Wenn sich Subdisziplinen ihren Grenzen widmen, wachsen sie über diese hinaus – Plädoyer für eine Historische Soziologie

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Die vielen Hände der Social Science History Association (SSHA) – Ein Plädoyer für eine „offene Forschungskultur“ in der Historischen Soziologie

Während die Historische Soziologie in Deutschland seit den 1970er Jahren ein Schattendasein führt, wurde in den USA mit der „Social Science History Association“ (SSHA) zur gleichen Zeit unter den intellektuellen Schwertern einer zunächst marxistisch orientierten (politischen) Soziologie und einer quantitativ arbeitenden Historischen Sozialwissenschaft auch institutionell ein Ort des interdisziplinären Austauschs zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie geschaffen. Auf dem 38. Jahrestreffen der SSHA in Chicago (21. bis 24. November 2013) schien dieses Forum wenig von seiner Anfangseuphorie, seinem konstruktiven Diskussionsklima und seiner thematischen Vielfalt verloren zu haben.

In ihrer Ansprache „Organizing Powers in Eventful Times“ verglich SSHA-Präsidentin Prof. Elisabeth S. Clemens (University of Chicago) die unterschiedlichen Strategien zur Krisenbewältigung von US-Präsident Herbert Hoover und seinem Nachfolger Franklin Roosevelt während der „Great Depression“. Anhand des historischen Beispiels veranschaulichte sie, wie die politischen Maßnahmen im Umgang mit Wirtschaftskrisen eine eigene Zeitlichkeit entwickeln, die über einen momenthaften „turning point“ hinausgehen. Elisabeth Clemens fragte, was passiert, wenn bestimmte (Grenz-)Ereignisse eine Prozesshaftigkeit entwickeln, die nicht mehr allein mit bisherigen Pfadabhängigkeiten, Expertisen und Möglichkeitshorizonten beantwortet werden können, weil sie diese überdauern. Sie griff damit nicht nur aktuelle Diskussionen über einen angemessenen „public-private-mix“ Krisenmaßnahmen zwischen freiwilligen Hilfeleistungen und Bürgerinitiativen gegenüber staatlicher Regulierung auf, sondern schloss auch forschungsprogrammatisch an ihre Vorgänger und Kollegen an der University of Chicago – namentlich William Sewell und Andrew Abbott – an. Zugleich ging sie einen Schritt weiter, indem sie dazu aufrief, die bisherigen Konzepte sozialen Wandels einzelfallbezogener zu schärfen und theoretisch weiterzuentwickeln.

In Chicago weiß man nicht zuletzt auch aus eigener nationaler Erfahrung heraus, dass Krisen nicht nur politisch („never let a serious crisis go to waste“, zitierte Elisabeth Clemens den derzeitigen Bürgermeister der Stadt Rahm Emanuel), sondern auch empirisch eine Chance für wissenschaftliche Erkenntnis, persönliches Umdenken und strukturellem Wandel bieten. Zeitliche, wirtschaftliche, politische oder institutionelle Grenzen („boundaries“) stellten zugleich auch den thematischen und heuristischen Zugang dar, in dem eine heterogene Koalition von Forschern unterschiedlich historisch-soziologischer Subdisziplinen – wie Rechtshistorie, Kulturphilosophie, Anthropologie oder Geographie – einen gemeinsamen Anschluss- und Abstoßungspunkt fanden.

Zugestanden mögen Sozialtheoretiker in Deutschland kritisieren, dass dieser interdisziplinäre Austausch auf Kosten analytischer Abstraktionshöhen, wie beispielsweise eines gesellschaftstheoretisch fundierten Institutionen- oder Organisationsbegriffs, gewonnen werde. Ein derart hohes Reflektionsniveau muss jedoch zwangsläufig für schriftliche Texte reserviert bleiben. Denn würde man selbiges auch für mündliche Diskussionen beanspruchen, so würde man versuchen, Tagung und Text gleichzusetzen und dabei letztlich einem ähnlich unauflösbarem Vergleichsdilemma aufsitzen wie die unendlichen Urteile über unzureichende Buch-Verfilmungen. Unterschiedliche Kommunikationsformen können jedoch nicht den gleichen Inhalt haben.

In Chicago sind die hierzulande noch fortbestehenden Grenzziehungen zwischen der Soziologie als Theorielieferant und der Historie als Empirieträger – wie sie namentlich bereits Norbert Elias und Philip Abrams zusammenführten – längst verschwommen. Auch dass viele Beiträge zu gleichen Teilen von Studierenden, Promovierenden und Professoren beider Fächer vielfach zusammen – sozusagen intergenerational – vorgetragen und diskutiert wurden, verdient Beachtung. Methodisch sieht sich der deutschsprachige Teilnehmer (eine ergänzende Sichtweise von Forschern des globalen Südens wäre hier nicht weniger interessant) auf Seiten der soziologischen Beiträge zunächst mit der bekannten und weitläufig kritisierten Dominanz institutionalistischer Konzepte und quantitativer Vergleichstechniken, wie formaler Netzwerkanalysen und ausgefeilter Regressionsmodelle, konfrontiert. Umso bemerkenswerter war es, dass dieser Eindruck auch inhaltlich Eingang in diversen Vorträgen fand. Beispielsweise eröffnete sich über den (wiederum) quantitativ gewonnenen Befund der Historikerin Claire Zalc (CNRS-ENS de Paris) und des Soziologen Pierre Mercklé (l’ENS de Lyon), dass von 1930 bis 2011 rund 70 Prozent der Beiträge im „American Sociological Review“ auf Fragebogenerhebungen basierten, eine kritische Reflektion über den qualitativen Mehrwert von interpretativen Einzelfallanalysen gegenüber aggregierten Datenreihen und der begrenzten Aussagekraft von Statistiken oder empirielosen Theoriekonstruktionen.

Was als soziales Problem wahrgenommen wird, hänge angesichts technologisch nahezu unbegrenzter Möglichkeiten vielfach davon ab, wie schnell und kostengünstig Daten generiert und visualisiert werden könnten. Daten werden dann aber nicht mehr als Mittel zur Erkenntnis erhoben, sondern bereits als Erkenntnis selbst ausgeflaggt. Welches soziale Phänomen damit identifiziert, hinterfragt und bearbeitet werden könne, gerät dabei in den Hintergrund. Was können mathematische Modelle über Häufigkeitsverteilungen und Wahrscheinlichkeiten schon zur Erkenntnis über genuin historisch-soziologische Fragen, wie nach der jeweils eigenen Entstehungsgeschichte, Zeitlichkeit und Spezifik z.B. von gewaltsamen Protesten im Vergleich zu politischen Reformen sagen? An historisch-soziologische Untersuchungen richtet sich mit anderen Worten immer auch die Testfrage, was sie über den jeweiligen historischen Zusammenhang zwischen Ereignissen, Strukturen und Prozessen beitragen können? Soziale Ereignisse konstituieren sich ja nicht in einer chronologischen Abfolge, sondern stets im selektiven Rekurs auf bestimmte, immer auch anders mögliche Erwartungen.

In Chicago hielt sich die Gefahr einer Zweck-Mittel-Verschiebung von Daten- und Erkenntnisgewinn jedoch in engen Grenzen(!). So fanden sich zugleich auch mikro- und vor allem auch meso-soziologische Themen über Netzwerke, Organisationen, Professionen auf der Agenda der historisch-soziologischen Konferenzbeiträge. Denise Phillips’ (University of Tennessee) berichtete über den Verlauf der Akademisierung der deutschen Agrarwissenschaften im 19. Jahrhundert, Randall Collins (University of Pennsylvania) fasste kriminelle Mafiaorganisationen als „political forms“ und beschrieb ihre regionalen und internationalen Aufstiegs- und Verfallsprozesse, und Henning Hillmann (Universität Mannheim) zeigte in seinem Beitrag auf, wie sich politische Eliten über prisenrechtliche Handelsprivilegien im „Ancien Regime“ konstituierten.

Man mag dieser Art von Wissenschaftskultur einen Hang zum Eklektizismus vorhalten. Aber wie sollten unterschiedliche Disziplinen und Forschergenerationen auch zu Gemeinsamkeiten und Grenzen finden, wenn man sich wie im deutschsprachigen Raum gefangen in rigiden Textformalismen und komplexen Sprachkonstruktionen gibt, sich auf theoretische Einzelprämissen versteift oder Tagungsgebühren so hoch setzt, dass nur noch verbeamtete Professoren anreisen? Publikationsbarrieren sind dann nicht nur auf der Nachfrageseite durch eine enge Methoden- und Sprachselektion prominenter Fachzeitschriften zu kritisieren, sondern zum Teil auch hausgemacht.

Für die produktive Interdisziplinarität der anglo-amerikanischen Forschungslandschaft lassen sich nicht zuletzt auch institutionelle Gründe finden. Nicht nur die Forschungsdiskussionen, auch die wissenschaftlichen Karrieren selbst, verlaufen in den USA weniger streng in fachlichen Bahnen. Das gilt bereits für die akademische Ausbildung des Nachwuchses. Ein Bachelorabschluss in Ethnologie verschließt nicht die Tür zum Master in Physik oder zum Doktor in Psychologie. Querkarrieren zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, aber eben auch zwischen den Disziplinen sind in Deutschland dagegen rar. Das riecht zu sehr nach „Klüngel“. Thematische, theoretische und fachliche Geschlossenheit begrenzen dann hierzulande aber eben auch institutionelle, personale und konzeptionelle Offenheit und schließlich die damit verbundenen Erkenntnischancen zwischen den Forschungsfeldern.

Trotz aller angebrachten Kritik einer „Verjournalisierung“ des wissenschaftlichen Publikationswesens, muss man was Fragestellung, Feldzugang und Fallkontext angeht, der US-amerikanischen Wissenschaftskultur deshalb einfach einen fruchtbaren Forschungspragmatismus zu Gute halten. Für deutsche HistorikerInnen und SoziologInnen warf die Tagung mit den unterschiedlichen Untersuchungen nach den Formen und Funktionen von Grenzen und Grenzfällen nicht zuletzt auch Fragen nach der eigenen gegenwärtigen Zukunft auf. Das deutsche Äquivalent zur SSHA und dessen Journal „Social Science History“ wären wohl am ehesten die Arbeitsgemeinschaft „Quantum“ bzw. die „Zeitschrift für Historische Sozialforschung“. Beide finden jedoch außerhalb ihrer fachlichen und nationalen Grenzen kaum Beachtung. Wollte die historische Soziologie auch hierzulande zwischen den Geschichtswissenschaften und den Sozialwissenschaften eine Scharnierfunktion übernehmen, so sei ihr ein Schritt in Richtung einer offenen Forschungskultur aus Chicago empfohlen. Vielleicht würde sie dann bald auf einen lang anhaltenden „turning point“ stoßen, wenn sie nicht dem gleichen Schicksal des Präsidenten Hoovers folgen und – wie Elisabeth Clemens abschließend veranschaulichte – in Vergessenheit geraten will. Vielleicht würde sich dann dadurch auch für die hiesige Soziologie endlich die Chance eröffnen, sich von ihrer Gegenwartsbezogenheit zu lösen.

Bild: State Records NSW (growing pastures)

 

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