Die Krise Europas im Spiegel der Zeit

Finnland, so berichtet Spiegel Online heute, bereitet sich auf den Kollaps der Eurozone vor. An und für sich keine neue Nachricht, da sich die Möglichkeit eines Zusammenbruches der Eurozone seit Monaten am europäischen Horizont abzuzeichnen scheint.

Dennoch lässt sich an dieser kurzen Nachricht ein Prinzip nachzeichnen, mit dem die Politik kontinuierlich zu kämpfen hat. Ein Prinzip aber, das Zeit benötigt, um erläutert zu werden.

Wir erleben aktuell jeden Tag, dass das Ende der Eurozone heraufbeschworen wird. Ein Szenario, das, schenkt man den Wirtschaftswissenschaftler Glauben, nicht nur unglaublich teuer wäre, sondern darüber hinaus auch sämtliche Erwartungen einer geordneten Zukunft gegenüber zerstören würde. Man müsste neu anfangen: sich neue politische Fixpunkte suchen, neue Allianzen eingehen, hoffen, dass die Einführung der alten neuen Währungen nicht Im- und Exportquoten pulverisieren, usw. – und nichts davon wäre durch vorhandene Erfahrungen mit vergangenen Ereignissen gedeckt. Aufgrund dieser Unbekanntheit lehnt die Mehrzahl der Politiker das Risiko eines Endes des politischen Europas ab. Und dies äußert sich im Handeln, die Krise zu vermeiden.

Das Szenario eines Endes Europas ist im Zeitmodus der gegenwärtigen Zukunft formuliert, also der Zukunft, die man jetzt erwartet sich zu ereignen. Das Handeln der Politik hingegen, bspw. das Gewähren von Hilfen für Griechenland, muss sich zwangsläufig als Handeln in der Modalität der zukünftigen Gegenwart realisieren. Es muss darauf abstellen, dass sich die zukünftige Gegenwart von der jetzigen unterscheidet – eben durch die eigenen Handlungen. Grundlage des Handelns kann also folglich nicht die gegenwärtige Zukunft sein – wäre dem so, würde man sich kontinuierlich selber entmutigen und aus Fatalismus nicht mehr handeln müssen. Diese Möglichkeit besteht aber nicht mehr in der Moderne. Keine politische Administration kann es sich erlauben, mit Verweis auf eine vermeintlich bereits determinierte Zukunft – sei es durch Schicksal, oder moderner: durch Hochtechnologie – nicht mehr zu handeln, weil ja alles schon feststeht. Vielmehr scheint der Hinweis auf eine katastrophale Zukunft zum gegenwärtigen Handeln zu zwingen. Dies ist, so könnte man meinen, seine Funktion. Der Politik wird keineswegs erlassen, zu handeln.

Weiterhin fällt auf, dass die gegenwärtige Zukunft zwar eine Zeitmodalität ist, aber oftmals als Bezeichnung eines spezifischen Zeitpunktes begriffen wird, in den man zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt. Der Begriff der zukünftigen Gegenwart entzieht sich solch einer temporalen Materialisierung. Er kann immer nur als ein Punkt verstanden werden, der zur Planung der Zukunft anregt. Das Paradoxe ist, dass die Vorstellung einer Gegenwart, die sich auf einer Zeitleiste einer bestimmten, feststehenden Ereigniskonstellation nähert – bspw. dem Aus des Euro – eine Vorstellung ist, die Zeit strikt linear, man könnte also sagen: vormodern, denkt. Diese Vorstellung kann gegenwärtiges Handeln nicht als Teil der Gleichung akzeptieren, da sie sich dadurch selber dekonstruieren würde. Die Zukunft kann in diesem Sinne, um einen Aufsatztitel Niklas Luhmanns zu zitieren, nicht beginnen. Sie begleitet als Horizont die Gegenwart und da Unbekanntheit ihr inhärent ist, lädt sie zur Ausgestaltung ihrer selbst ein. Die Zukunft fordert zum Handeln auf – und dies geht nur, wenn man versucht, eine Differenz zwischen der gegenwärtigen Gegenwart und der zukünftigen Gegenwart zu ziehen, ohne dass dies mit der Determination eines unausweichlichen Szenarios verbunden ist. Dennoch: die gegenwärtige Zukunft ist durch Handeln, das sich an zukünftigen Gegenwarten orientiert, nicht zu beruhigen. Die beiden Vorstellungen sind in der Gegenwart nicht zu integrieren.

Das bringt die Politik in die paradoxe Lage, dass sie kontinuierlich handelt, ohne dass dieses Handeln der Bedrohlichkeit der Zukunft abträglich ist.

Da die ausgerufenen Krisenszenarien aber immer Technologien, oder Auswirkungen dieser, behandeln, die eng mit dem modernen Leben verflochten sind (Strom aus Atomkraftwerken, Chemieanlagen zur Produktion kunststoffbasierter Produkte, usw.), lässt sich das Worst Case Szenario nicht durch gegenwärtige Handlungen erträglicher machen. Die Dauer ihrer Möglichkeit hält an, erweist sich als persistent. Es braucht Myriaden von Einzelhandlungen, bis die Dauer der Möglichkeit dieser Szenarien an Glaubwürdigkeit verliert – bis bspw. die Atomkraft keine Rolle mehr spielt, weil sie schlicht nicht mehr existent ist und somit jedes damit verbundene Krisenszenario seine Plausibilität verliert. Wahrscheinlich ist der Zeitraum, bis dies erreicht ist, aber ungleich länger als es brauchen wird, bis die Eurokrise der Vergangenheit angehört.

Bis dahin aber muss die Politik damit leben, dass sie sich in einer paradoxen Situation wiederfindet. Das Ende des politischen Europas, das man nicht möchte, deformiert in der Form der gegenwärtigen Zukunft die Gegenwart und verlangt, dass man sich darauf vorbereitet. Gleichzeitig möchte man verhindern, dass „Europa“ zusammenbricht und handelt in zwei Richtungen: man versucht, dem Zusammenbruch entgegenzuwirken und sich gleichzeitig darauf vorzubereiten. Das man sich nach zwei Seiten absichert, ist natürlich an und für sich kein Problem. Und es wäre politisch auch unverantwortlich, sich nicht darauf vorzubereiten. Nur kann die Politik dies, ob der engen Beobachtung durch die Medien, nicht insgeheim tun. Und dann erzeugt das Absichern den paradoxen Effekt, dass die Vorbereitung auf die gegenwärtige Zukunft diese zu konfirmieren scheint, gegenwärtige Maßnahmen zur Verhinderung eben dieser Zukunft also in Mißkredit bringt. Das man diesen Effekt semantisch durch Euphemismen wie „Notfallpläne“ abzumildern sucht, hilft nur bedingt. Durch zwei konträre Zeitmodalitäten bedingt, verschlechtert die Politik ihre Lage synchron zu dem Versuch, sie zu verbessern. Und ob das Pendel zur Bewältigung der Krise, oder aber zu ihrer Realisierung ausschlägt, bleibt dann nur abzuwarten.

 

Quelle Bild: Bilder.n3po.com

Veröffentlicht von Henrik Dosdall

denkt, dass Luhmann recht hatte und liest die Soziologie dementsprechend. Schwerpunkte sind Systemtheorie und Epistemologie.

11 Kommentare

  1. alpe sagt:

    Also bitte! Man kann sehr wohl und widerspruchsfrei gleichzeitig auf das erhoffte Gute zuarbeiten und sich für das Schlechte vorbereiten.

    Jeder Privatmann, der alles tut um auf der Karriereleiter voranzuschreiten, während er parallel einen Teil seines Einkommens auf einem Sparkonto parkt, „für schlechte Zeiten“ oder die Rente, tut nichts anderes. Wo ist da der Widerspruch?

  2. Henrik sagt:

    Das Bsp. hinkt vorne und hinten. Geld zu sparen, um für einen eventuellen (= also kontingenten und eventuell auch ausbleibenden) Schadensfall vorbereitet zu sein, ist nicht dasselbe wie sich „proaktiv“ auf zwei verchiedene, konkrete Szenarien vorzubereiten. Anders formuliert, geht es nicht darum, dass die Handlung inhärent widersprüchich wäre. Ist sie nicht. Sie erzeugt allerdings Strukturunsicherheit, an welches Szenario angeschlossen werden soll. Und damit zum 2. Problem des Beispiels: niemaden interessiert der Privatmann, wohl aber eine Politik, die sich auf das Ende des Euro vorbereitet und dieses Szenario dadurch performativ konfirmiert.

  3. alpe sagt:

    Mein Beispiel hinkt vielleicht, ich hatte aber auch nicht den Anspruch, eine strukturanalog einwandfreie Abbildung Deiner Schilderungen auf den Privatmann zu liefern.

    Vielleicht ohne Beispiel und abstrakter gesprochen: Ich stimme mit Deiner Einschätzung schlicht nicht überein. Ich kann keine „Strukturunsicherheit“ erkennen, nur weil sich ein politisches System im Angesicht der der Problemlage inhärenten Kontingenz auf mehrere mögliche zukünftige Situationen vorbereitet. Im Gegenteil würde ich sogar sagen, dass ein Ausbleiben eines Vorbereitens auf eine Griechenlandpleite ökonomisch grob fahrlässig und politisch nicht zu verantworten wäre. Ich kann auch ernsthaft nicht erkennen, wie man das anders sehen kann. Deine Sichtweise mag ja theoretisch (in irgendeinem Sinne) „sauberer“ sein, aber pragmatisch, realistisch und problemadäquat ist sie jedenfalls nicht.

    Die einzige Strukturunsicherheit, die ich erkennen kann, ist die, dass man als politisch Verantwortlicher seine Wiederwahlchancen beschneidet, weil man dem Bürger nicht mehr klar _die_ eine richtige und seeligmachende Lösung als Ziel seines Handelns verkaufen kann. Der Bürger präferiert ja bei Politikern offenbar „klare Kante“ (wenn auch kurzsichtig) gegenüber vernünftigem und abgewogenem Handeln. Selbst schuld!

    Noch ein Wort zur „performativen Konfirmierung“: Bei wem oder wie manifestiert sich denn diese von der Politik vorgenommene Konfirmierung? Beim Privatmann?

  4. Henrik sagt:

    Zunächst einmal verstehe ich unter Strukturen ganz systemtheoretisch Erwartungen. Vielleicht räumt das die eine, oder andere begriffliche Schwierigkeit aus.

    Unsicherheiten entstehen bei allen Beteiligten – sei es Wirtschaft, Politik, usw. Jede NTV Formulierung, dass die Märkte nicht wissen, wie sie auf unterschiedliche politische Signale reagieren sollen, ist die empirische Substanz meines Arguments.

    Und natürlich muss man sich auf einen möglichen Austrit Griechenlands vorbereiten (wie es ja im Übrigen auch im Text steht). Nur wenn man das kommuniziert (als Politik vor dem massiven Interesse der Medien) und gleichzeitig handelt, um den Ausstieg zu vermeiden, schafft man einfach Unsicherheit: niemand (=die betroffenen Funktionskontexte wie Wirtschaft, usw.) weiss mehr, in welche Richtung es eigentlich geht – und die Politik selber eben auch nicht. Sie konfirmiert performativ – um den Ausdruck noch ein letztes Mal zu nutzen – beide Szenarien. Und Probleme gibt dann weniger beim Privatmann, als bei den Organisationen, Institutionen & Co. die handelnd auf die Politik reagieren müssen.

  5. alpe sagt:

    Ok, Henrik, ich stimme Dir zu insofern als es von der Politik – oder sagen wir lieber den handelnden Politikern – ungeschickt wäre, die Vorbereitung auf ein mögliches Scheitern Griechenlands in aller Öffentlichkeit medienwirksam stets und immer zu betonen, wenn man zeitgleich den Eindruck erwecken möchte, Griechenland und den Euro auf jeden Fall retten zu wollen. Dass man auf eine solche Vorbereitung nichtsdestoweniger nicht verzichten kann, darüber sind wir uns ja beide auch einig.

    Geheimhaltung erscheint Dir allerdings als schwierig. Ich habe gerade noch einmal Deinen letzten Absatz gelesen und erkenne das Dilemma an. Daher vielleicht und logisch die Anschlussfrage: Was sollen die Politiker (oder, wenn Du als Systemtheoretiker das bevorzugst, die Politik) also tun?

  6. Henrik sagt:

    Ich denke nicht, dass man da was machen kann. Also in einer Demokratie muss man das, denke ich, als modus operandi hinnehmen. Man kann dann eben nicht mehr steuern/planen, ohne gleichzeitig dem gegenteiligen Handeln durch das eigene Handeln Aufwind zu geben. Wichtig wäre dann nur die Anschlussfrage: warum klappen manche Sachen, andere aber nicht?

  7. alpe sagt:

    Nun, manche Sachen klappen (also erreichen ihre intendierten Ziele oder erfüllen ihre intendierten Zwecke), wie z.B. die Kurzarbeiterregelung oder Abwrackprämie in der Finanzkrise, andere nicht, wie z.B. die Praxisgebühr oder die Riesterrente, weil dies sozusagen Operationen am offenen Herzen ohne Patentrezept sind. Die handelnden Personen können a) ihren Handlungskontext nicht oder nur sehr schwer analysieren (zukunftsbezogen, komplexe Wirkzusammenhänge etc.), wollen b) aber nichtsdestotrotz nicht einfach nur passive Beobachter sein, sondern trotz der Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten selber aktiv werden (Aktivität zu zeigen ist ja für Politiker auch immer ganz wichtig). In der Organisationstheorie gibt es für solche Situationen den schönen Begriff des „Enacting“ (Daft, Weick).

    Hinzu kommt, dass gerade in ökonomischen Zusammenhängen die Psychologie tatsächlich eine große Rolle spielt, was die Vorhersagbarkeit des Verhaltens betroffener und beteiligter Akteure noch einmal erschwert. Da bleibt oft außer Trial and Error nicht mehr viel über.

  8. Henrik sagt:

    Da würde ich nur teilweise zustimmen. Sicher hat gesetzliche Steuerung zunächst einmal mehr Aussicht auf Durchsetzung – ob dann das, was dabei rauskommt das ist, was intendiert wurde, ist eine andere Frage. Zumal sich gerade Gesetze ja auch umschiffen lassen – siehe Steuergesetzgebung. Und dann – so mein Verständnis – reden wir von Enactment. Man schafft sich durch Steuerung/Planung/Prognose eine Umwelt bzw. eine Reaktion der Umwelt, die unkontrollierbar und unvorhersehbar ist. Und eben dies muss dann dazu anregen, neue Differenzen zw. Vergangenheit und Zukunft, also zwischen dem was man als Folge des eigentlichen Handelns erkennen kann und dem, was man eigentlich will, in die Realität einzulesen. Nur ist der Begriff des Nachsteuerns hier, m.E., reichlich unterkomplex, weil sich diese Mechanismus kontinuierlich wiederholt und der angstrebte Endzustand eben genau dies nicht ist: er ist eben keine eigene „Zeit“. Stattdessen entwickelt sich das System dann entlang der Linie seiner eigenen Unvollendung…

  9. alpe sagt:

    Ich denke, es versteht sich von selbst, dass in freien Gesellschaften zukunftbezogenes politisches Handeln sich gleichzeitig seine eigene Zukunft „enacted“ und niemals ein vorgeplantes „Endziel“ wird erreichen können. Mit der Feststellung dieses Phänomens (welches übrigens auch ein ständiger Dorn in der Seite der Gleichgewichtsmodelle der Volkswirte ist) gehst Du allerdings nicht auf meinen Hauptpunkt ein. Welche andere Möglichkeit als Trial and Error siehst Du denn, einen Schwenk zu einem autoritär-diktatorischen Regime einmal ausgeschlossen?

    Was sollen die Bundeskanzler dieser Welt und ihre Finanzminister in einer noch nie dagewesenen Situation wie der Eurokrise anderes tun außer mehr oder weniger plausibel klingende Annahmen zu treffen, Modelle zu basteln und Pläne zu implementieren in der besten Hoffnung, dass alles so kommt wie sie sich das vorstellen (which it, of course, invariably does not)?

  10. Henrik sagt:

    Also zunächst mal ist dies kein Problem freier vs. autoritärer Gesellschaften, würde ich sagen.
    Ich bin deiner Frage ausgewichen, weil ich denke, dass der Übergang von der Beschreibung des Problems hin zu einem Lösungsvorschlag sozusagen den Übergang von der Soziologie zur Politikwissenschaft markiert. Und da würde ich mich zurückhalten, da es mir um die soziologische Beschreibung geht, nicht um Handlungsempfehlungen.

    Man könnte wohl aber sagen, dass es klug wäre, möglichst keine irreversiblen Entscheidungen zu treffen, sondern nur solche, die sich, so sie sich als falsch erweisen, auch zurückgenommen werden können. Also Kontingenzen offen halten. Aber das ist ja leider auch nichts wirklich neues.

  11. alpe sagt:

    Fair enough. Man muss ja auch nicht stets und ständig seine vermeintlichen Verbesserungsvorschläge in die Welt erbrechen. Kann ich gut verstehen.

    Ich fand es nur etwas komisch, dass Du einen Sachverhalt lamentierst und als Problem darstellst, zu dem es m.E. logisch keine Alternative gibt. Was könn’n se denn machen, die Politiker? Aber was soll’s. Ich finde übrigens Deine begriffliche Gegenüberstellung von zukünftiger Gegenwart und gegenwärtiger Zukunft sehr gut! Sie ist sowohl griffig als auch treffend. Werde ich mir merken. :-)

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