Die Facebook-Ideologie #postprivacy

Ist das Internet Teil dieser Welt, oder eine eigene? Wer diese Frage nicht stellt, macht einen Fehler. Wer sie beantwortet auch. Christian Heller macht in seinem Buch zum Thema beide. Es gibt nur noch das Internet und unser Schicksal lautet: „Post-Privacy“. „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“ Sagte der ehemalige Chef von Google, Eric Schmidt. Nun liegt in Deutschland ein Buch vor, das die Alltagsideologie des neuen Industriezeitalters nachliefert: „Post-Privacy – Prima leben ohne Privatsphäre“.

Ist Privatsphäre nur ein kurzer historischer Reflex, deren Anachronismus heute schmerzhaft begriffen werden muss? Transformiert das Internet die Gesellschaft in eine bessere, wenn wir es nur zulassen? Macht uns erst das Internet frei? Dreimal Ja sagt Christian Heller. Der Widerspruch fällt schwer, weil er schon bei den Prämissen ansetzen muss, die der Autor gar nicht erst nennt. Sie bleiben implizit, doch schon beim historischen Einstieg ins Thema „Privatsphäre“ offenbaren sich Menschenbild und Gesellschaftsmodell Hellers.

Die Geschichte des Privaten sei, so Heller, vor allem eine Geschichte der Unterdrückung. Die römische Antike kennt den Bürger, dessen familia hinter seinem Rücken verschwand. Der „Haufen Menschen – Frau, Kinder, Sklaven“ ordnete sich der „öffentlichen Aufgabe“ des Vaters unter. Seine Rechte waren ihre Pflichten. Im Mittelalter schloss sich die Familie zum „Schutz gegen eine feindliche Welt“ ähnlich zusammen. Die Familie war das Elementarteilchen der Gesellschaft. Der Einzelne ging in ihr auf. „Sich Ruhe und Selbstbestimmtheit der Einsamkeit zu gönnen war kaum vorgesehen.“ Städte und Staaten entstanden, die „Straße mit ihrem Kommen und Gehen wurde zum Feind“, weshalb sich auch die Familien des 19. Jahrhunderts abschotteten: „Kehrte der Mann aus dem brutalen Tohuwabohu der Öffentlichkeit heim, sollte er im Privaten Idylle und Fürsorge erfahren. Die bereitzustellen war die Aufgabe der Frau, (…) die sich nicht ans Tageslicht traute.“

Die Geschichte der Privatsphäre, die in dem Buch formuliert wird, ist eine grausame. Erst 1890 wurde in den Vereinigten Staaten ein neues Recht formuliert: „The Right to Privacy“ als individuelles „Recht, allein gelassen zu werden.“ Doch sollte dies für die Menschen keine Rettung sein. Denn alleine sein, das wollen wir nicht, weiß Heller. Es sei nur die verlegene Reaktion auf den Umstand, dass wir niemanden finden, mit dem wir Zusammensein wollen.

Doch auf diese Verlegenheit sind wir heute nicht mehr angewiesen. Das ist die frohe Botschaft des Buches. Es gibt jetzt das Netz, wie eine große Stadt, mit „Milliarden Einwohnern“, und es verspricht uns: Wenn wir es ausreichend mit unseren Daten füttern, offenbart es uns, wer zu uns passt. Es führt uns mit Unbekannten aber zu uns passenden zusammen und verwirklicht einen großen Traum: Das „Ugol’sche Gesetz“, welches besagt: „Du bist nicht der Einzige.“

Die unendlichen digitalen Speicher müssen nur gefüttert und die unfassbaren Prozessorkapazitäten ausgebeutet werden. Alles, was benötigt wird, ist vorhanden: Die Algorithmen sind geschrieben, die Kabel verlegt, selbst die Sensorik ist schon in allen Computern und Telefonen vorhanden. Es fehlt nur noch eins: die Bereitschaft der Menschen, den Daten die Würde zu verleihen, die sie ansonsten nur für sich selbst in Anspruch nehmen. Das Netz ist „der Raum, der sich Herrschaftsansprüchen entzieht und Freiheiten schafft“. Die unausweichliche Einsicht in die Ohnmacht des Datenschutzes solle lieber heute festgestellt werden, um das Tor in die Freiheit endlich zu öffnen.

Das Buch zu lesen stimmt nachdenklich. Es plädiert dafür, unsere menschlichen Sinne gegen technische Sensoren auszutauschen und uns der Magie der semantischen Sprache zu berauben, zugunsten des Hokuspokus syntaktischer Algorithmen. Unsere Gehirne sollen entlastet werden, weil die künstlichen Datenspeicher seine Aufgabe so viel besser erfüllen. Alles soll „verdatet“ werden, nicht nur unsere Terminkalender und Einkaufszettel, sondern auch „Gott“, die „Liebe“, unsere „Gedanken“ und „Gespräche“. Und wozu? Damit wir nicht länger mit falschen Tabus belastet werden und unsere sexuellen Fetische ausleben können. Mit dieser Idee durchzieht Heller seine gesamte Schrift: Wir werden erst mithilfe der „Denkmaschinen des Netzes“ endlich wir selbst sein können, denn sie wissen mehr über uns, als „wir selbst, unsere Eltern und unsere Freunde zusammengenommen“.

Doch was bedeutet das? Wer sind wir denn? Und wo? Gefangen in einer materiellen, limitierten und flüchtigen Welt, die uns stets mit neuen Hindernissen und Rätseln plagt, obwohl es so einfach wäre, in der Virtualität ein besseres Dasein zu finden, ohne Grenzen, ohne Notwendigkeiten – stets auf unsere Befriedigung bedacht? Besteht das Wunder der Liebe im Aufbau einer zwischenmenschlichen Beziehung oder im Abbau einer sexuellen Spannung? Wird Kreativität durch Hürden herausgefordert oder durch Grenzenlosigkeit ermöglicht? Möchten wir in einer Gesellschaft leben, die kein Vertrauen und keine Zuversicht mehr erfordert, weil die Antworten auf unsere Fragen durch „Data-Mining“ vorhergesagt werden?

Diese Fragen stellt das Buch nicht, doch sie drängen sich beim Leser auf. Man möchte dem Autor nicht nur auf inhaltlicher Ebene widersprechen, aber auch das bietet sich immer wieder an. Er sympathisiert mit dem Plädoyer des Wired-Chefredakteurs, die Theorien abzuschaffen, weil es keine Notwendigkeit mehr gibt, die Komplexität der Welt mit ihrer Hilfe auf die Kapazität unserer Köpfe zu beschneiden. Die Vorhersagen kämen jetzt aus der „korrelativen Analytik“ die mit ihren fleißigen Algorithmen jede Datenmenge bewältigt. Doch brauchen wir Theorien für Vorhersagen oder nicht viel mehr, um rückblickend Sinn zu gewinnen? Kann man qualitatives Denken durch quantitatives Rechnen ersetzen? Kommt es in der Wissenschaft nur auf Ergebnisse an? Produziert die Wissenschaft eigentlich Antworten oder Fragen? Ist die Komplexität der Gesellschaft gleichzusetzen mit der Menge ihrer registrierbaren Daten? Schafft nicht jedes neue Wissen noch viel mehr neues Nichtwissen?

Wieder kommen all die Fragen auf, die der Autor nicht behandelt. Er führt seine Antworten implizit mit, doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Leser in vielen Fragen anders optiert. Man versteht das Buch inhaltlich, aber die Beweggründe des Autors nicht. Man kann mit der Lehre des Buches nicht einverstanden sein.

In der editorischen Notiz trägt Heller nach, dass er insbesondere der Empfehlung gefolgt ist, eine Utopie zu formulieren. Den Alltag hat er dadurch aus den Augen verloren. Denn so verlockend es ist, zu denken, dass wir demnächst unsere Gemeinschaft Gleichgesinnter finden, so real ist, dass wir in Nachbarschaften leben und in Organisationen arbeiten, über deren weitere Mitglieder wir nicht einfach befinden können. Wollen wir trotzdem Zugang zu allen Daten dieser Menschen und „filtersouverän“ es zu unserer Verantwortung machen, über was wir uns informieren, und was wir lieber ignorieren?

Das Buch formuliert keine Utopie, sondern eine Ideologie. Es behauptet zwar, mit Recht, dass das Internet vor allem auf dezentralen Prinzipien beruht, dass die Politik noch kaum Wege gefunden hat, es wie andere Lebensbereiche zu regulieren und dass es die mediale Unmündigkeit des Einzelnen überwinden helfen könnte, doch es übersieht schlicht, dass all diese Aspekte nicht gegen die ökonomische Monopolisierung und die institutionelle Zentralisierung vieler Internetaktivitäten sprechen.

Nur wenige Jahrzehnte zuvor wurde auf ganz ähnliche Weise die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung formuliert. Damals war es das Auto, dass dieses Versprechen einlöste. Inzwischen wurden die gepriesenen Vorzüge kompensiert. Der Klimawandel, die Öl-Diktaturen und der landfressende Biospritanbau sind heute Thema. Und nun ist es das Smartphone, das uns den nächsten Weg in die Freiheit verspricht. Es prangt auch auf dem Cover des Buches von Christian Heller.

„Im Netz breiten sich Wissen, Intelligenz und Verständnis aus“. So kann man es sagen und ein ganzes Buch darüber schreiben. Oder man kann das Vorzeichen der Aussage umkehren und ein ebenso engagiertes, diesmal kulturpessimistisches Buch schreiben. Heraus käme in beiden Versionen die Feststellung, dass wir derzeit nicht wissen, ob uns die Offenbarung allen Wissens in eine bessere Gesellschaft führt. Das Einzige, was man schon heute sieht, ist, dass Amazon, Google, Apple und Facebook an nichts anderem interessiert sind, als an unseren Daten und dass bisher nur diese großen Firmen daraus Wissen gewinnen konnten, welches sie bislang für sich behalten. Christian Heller weiß das, eine Seite im Buch widmet er diesem Phänomen. Die restlichen 160 Seiten sind eine Kapitulation im Kostüm des verlegenen Optimismus.

Christian Heller, Post-Privacy – Prima Leben ohne Privatsphäre, C.H.Beck, Oktober 2011, 173 Seiten, 12,95 Euro

(Bild: Johan Larsson)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. Thomas sagt:

    Eine interessante Gegenposition. Danke!

  2. […] die sich aus den quasi-natürlichen Entwicklungen der Technik ergibt (vgl. hierzu auch die Überlegungen von Stefan Schulz bei den Sozialtheoristen). Für Versuche, dies politisch zu steuern, hat er dabei nur ein müdes Schulterzucken übrig. So […]

  3. […] Kontrolle aufgegriffen wird, ist mutig – aber dumm. Hätte er sich den historischen Rückgriff (wie sich Christian Heller ihm annahm) getraut, hätte ich es wohl rezensiert, um zu prüfen, was bleibt. Nur über Wille und Vorstellung […]

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