argument, dass eine „Lebensstrafe“, wie oben verlinkt, anmaßender ist als ein Todesurteil, weil es nicht darum geht, jemand hinzurichten, damit er niemand Anderem mehr Schaden zufügen kann, sondern darum, jemand am Leben zu lassen, damit ihm Schaden zugefügt werden kann. Was ist mit dem Argument, dass bei einer „Lebensstrafe“ für ein Schrecken ohne Ende, statt für ein Ende mit Schrecken optiert wird? Nennt man es Zivilisation, wenn Menschen nicht getötet werden, und andere sich darüber freuen, dass sie dadurch länger leidensfähig bleiben?
Der op-ed-Text macht ein großes Fass auf. Er zeigt, dass es schwierig ist, gute Gründe gegen schlechte Dinge zu formulieren. Er zeigt, wenn man das Problem generalisiert, auf, dass es überhaupt problematisch ist, juristische Sachverhalte moralisch zu bewerten. Die Geltung eines moralischen Urteils ist immer auf einen Einzelfall begrenzt und man ist stets in der Gefahr, alle anderen Argumente moralisch bewerten zu müssen. Die guten Gründe gegen die Todesstrafe kommen mit den oben gezeigten Gründen gegen die Todesstrafe nicht klar. Es sind schlechte Gründe für eine gute Sache und das ist inakzeptabel, weil man sich im Kosmos von gut und schlecht bereits festgelegt hat, man ist schließlich aus guten Gründen dagegen.
Was nun? Sind die ganzen guten Argumente gegen die Todesstrafe (Menschenrechte, humanistische Werte, religiöse Traditionen, Zivilisationsvorstellungen, …) nichts wert? Soziologisch radikal: Ja, sind sie. Sie können eine Haltung zum Thema stützen, doch sie sind nicht imstande, einen Widerspruch wie den obigen auszuhalten. Die Verknüpfung von Moral und Recht darf nicht getestet, nicht beansprucht werden, wenn sie funktionieren soll. Je mehr man diese Verknüpfung am Alltäglichen oder in der Theorie expliziert, desto mehr erkennt man, Moral und Recht stützen sich nicht, sondern ergänzen sich, sie kümmern sich – aus einer bestimmten Perspektive – um zwei gerade konträr zueinander gerichtete Sachlagen.
Die Moral übernimmt dabei die Orientierungsleistungen für alle Angelegenheiten, die sich kaum formalisieren und nur begrenzt generalisieren lassen. Jeder kennt und befolgt (ungeschriebene) Sitten und Konventionen, man hat sie als Höflichkeitsregeln beiläufig gelernt. Sie spielen in jeder menschlichen Begegnung eine Rolle. Man folgt jedoch nicht einem festgezurrten Skript, sondern bleibt sensibel. Die Achtung eines Menschen ist immer reziprok. Man kann dem Anderen mit gewissen Ehrvorstellungen und Respekthaltungen gegenübertreten, sich auf einen Kontakt vorbereiten, Vorkehrungen treffen, um die seltene Chance nicht zu vermasseln. Oder aber, jemanden zufällig begegnen, unvorbereitet und ungewollt treffen. Eine Sache bleibt von all dem unberührt: Eine Begegnung findet entweder im Modus der gegenseitigen Achtung oder Missachtung statt. Die Achtungsbedingungen können generalisiert werden (Reputation, Standesehre, Gründe zur Bewunderung, …) doch das Erweisen von Achtung, das konkrete Höflichkeitsverhalten, die kleinen Aufmerksamkeiten, das taktvolle Mitspielen sind Aufgaben, denen in jedem Moment nachgekommen werden muss – weil der ganze Sinn darin steckt, anzuzeigen, dass man in genau dieser Situation genau diese Person mit seiner Höflichkeit, seiner Aufmerksamkeit und seinem Taktgefühl meint. Viele Interaktionskonflikte, die auf der Themenebene ausgetragen werden, haben ihren Ursprung im Misslingen der Achtungsmechanik. Wer sich nicht als Person geachtet fühlt, reagiert mit Missachtung auch dem verehrten Rockstar und respektierten Vorgesetzten gegenüber.
Wer sich moralisch (mithilfe der angesprochenen Vehikel: Menschenrechte, Werte, usw.) gegen die Todesstrafe positioniert, gibt damit erst einmal bekannt, unter welchen Achtungsbedingungen er bereit ist, andere zu achten. Wer für die Todesstrafe ist, dem gelten anscheinend Menschenrechte und humanistische Werte nichts – so jemand verdient keine Achtung. Darüber kann auch nicht diskutiert werden, weil man im Gespräch gar nicht bis zur Sachebene des Themas käme. Moralische Kommunikation kennt somit nur zwei Ausprägungen. Entweder man achtet und verbündet sich, wegen der guten Sache. Oder man missachtet und bekämpft sich. (Oder aber, man geht sich klugerweise aus dem Weg.)
Mit dem Recht und der rechtlichen Kommunikation ist nun alles genau umgekehrt. Wer sich auf dem Rechtsweg begegnet, muss sich nicht gegenseitig achten. (Man könnte gerade wegen anhaltender Missachtung dort gelandet sein.) Statt den Höflichkeits- und Anstandsregeln, mit denen man eine konkrete Person adressiert, gelten die Regeln des Rechts. Man orientiert sich nicht aneinander, sondern jeder für sich am Recht und das Recht selbst bleibt unverhandelbar, es gilt, galt und wird immer gelten – der Einzelfall ist dem Recht egal. Strittig sind nur die Inhalte. Manchmal, wenn es besonders kritisch wird, ist sogar ein Richter dabei, der als Dritter moderierend eingreift und sensibel für die konkrete Situation das Recht (die Prozessordnung interpretierend, das Urteil fällend) auslegt. Das Alleinstellungsmerkmal am Recht ist, dass es involvierte Personen vollständig ignoriert. Wissenschaftliche Reputation, wirtschaftliches Vermögen, körperliche Kraft, Prominenz, usw. gelten nicht. In rechtlicher Kommunikation gilt man gerade nicht als Person, sondern wird ausschließlich als Rolle (Angeklagte, Beschwerdeführer, Kläger) adressiert. (Man kommt als konkrete Person vor, aber eigentlich nur als Thema.)
Moral und Recht sind die Korridore, die gutes/richtiges und schlechtes/falsches Verhalten unterscheidbar machen. Moral übernimmt dabei genau die Bereiche, die das Recht nicht erfassen kann und umgekehrt. Moral generalisiert, Recht spezifiziert. Moral personifiziert, Recht ignoriert Personen. Moral/Achtung kann nicht erzwungen werden, Recht gilt immer. Moralische Kommunikation beginnt Konflikte, Recht entscheidet Konflikte. Und so weiter.
Die Todesstrafe ist keine moralische, sondern eine rechtliche Angelegenheit. Argumente pro/contra Todesstrafe sollten somit ebenfalls rechtlich sein und nicht moralisch. Es gibt nämlich rechtlich richtige Argumente, gegen die Todesstrafe, die einen Widerspruch und Diskussionen aushalten. Und genau die gilt es zu mobilisieren. Man könnte also, so wie hier, die Schicksale jeweils einzeln thematisieren, die betroffenen Personen vorstellen, die Todesstrafe für inhuman halten und „finden, dass ihr kein Platz in einer zivilisierten Welt zusteht.“ Oder, man könnte das gesamte Engagement darauf verwenden, die Justiz mit der Frage zu belästigen, wie es eine Prozessordnung geben kann, die sich selbst dem Recht entzieht, in dem sie unrevidierbare Entscheidungen fällt. Mehr als eine konzertierte Kampagne zu dieser Frage ist, denke ich, nicht notwendig. Mit dieser Frage lassen sich dann auch die humanistischen Werte und die Zivilisation wieder ins Boot holen, ohne das es bei der nächsten Welle gleich wieder zu kentern droht – denn wenn einmal festgestellt ist, dass die Todesstrafe einfach nicht rechtens ist, kann man sich über die ausbleibenden Konsequenzen moralisierend beschweren.
(Bild: Peter Thody)
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