Jeder will Willy wählen!

Interessiert man sich für Schwarmverhalten, muss man das gleiche machen, wie wenn man sich für Netzwerke interessiert. Man geht irgendwo hin, wo sie sind und guckt zu, zum Beispiel vormittags auf einem Spielplatz, wenn dort ganze Kindergärten zu finden sind. Die Kinder sind die Schwärme und die Erwachsenen sind das Netzwerk.

Der Unterschied ist einfach: Die Erwachsenen verfolgen Ziele, sie kennen die Grenzen, wissen, wann sie zurück müssen, was sie verbieten und wann sie aus welchen Gründen eingreifen müssen. Die Kinder dagegen lassen sich einfach treiben. Sie bilden spontane Gruppen, bewegen sich hierhin und dorthin, bilden neue Grüppchen, wieder die alten, nun aber hier, usw. Das alles geschieht im Sekundenrhythmus. Die Kinder wissen selbst nie mehr als 15 Sekunden im Voraus, was sie als Nächstes tun und tun wollen, sie lassen es einfach alles geschehen. Trial and Error, ohne Error.

Fehler können nur die Erwachsenen machen, weil nur sie überhaupt Erwartungen ausbilden, an denen gemessen sich Tatsachen als falsch bewerten lassen. Das Schwarmverhalten passiert einfach und die Erwachsenen sind umso klüger, je mehr sie es passieren lassen. Den Schwarm zu bändigen ist schwer, seine Ressourcen spart man lieber für den Moment, zu dem man sie wirklich braucht. Wenn die Kinder zusammengerufen werden, weil sie zurück in den Kindergarten müssen, ist mit dem Schwarm Schluss. Die beliebigen Möglichkeiten werden gegen eindeutige Notwendigkeiten ausgetauscht. Es gibt jetzt Erwartungen gefolgt von Enttäuschungen.

Vielleicht hilft diese Bild, die Piratenpartei zu verstehen. Die Kritik an ihr würde dann deswegen so hart ausfallen und trotzdem so lässig beantwortet werden können, weil sie unvereinbare Kategorien zusammenführt. Es ist ja noch eine große Frage, wie die Piratenpartei zum einen damit kokettieren kann, keine Inhalte zu haben und trotzdem selbstbewußt behauptet, dass nur sie versteht, was es mit allem auf sich hat. Vielleicht ist die Piratenpartei gar keine Partei, sondern einfach ein Schwarm, der durch die Geschichte stolpert, wie Kinder über einen Spielplatz. Wahlerfolge sagen ja nichts weiter aus, als dass eben zugunsten einer Partei gewählt wird. In moralischer, akademischer, politischer Manier lässt sich das ebenso wenig bewerten, wie dass die Deutsche Bank ihr 25-Prozent-Renditeziel schafft. Wie sie es macht, ist egal. Jeder hat eine eigene Erklärung dafür und hängt eine Bewertung dann an, wenn er eine für nötig hält. Es ist alles ein großer Zufall. Auch die Piraten erleben Zufälle, warum sollten sie sie aufklären? Warum wurde die Piratenpartei im Saarland so erfolgreich gewählt? Diese Frage lässt sich nicht beantworten, wenn selbst nur jeder zwanzigste tatsächliche Saar-Piratenwähler glaubt, dafür eine (gute) Erklärung zu haben. Die Piratenpartei verdeutlicht, was im Übrigen gilt und immer galt: wer nach Wählermilieus sucht, findet welche, weil er sie sucht.

Es gibt lesbare Anhaltspunkte, zu vermuten, dass die Piraten ein Schwarm sind, der sich durch die Geschichte treiben lässt. Im Interview sagte der Bundesvorsitzende S. Nerz: „Das ist aber ein Prozess, der sowieso stattfindet.“ Bezogen hat er ihn auf schlicht alles. Formuliert hat er ihn fast unbewußt. „Wir waren eine Bewegung, die gewählt wurde aus Frust über die etablierten Parteien.“ Sagte er später. (Es gab sinnigerweise keinen Anlass, die Antwort auf die Nachfrage: „Gab es keine politische Eigenleistung der Piraten?“ zu drucken. Dafür ist selbst S. Nerz schon zu politisch abgeklärt.) Julia Schramm sagt es nun ähnlich: Denn lassen sie mich ihnen vorweg sagen: Sie werden den Kampf verlieren. So oder so.“ Welcher Kampf? Warum Gewinnen oder Verlieren? Das wüsste man gern. Würde man nachfragen, gäbe es wohl eine Antwort, die wieder sinnigerweise erkenntnisverlustfrei gestrichen werden kann. Sie ließ sich in die Formulierung treiben.

Es verwundert eigentlich nicht, dass die Piraten gut damit leben können, keine Antworten (auf ihnen gestellte Fragen) zu haben. Auf welche Frage sollten sie eine haben müssen? Der Fiskalpakt-Rettungsschirm ist eine Billionen Euro groß. Was soll man dazu schon sagen? Wenn er zwei Billionen Euro groß wäre, was wäre der Unterschied? Deutschland ist inzwischen zwei Billionen Euro wert, soll Europa weniger wert sein als Deutschland? „Schleckerfrauen“ könnten sich sechs Monate bei 80 Prozent des alten Lohns weiterhin täglich treffen, diesmal um von Quasi-Lehrern zu lernen, wie Bewerbungsschreiben formuliert werden. Muss man dazu eine Meinung haben? Könnte es sein, dass in dieser Zeit jemand Geld für Schleckerfilialen aufbringt? Könnte sein. Es könnte sein, dass die 70 Millionen Bürgschaft hätte bezahlt werden müssen. Könnte aber auch nicht sein. Benzinpreise schwanken am Tag um bis zu 8 Cent. Soll man es wie in Österreich machen und politisch festlegen, dass sie das zwar dürfen, aber nur ein Mal am Tag? Man könnte.

Sollte man für jede denkbare Frage programmatische Grenzen festlegen und diese vorab formulieren? Man könnte, es war schließlich lange politische Mode, man will ja nicht ganz aus dem Rahmen fallen. Wieso nicht? Keine Ahnung.

Im Leitartikel der heutigen F.A.Z. stand einer der klügsten journalistischen Erklärgedanken, den ich bis jetzt zu den Piraten gelesen habe: „Die Piraten sind für sie etwas Eigenes, das aus ihrer Generation entstand – das Internet hat sie politisiert, es ist sozusagen ihr Willy Brandt.“ Das Internet ist der Hoffnungsspender, inhaltlich mit allem befüllbar, strukturell durch jeden strapazierbar. Egal was kommt, Willy wird es richten. Willy wählen!

(Bild: Sebastian Niedlich)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

5 Kommentare

  1. Willy wollen ist tatsächlich ein schönes, glaube auch treffendes Bild. Aber wie kann ein charismatischer Politikertypus mit Steuerung durch Liquid Feedback umgehen? Geht das irgendwie zusammen?

  2. Stefan Schulz sagt:

    Ich wüßte nicht, wie es zusammengehen kann. Joachim Paul, Piraten-‚Spitzenkandidat‘ in NRW fragt es sich auch: https://twitter.com/#!/Nick_Haflinger/status/186076523273519105

  3. […] letzten führenden sozialdemokraten gehandelt haben der sich tatsächlich und aufrichtig Jeder will Willy wählen Sozialtheoristen journalistischen Erklärgedanken den ich bis jetzt zu den Piraten gelesen habe: Die Piraten […]

  4. […] sind die Piraten ja gar keine Partei, sondern einfach ein Schwarm, der durch die Geschichte stolpert, wie Kinder über e…, wie Stefan Schulz neulich gemutmaßt hat: Es sei eine große Frage, wie die Piraten so viel […]

  5. […] Zwei Kanzler, zwei politische Welten: vereint auf der Mikrowelle, vereint durch dieses blöde Piraten-orange. Und um bei den Piraten zu bleiben, die gerne von jungen Wählern gewählt werden, ist hier ein Zitat aus einem FAZ-Artikel vom 29.03.2012: „Die Piraten sind für sie (die jüngeren Wähler, A.d.R.) etwas Eigenes, das aus ihrer Generation entstand – das Internet hat sie politisiert, es ist sozusagen ihr Willy Brandt.“ Das ist hart. Der Button muss weg. Schade. Soll Angela bleiben? Natürlich nicht! Wenn das Internet Willy ist, was ist dann Angela? Diese Frage löst sorgenvolles, fast hysterisches Hüsteln aus. Um dem Gedankenwirrwarr zu entkommen, vertut sich der bloggende Elch-Kinderbuch-Autor etwas die Zeit und surft zu Ebay. Hier sucht er Zerstreuung beim Bestellen einer Elch-Rarität (Suchbegriff „Elch“). Und dann steht da: „Viva EL CHE! Viva la Revolution!“ und T-Shirts mit dem berühmten Konterfei von El Comandante, von El „Che“ Guevara, werden für kleines Geld feilgeboten. Ist es ein Zeichen? Ist es ein Wink, dass sozialistische / sozialdemokratische Ideen noch immer ihre Kraft besitzen gegen Piraten-Schwarmintelligenz? […]

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