Ohne Gehirn ist alles nichts

Johannes Ponader twitterte vorhin darüber, dass nun 200 Demonstranten am Brandenburger Tor seien, um die dortigen Hilfe- und Asylsuchenden zu unterstützen. Die eigentliche Information steckt natürlich in der Nachricht selbst: Johannes Ponader ist im #refugeecamp!

Nach dem turbulenten Freitag für die Piratenpartei, warteten am Wochenende viele Journalisten auf eine Gelegenheit, J. Ponader habhaft zu werden. Auf der Suche nach Konflikten – so würde man es positiv sagen – wollten sie ein Statement der Gegenseite, nachdem ihnen Matthias Schrade in seiner Erfindung des ‚angekündigten Wenn-Dann-Rücktritts‘ inkl. namentlicher Beschuldigungen seine Seite aufs Auge gedrückt hatte.

Ponader hatte recht schnell aber auch butterweich reagiert (tatsächlich ohne irgendwo im Text seinen Namen als Autor zu hinterlassen). Das reichte verständlicherweise nicht. Doch weder Ponader, noch die Piraten wollten diesen Konflikt weitertreiben. Nicht weil sie keine Lust hätten, sondern weil ihnen der Konflikt aus den Händen geglitten war. Shitstorming ist für Piraten eigentlich eine Art Spiel. Nicht zielführend, aber immer auch ein bisschen mit dem Blick darauf, dass nicht allzu viel kaputt geht. Als ihr Buvo plötzlich in Mitleidenschaft gezogen wurde, erkannte man offenbar, dass ihnen doch die ohnehin nicht vorhandene Kontrolle verlustig gegangen war.

Aber neben dem Shitstorming haben die Piraten noch eine andere Strategie parat: Hijacking; sie suchen sich ein Thema, möglichst eins das schon erste Attraktionshürden genommen hat, und übernehmen es. So manche Petitionen wurden so zu Piratenthemen, auch der Feminismus bekam durch Piratenhijacker seine neofeministische Seite und nun vereinnahmten die Piraten den Konflikt zwischen Asylsuchenden und dem deutschen Staat.

Dafür gibt es gut Gründe. Zum Beispiel: Man kann, nimmt man sich ihm an, eigentlich nichts falsch machen und man ist erst einmal beschäftigt. Wer Asylsuchende unterstützt ist immer auf der richtigen Seite, das Unterstützungspotantial ist enorm und, einer der Vorzüge, der Konfliktgegner ist bekannt, er passt, er bietet sich gerade zu an. Es sind die regierenden Parteien, etwas diffus aber irgendwie plausibel. Die Piraten sitzen nicht im Bundestag, also machen sie außerparlamentarische Opposition. Das wurde lange von ihnen gefordert, nun tun sie es.

Als nun ein Journalist mit seinem naheliegenden Kalkül die Konfliktlinien vermischte, und beim Berliner #refugeecamp Johannes Ponader erwartete und in dieser Angelegenheit eine Twitter-PM an Laura Dornheim schrieb und ihr das genau so mitteilte, da kam ihr eine Idee:

Mein Gedanke: Verdammt, dass man bei der Unterstützung von Asylsuchenden nichts falsch machen könne, musste als Idee doch wieder verworfen werden. Es war allerdings auch klar, dass es bei der Ankündigung bleiben würde, denn Piraten machen Fehler, sie richten aber keine Katastrophen an. Das hoffte ich zumindest und kommentierte, wie das Ankündigungskalkül von nackten Brüsten den gesamten Folgenreichtum der Piratenidee abbilde: programmierte Enttäuschung.

Plötzlich hieß es jedoch:

Es war offenbar doch besser erst einmal abzuwarten. – Letztlich kam es dann aber wie erwartet: Die jungen Damen zogen sich nicht aus, sie kamen mit bedruckten T-Shirts und warben für die Anliegen der Asylsuchenden, bzw. mehr als „Humanity“ passte auch nicht auf die Hemden. Transparenz, Partizipation & Humanity – der guten Dinge…

Allerdings – und deswegen der Aufriss an dieser Stelle – hatte das Spektakel ein kleines mediales Nachspiel, das mich ein wenig aufstoßen ließ. Denn laut taz nahm die Veranstaltung ein interessantes Ende:

Es waren doch nackte Titten versprochen. Wo sind die? Die gibt es nicht. Stattdessen steht auf den T-Shirts „Human rights, not tits“. Die Piraten rufen: „Sex sells. Human rights are not for sale“ – Sex verkauft sich immer. Aber Menschenrechte sind nicht für den Schlussverkauf da.

Was soll das? Die PiratInnen sagen es: „Schämt euch.“ Damit meinen sie die Journalisten. Was die nämlich nicht wissen: Die Piratinnen hatten nie vor, sich auszuziehen. Es ist ein Fake. Mit dem wollen sie „die Medien und deren Sexismus vorführen“.

„Ist es nicht traurig“, fragt Anke Domscheit-Berg, „dass niemand der Journalisten auf die Idee kommt, dass wir uns niemals ausgezogen hätten?“

Die Piraten locken mit, von Anbeginn an dämlichen „Versprechungen“ Journalisten zu einer Demonstration, die auch ohne Piraten für einige Massenmedien interessant geworden ist, feiern dann die Präsenz der Journalisten als ihren Sieg, beschimpfen sie allerdings gleichzeitig und halten 200 Demonstranten für einen nennenswerten Erfolg bei einem Thema, zu dessen Problem sie nicht durchdringen wollen und das sie darüber hinaus in der Frist der nächsten 10 Tage sowieso wieder vergessen werden.

Strohpuppen, na gut; so als ob es in Deutschland, dass sie mitregieren wollen – trotz allem – keine politisch ordentlich behandelbaren Probleme gibt, denen man sich schon bei ernsten Ambitionen auf bundesparlamentarische Mitbestimmung widmen kann. Es gibt – neben den Aktionismusschauplätzen – sogar engagierte, handelnde Problemlöser, denen nicht geholfen wird, wenn man ihnen die Probleme hijackt um sie dann öffentlichkeitswirksam zu beerdigen.

Es ist unverständlich, weshalb bei den Piraten kaum noch mitgedacht wird.

Seminarfrage für alle Mitleser: Welche Gründe sprechen dafür, beim Thema Asylrecht / Umgang mit Asylsuchenden die Öffentlichkeit zu mobilisieren?

(Bild: Suzanne Hamilton)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

22 Kommentare

  1. Felix sagt:

    Die Berliner Polizei hatte vor nicht einmal einem Jahr ein Camp aufgelöst. Hat keiner was von mitbekommen? Wie komisch aber auch.

    Nun, das Refugee-Camp kennt jetzt jeder. Warum ist das wohl so?

  2. Stefan Schulz sagt:

    Ich verweise einfach auf meine Seminarfrage, Felix.

  3. Dunehopper sagt:

    @Felix
    Nein, das Refugee-Camp kennt KEINE SAU!
    Die Flüchtlinge habe einen langen Marsch hinter sich (von dem meines Wissens nach ein einziges Mal im ZDF Morgenmagazin berichtet wurde) und sitzen seit einer Woche vor dem Wahrzeichen der Bundeshauptstadt Berlin. Davon wissen Menschen die twittern und die Touristen, die zufällig da waren. Sonst niemand. Oder war was in der Tagesschau, den Tagesthemen im heute-Journal? In irgendeiner Zeitung (der Print-Version)? Frag mal Deine Kollegen, Eltern und Bekannten nach #Refugeecamp. Ohne die #tits4freedom hätte sich wahrscheinlich nicht mal die taz und erst recht nicht der Focus zu einem Bericht durchringen können.

  4. Haary sagt:

    Während der ganzen Aktionen fiel der Name der Piraten kaum, Parteiembleme waren nicht zu sehen. Ich sehe keine Übernahme des Themas zu parteipolitischen Zwecken. Im Gegensatz zu anderen Parteien, die bei jeder Soli-Demo erstmal mit einer ganzenStaffel Parteiflaggen-Trägern anrücken

  5. Christian sagt:

    „auch der Feminismus bekam durch Piratenhijacker seine neofeministische Seite“

    War es nicht eher so, dass der Feminismus hier gehijacked hat?

  6. Fritz sagt:

    Warum die Öffentlichkeit mobilisieren? Die Asylpolitik ist ein Tabuthema. Das ist mit eine Ursache dafür, dass auch die Asylsuchenden selbst, die auf der Flucht befindlichen Menschen, regelrecht tabuisiert werden, das heißt zu einer Art Klasse der „Unberührbaren“ werden, ganz ähnlich wie die Roma. Man verbirgt sie regelrecht vor der Gesellschaft, daher Lagerwohnräume hinterm Gewerbegebiet, daher die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, daher das Beschmeiden jeweder Möglichkeiten, in diesem Land anzukommen. Die Menschenscheu vor dem Flüchtling ist im rechten Flügel der Gesellschaft chauvinistisch begründet, in der Mitte durch Geiz und links ist man weniger scheu, aber ich möchte nich wissen, ob nicht im Grunde seines Herzens auch so mancher Pirat, Grüne oder Linker am liebsten von diesen Bettelmenschen am liebsten nicht behlligt werden möchte. Das Problem wird sozusagen inländisch „abgeschoben“, die Vorform der echten Abschiebung. Die Motive hinter dieser Inlandsabschiebung sind seltsam geschichtet und für mich auch nicht ganz klar. Zu einem Gutteil liegt es einfach daran, dass man hier schlicht und ergreifend moralisch gefordert wären. Und in diesem Punkt darf man sich nichts vormachen: Moralische Insuffizienz ist nicht das Privileg von Rechtsradikalen, Stammtischbrüdern und Bänkern, sondern zieht sich durch alle Schichten und Teile der Gesellschaft, sie hat sogar bei gläubigen Christen eine Heimat, gut verschanzt hinter der bornierten Fassade ihrer Sonntagskollekte.
    Wenn man sich die Öffentlichkeitsstrategie anschaut, kann man nur sagen: Profis sind da nicht gerade am Werk. Ich habe noch die Hoffnung, dass das Thema sich erst in der Saat-Phase befindet. Ganz fatal ist es dabei, wenn es vordergründig politisiert wird. Es gibt politische Forderungen, natürlich, aber siegen kann dieser Protest nur auf der menschlichen Ebene. Jedenfalls in D, wo die Ethik so tief liegt und die psychischen Tabuzonen so undurchdringlich sind. Wo sind die Kirchen? Wo ist Pfarrer Gauck und sein Lobgesang auf die Freiheit? Wo sind die MENSCHEN?!?! Wie da alle auf ihren Vorteil bedacht sind, die Journalisten, die Ponaders, die Grundeinkommens-Propagandisten, die Politiker, die „berührt sind“ und doch weggucken, um keinen Wähler zu vergraulen („jetzt bitte keine Asylanten-Debatte, meine Herren, das möchte die Merkel, dass wir uns den Schuh anziehen, können wir nach der Wahl zum Thema machen, aber nicht vor der Wahl, bitte, lasst uns nur über konkrete Verbesserungen für unsere Wähler reden …“)
    Tja, und demnächst dann Sankt Martin … Im Schnee saß , im Schnee saß, Im Schnee, da saß ein armer Mann, hat Kleider nicht, hat Lumpen an. „O helft mir doch in meiner Not, Sonst ist der bittre Frost mein Tod …“

  7. […] führende Piraten das Thema für sich entdeckt. Darüber schreibt Stefan Schulz auf seinem Blog. Wir veröffentlichen seinen Text als […]

  8. Stefan Schulz sagt:

    Wirklich sehr gut, Fritz. Ich sehe es ganz ähnlich. Manche Debatten können nur im Genom der Gesellschaft verändert werden, so attraktiv es scheint, am Phänotyp herumzudoktern, ihn zu kritisieren und sich kurz dafür Zeit zu nehmen.

  9. Peter sagt:

    Es stimmt nicht so ganz, dass die Piraten den Protest der Würzburger Asylbewerber erst jetzt entdeckt hätten.
    Die Partei hat sich schon im Frühjahr solidarisch erklärt und es haben auch die nun beteiligten z.T. Aktionen zur Unterstützung gestartet oder daran mitgewirkt. Etwa der Berliner Abgeordnete Fabio Reinhardt, Ehemann einer der „jungen Damen“, der die Flüchtlinge im Sommer in Würzburg persönlich aufsuchte und eine Spende übergab:

    http://www.mainpost.de/regional/franken/Pirat-versteigert-Hose-bei-Ebay-fuer-Fluechtlinge;art1727,6851645

    oder Johannes Ponader, der die Flüchtlinge auf ihrem Marsch nach Berlin vor ein paar Wochen für einen Tag begleitete

    https://www.piratenpartei.de/2012/09/20/unterstuetzun-fluechtlingsmarsch/

    Das nur als ergänzende Randbemerkung. Das Interesse, bzw. Problem-Hijacking scheint also doch etwas langlebiger zu sein als 10 Tage…

  10. Incredibul sagt:

    Ich glaube, der Autor sieht die Programmpunkte der Piratenpartei als Stückwert und erkennt die zusammenhängenden Werte nicht. Tatsächlich scheinen sowohl „liberale“ als auch „linke“ Piraten durch das Thema „no Borders“ geeint zu sein, es ist ein radikaler gemeinsamer Nenner und erzeugt so großen Enthusiasmus in der Partei, eben weil der gemeinsame Nenner kein weichgespülter Kompromiss ist, sondern eine radikale Forderung.

    Wie von anderen Kommentatoren schon angemerkt, ist die Piratenpartei lokal oftmals aktiv, wenn es um Einwanderung oder Asyl geht. (Um noch ein paar Beispiele zu addieren: Hessen link , Mannheim link)

    Dabei geht es hier nicht nur um die Partei, sondern auch das Milieu, aus dem sie sich speist. Der Nichtpirat @mspro hat das schon gut herausgearbeitet http://mspr0.de/?p=2070

    Es bleibt zu beobachten, ob die Liquid Feedback Ergebnisse sich in tatsächliche Einträge ins Grundsatzprogramm der Piratenpartei äußern (so u.a. link).

  11. drikkes sagt:

    Die Piraten können doch vor allem deshalb das Themas für sich vereinnahmen, weil die anderen Parteien in diesem Land nichts, aber auch gar nichts für die Verbesserung der Asylsituation zu tun. Und auch sonst interessiert es niemanden; hier ist die artgerechte Haltung von Hühnern eine größere Lobby als die Menschlichkeit.

  12. Addliss sagt:

    Oh, ich dachte, ich muss noch viel dazu schreiben, aber hier gibt es offensichtlich schon genug berechtigten Widerspruch. Das Hijacking ist absolut nicht den Piraten zuzuschreiben. Hier kurz, was ich auf G+ dazu kommentierte:

    Der Neofeminismus wurde einfach von Leuten vertreten und aus politischen und soziologischen Gründen (Progressivität und fehlende Durchsetzungsmöglichkeiten in anderen Parteien) haben die sich bei den Piraten eingefunden.

    Das Thema #refugeecamp wurde vereinnahmt, weil es um Bürger (oder: Nochnichtbürger-Rechte) geht. Die stehen für die Piraten sehr hoch, deshalb ist es strukturell naheliegend, sich dafür einzusetzen. Und die Piraten waren mit die ersten (wenn nicht sogar die ersten), die bei Twitter darüber berichtet haben, was bei den Flüchtlingen in Berlin abgeht.

    Außerdem ist die Geschichte mit den nackten Brüsten ja durchaus etwas anders gelagert als hier dargestellt. Laura Dornheim schreibt hier deutlich, wie das mit der BILD lief:

    Gestern morgen habe ich daher per Twitter einige Journalist*innen gebeten, über das Refugee Camp der Geflüchteten und Hungerstreikenden am Brandenburger Tor zu berichten.
    Daraufhin kam von einem BILD-Journalisten die Rückfrage, ob Johannes Ponader (der politische Geschäftsführer der Piratenpartei) anwesend sei. Ich war wütend ob dieser Ignoranz und “Köpfe-Geilheit” und habe geantwortet: “Ich weiß es nicht. Aber Menschen, die hungern, verdammt. Und ja, auch genügend Piraten-Mandatsträger. Und wenn es Dir hilft stell ich mich da oben ohne hin!”
    Die Antwort folgte prompt und war – im Gegensatz zu meiner wütenden Nachricht – offensichtlich absolut ernst gemeint: “Wenn Du das wirklich machst, schnapp ich mir jetzt nen Fotografen und komme sofort. Deal?”

    Das heißt, dass hier der BILD-Journalist gar nicht aufgetaucht wäre, wenn es nicht die Ankündigung über Brüste gegeben hätte. Sicher hatte das Thema schon am Tag zuvor etwas mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, gerade bei Twitter, aber so richtig in einer breiten Öffentlichkeit (die man normativ auch so nennen könnte) war es noch nicht angekommen. Insofern ist diese These des Hijackings einfach unhaltbar.

  13. Addliss sagt:

    Achso, entschuldigung, ich vergaß den Link zum Text von Dornheim: http://tits4humanrights.wordpress.com/

  14. „Welche Gründe sprechen dafür, beim Thema Asylrecht / Umgang mit Asylsuchenden die Öffentlichkeit zu mobilisieren?“

    Grundsätzlich nichts. In diesem Fall spricht aber eine bestimmte Forderung der Protestierenden dagegen deren Anliegen einem größeren Publikum näher zu bringen. Eine der Forderungen lautet, dass sie nur mit der deutschen Regierung direkt verhandeln wollen. Keine Ahnung ob diese Forderung aus Naivität oder Größenwahn entstanden ist. Das ist im Grunde auch egal. Auf diese Forderung kann sich eine Regierung nicht ernsthaft einlassen. Ansonsten könnte ja jeder kommen und die Regierung erpressen. Mit dieser Forderung wird man auch wenig Unterstützung in der Bevölkerung finden. Deswegen hält sich vermutlich auch die Berichterstattung in Grenzen.

    Hinzu kommt außerdem, dass der Moral-Joker in der öffentlichen Diskussion so langsam nicht mehr zieht. So viel Empörungspotential ist überhaupt nicht vorhanden wie es moralische Missstände gibt. So trägt nichts besser zum Desinteresse des Publikums bei wie der permanente Moral-Alarm. Da helfen irgendwann auch keine Titten mehr um Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie war des gleich mit dem Jungen, der ständig Feuer schrie? Nichts trägt besser zur Delegitimierung eines legitimen Anliegens bei wie dieses in moralischen Kategorien zu diskutieren.

  15. Fritz sagt:

    „So viel Empörungspotential ist überhaupt nicht vorhanden, wie es moralische Missstände gibt.“ Das sind so Sätze, wo ich wünschte, Gotte würde Karl Kraus zurück auf die Erde schicken …
    Es ist ja wahr, Empörung ist wie Trauer oder Entsetzen eine begrenzte Ressource, nur geht es hier ja gar nicht um Empörung, sondern um das kostbare Spurenelement Mitleid.
    Die Empörung tritt immer dann auf den Plan, wenn der eigene Interessensstandpunkt oder die eigene Gefühlswelt berührt sind und sich dies mit irgendeinem vordergründigen Moralismus verknüpfen lässt.
    Was im Fall des Flüchtlingstrecks 2012 zu bemerken ist, ist ein massiver Ausfall von mitmenschlichem Empfinden. Und das liegt nicht daran, dass sich die psychische Erregungsenergie für dieses Jahr bereits verausgabt hätte. Es liegt viel mehr daran, dass hier jede Regung von Mitleid im Konflikt liegt mit dem eigenen, „unmoralischen“ Standpunkt. Hier müsste man nämlich – was nicht oft vorkommt – tatsächlich uneigenützig handeln und ungeachtet des eigenen Standpunkts etwas hergeben. Doch auch in Deutschland geht es nach diesem Motto zu: „What Americans really want is a government that spends less money on other people.“ Das ließe sich vermutlich sozialstatistisch bestätigen, indem man abfragt, wie hoch die Zustimmung ist zu solchen Sätzen wie:
    – “Politische Flüchtlinge sind oft gar keine politisch Verfolgten, sondern wollen nur in unsere Sozialsysteme einwandern.“
    – „Als Flüchtling muss man froh sein, wenn man ein Dach über den Kopf hat und was zu essen.“
    – „Wenn der Flüchtling heimkehren kann, muss er das tun.“
    – „Deutschland hat viele Ausländer aufgenommen, noch mehr geht jetzt nicht mehr.“
    – „Viele politische Flüchtlinge kommen aus islamischen Ländern. Die machen uns am Ende nur Probleme mit ihren fanatischen Ansichten.“
    – „Das Flüchtlinge, denen wir Brot und Unterkunft geben, auf einmal ‚direkt mit der Regierung verhandeln‘ wollen, offenbart Undankbarkeit und Unverschämtheit.“ Etc.
    Die Deutschen möchten, dass das ferne schmutzige Elend in der Ferne seinen Schmutz macht. Sie möchten nicht damit behelligt werden. Es macht kein Vergnügen. Sie möchten, dass die Verwaltung ihre Maßnahmen durchführt, wie das Gesetz es befiehlt. Sie möchten, dass die Elenden baldigst in IHRE Heimat zurückkehren.
    Und dann guckt euch mal an, was da geschehen ist! Der Hungerzug der Sprachlosen zog zu Fuß über 450 km durch Deutschland. Die Menschen dachten, diese sichtbare Tat der Verzweiflung könnte Kommunikation starten und Menschenherzen in Deutschlands Redaktionsstuben und TV-Anstalten rühren, um den Sprachfremden eine hiesige Stimme zu borgen. Doch die Reaktion war frostig, mitleidslos und unverständig. Und das ZDF meinte, wenn keiner hinschauen will, dann schauen wir mit den Kameras auch nicht hin – es sei denn bei Twitter zwitschert jemand Empörung (auf dieses moralische Niveau ist die Öffentlichkeit herabgesunken). Jetzt stehen die Menschen, vertrieben aus ihren Ländern, existenzielle Nichtse, buchstäblich mit allerletzter körperlicher Kraft auf deutschen Plätzen und die Verwaltung scheut sich nicht, sie sozusagen ganz sublim (oder auch nicht so sublim) zum Aufgeben zu foltern und kaum eine helfende, eine gebende, eine mitfühlende Hand regt sich. Die Schutzstmosphäre um diesen Protest ist dünn wie Papier. Die Behörden müssen eigentlich nur zugucken, wie den Leuten nachts die Hände abfrieren. Dann einsammeln, abtransportieren, Stempel drauf.
    Die modernen Beobachter, die wir alle sind, schauen weg oder gaffen. „How many times can a man turn his head and pretend that he just doesn’t see?“ Augenscheinlich kann der moderne Mensch ewig hinschauen, ohne dass sich etwas in ihm rührt. Er muss den Kopf gar nicht wegdrehen. Es sind ja nicht seine Belange, sondern nur die Belange von Menschen, die nicht von hier sind. Sudan, Iran oder woher kommen die? Was wollen die gerade bei uns?
    Dass die Empörung ausbleibt – meinetwegen. Die nackte Herzlosigkeit, die sich in diesen Tagen flächendeckend offenbar, ist erschreckend. Sie ist generell gegenüber Ausländern, insbesondere gegenüber Farbigen, zu beoabachten. Verzweiflung, die sich nicht in Lagern verstecken lassen, sondern öffentlich gesehen werden will, ist ein Fall für das Ordnungsamt, nicht für das Fernsehen. Irgendein Promi dabei? Dann interessiert’s keinen.
    Und alle, die sonst schnell empört sind, wenn ihre Privilegien tangiert sind, sind jetzt stumm. Und alle, die sonst den christlichen Staat, bei dem ja Mitleid sozusagen zur Staatsräson gehört, ganz hoch halten und verteidigen wollen, sind verhindert oder formulieren an ihrer Weihnachtsansprache. Und sie haben alle das uneingestandene Problem, dass die Menschen ihnen vielleicht leid tun würden, wenn’s nur nicht gerade solche Elendsimporteure wären. Ein paar Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen? Nein, auf keinen Fall, sagt die selbstredend tief christliche empfindende Union: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/111/1711131.pdf

  16. @Fritz
    Mit dem Mitleid ist es dasselbe wie mit der Moral. Das hat sich vermutlich im Windschatten des Moral-Alarmismus gleich mit abgenutzt. Es gibt soviel Elend in der Welt. Wenn man mit alles und jedem immer Mitleid haben soll, wird man verrückt. Auch Mitleid ist eine begrenzte Ressource und in Deutschland hat man die inzwischen einfach überstrapaziert. Das ist dann keine Frage der Moral oder des Mitleids mehr sondern der eigenen seelischen Gesundheit. Die Lösung ist dann einfach dicht machen. Klar kann man versuchen durch noch detailliertere Beschreibungen des Elends dem entgegen zu wirken. Das wird aber den beschriebenen psychologischen Effekt nur verstärken.

    Es stellt die Frage, ob die regelmäßig öffentlich verbreitete Betroffenheitszumutung mit alles und jedem die Empathiefähigkeit der Menschen überreizt hat?

  17. Fritz sagt:

    Die Abnutzungstheorie würde voraussetzen, dass es um Empathie und Mitgefühl schon mal besser gestanden hätte. Ich wüsste nicht, wann das gewesen sein sollte. Vielleicht ist es umgekehrt: Da wir immer mehr Anlässe für Mitleid aus aller Welt medial vermittelt bekommen, tritt die prinzipielle Dickfelligkeit immer mehr zu Tage. Die Menschen suchen sich Tag für Tag heraus, was ihnen gerade nahe geht und was sie nicht die Bohne rührt. Im Allgemeinen haben wir mehr Mitleid mit dem, was uns sowieso schon emotional nahe liegt: der krebskranke Schauspieler aus dem „Tatort“, die überfahrenen Schäferhunde, die TV-Ansagerin, die ihe Stimme verloren hat, verwaiste oder kranke Kinder sind als Medienthemen leichter verkäuflich als so problematische Fälle wie Flüchtlinge aus fernen Ländern, deren Not als lästig empfunden wird, auch weil es etwas kostet.
    Mehr Mitgefühl wird auch immer dann aufgebracht, wenn als Verursacher der Not ein eindeutiger Schurke zur Verfügung steht (siehe diese Joseph Kony-Geschichte). So lässt sich Mitleid auch für mitleidslose Interessen ausnutzen, nämlich z.B. um Zustimmung zu einem „humanitären“ Kriegseinsatz zu erreichen – Mitleidspropaganda. Das ist aber alles Mitleid ohne Moral, weil es gratis zu haben ist, als reines Gefühl. In dem Moment, wo wir tatsächlich ethisch gefordert sind, also etwas geben müssen, ohne etwas zurückzubekommen, zeigt sich die Oberflächlichkeit der moralischen Gefühle, wenn nicht wie in diesem Fall das Mitleid sogar ganz versagt wird. „Moralisch erschöpft“ sein kann eigentlich nur der, der sich real moralisch verhält. Da gibt es sicherlich Burn-out-Phänomene. Verbale Bekundungen sind dagegen immer möglich – die Kirche macht das jeden Sonntag, jahrein jahraus. Beim Flüchtlingstreck blieben aber sogar die bloßen verbalen Beteuerungen weitgehend aus. Das ist m.E. auffällig und zeigt mehr als nur Abnutzung, nämlich teils nur Gleichgültigkeit, teils auch Ablehnung.

  18. „Die Abnutzungstheorie würde voraussetzen, dass es um Empathie und Mitgefühl schon mal besser gestanden hätte.“

    Es sollte eigentlich weniger auf eine Abnutzungstheorie hinauslaufen. Wenn Mitgefühl eine ebenso begrenzte Ressource ist wie jedes andere Gefühl auch, dann gehen die meisten Menschen mit ihrem Mitleid wahrscheinlich sehr selektiv um – gerade dann wenn es immer mehr Anlässe für Mitleid gibt für die man nicht jedes Mal Mitleid aufbringen kann. Das, was du als prinzipielle Dickfelligkeit bezeichnest, ist letztlich nur ein Symptom für diesen selektiven Umgang mit Mitleid, weil es eben inzwischen zu viele Anlässe für Mitleid gibt. Das ist im Grunde ein Komplexitätsproblem. In der Umwelt gibt es mehr Anlässe für Mitleid als man in der Lage ist aufzubringen. Also muss man diese Komplexität reduzieren, weil man nur in begrenztem Maße in der Lage ist Mitleid aufzubringen. Es geht dann nicht so sehr um Abnutzung sondern in erster Linie um Überforderung. Dafür benötigt man keine Annahmen darüber, ob die Menschen früher emphatiefähiger waren. Gleichgültigkeit und Ablehnung sind die Folgen dieser Überforderung. Die Formen, wie dann immer noch versucht wird Mitleid zu aktivieren, haben sicherlich auch ihren Teil dazu beigetragen. Für was Menschen unter diesen Bedingungen alles Mitleid aufbringen können, kann man sich wundern. Und die Mitleidsbereitschaft sinkt bestimmt mit zunehmender Distanz. Das ändert aber nichts am Ausgangsproblem.

    Was für verbale Bekundungen hattest du denn bezüglich des Berliner Flüchtlingsprotests erwartet? Erstens kann man nicht sagen, dass es gar keine gab. Und zweitens kann man seit gestern erleichtert feststellen, dass trotz geringer Solidaritätsbekundungen inzwischen Lösungen gefunden wurden.

  19. Fritz sagt:

    So buchhalterisch läuft es psychisch nicht ab, meine ich: „… gehen die meisten Menschen mit ihrem Mitleid wahrscheinlich sehr selektiv um.“ Das trifft für Spenden zu, weil man nur endliche finanzielle Mittel hat. Da muss man eine rationale Wahl treffen, wem gebe ich was, wem nicht. Mitleidsgefühle werden aber von außen erregt. Und dies kann prinzipiell immer geschehen. Da sind Menschen auch durchaus verschieden. Manche sind leicht zu rühren, andere sagen „ich bin zutiefst schockiert“ und sagen es nur, weil es von ihnen erwartet wird. Generell macht uns das eine Schicksal betroffen und einanderes, viellecht Schwereres überhaupt nicht. Das Schicksal der Flüchtlinge macht die Deutschen ziemlich wenig betroffen, meine ich. Es gibt ja sogar viele Deutsche, die am liebsten überhaupt keine Flüchtlinge im Lande hätten. Oder „bitte nicht so viele“. Das Thema ist nicht nur trist, sondern auch unangenehm, weil es darum geht, bettelarme fremde Menschen hier aufzunehmen.
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hätte. Ich bin ja in Bezug auf die moralische Kompetenz von Politik und Menschheit insgesamt eher Skeptiker. Jetzt hat die Politik doch nachgegeben – offenkundig aber weniger aus Mitgefühl als vielmehr zwecks De-Eskalierung. Ich will den Politikern aber gar keinen Vorwurf machen. Es gehört bei ihnen das Lavieren dazu, gerade wenn sie politisch etwas erreichen wollen. Hier haben sie eingesehen: Das Schlaueste wäre es, das Thema gütlich und still beizulegen, bevor es womöglich nicht mehr beherrschbar ist. Zuvor war das Vorgehen gegen die Demonstranten aber unübersehbar perfide und geradezu ein Musterfall von bürokratischer Mitleidslosigkeit. Hat nicht gegriffen, daher der Methodenwechsel.

  20. „Mitleidsgefühle werden aber von außen erregt. Und dies kann prinzipiell immer geschehen.“

    Mit diesem simplen Reiz-Reaktions-Schema wird die Thematik aber auch ziemlich stark vereinfacht. Mag sein, dass es mal so funktionierte und auch heute noch bei einigen so funktioniert. Durch das Überangebot an Mitleidsanlässen wird dieses Muster aber reflexiv und dadurch gebrochen. Das heißt die Menschen merken auf einmal, dass man sich eben nicht mehr von seinen Gefühlen einfach so überwältigen lassen und mit allem und jedem Mitleid haben kann. Die meisten fangen an über die einzelnen Fälle nach zu denken oder lassen sie einfach nicht mehr an sich ran. Beides sind funktional äquivalente Lösungen für das Problem des Überangebots an Mitleidsanlässen und dient dem Selbstschutz vor emotionaler Überforderung.

    Die Situation auf ignorante Deutsche und bemitleidenswerte Asylanten zu reduzieren, ist eine sehr schlichte Betrachtungsweise. Das reicht vielleicht für politische Diskussionen, aber nicht für soziologische. Bei genauerem Hinschauen wäre diese bedingungslose Parteinahme für die Protestanten vermutlich nicht haltbar. Skepsis ist gut und schön. Aber was spricht eigentlich dafür die Deutschen unter Generalverdacht zu stellen und den Protestierenden blindes Vertrauen zu schenken? Die Problemlage ist um einiges komplexer ist als es die Rollenverteilung ignorante Deutsche und bemitleidenswerte Asylanten suggeriert. Wenn schon skeptisch, dann konsequent. Wieso nicht den Protestierenden genauso viel Ehrlichkeit/Unehrlichkeit unterstellen wie den Politikern? Die Protestierenden sind auch Menschen und haben genauso viel oder genauso wenig moralische Kompetenz wie jeder andere auch.

  21. schwarzblond sagt:

    Besser spät als nie: Weder ich noch eine der anderen Beteiligten hat sich da als Piratin hingestellt. Weder bei der Aktion, noch bei einer vielen Tag- und Nachtschichten dort. Auch Parteimitglieder engagieren sich „einfach so“.

    Auch wenn das so manchem schwer zu glauben fällt…

  22. Stefan Schulz sagt:

    Ja, das stimmt natürlich, jeder tut Dinge einfach so. Aber diese Trennung von Quasi-Amt und Person ist in der Politik eben nicht so. Vertrauen und Kompetenzurechnungen werden nicht politischen Ämtern und Parteirollen, sondern Personen zugerechnet. Deswegen ist doch Politik und Verwaltung getrennt. Wer sich auf ein politisches (parlamentarisches) Amt bewirbt oder eines (auch ein parteiliches) innehat, wird ganzheitlich und ganzzeitlich damit in Verbindung gebracht. Sonst hätte unser demokratisches System kaum noch Sinn.

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