Foto: Robert Thomson 3. Mai 2017
Angesichts der Gewaltrituale bei der Ausbildung von Soldaten in der Staufer-Kaserne im baden-württembergischen Pfullendorf, entwürdigender Strafmaßnahmen bei einem Gebirgsjägerbataillon in Bad Reichenhall und der fast schon skurril anmutenden Anschlagpläne eines sich als syrischer Flüchtling tarnenden rechtsextremen Bundeswehrsoldaten scheinen sich alle Beobachter einig zu sein, dass es bei der Bundeswehr ein „Haltungsproblem“ gibt. Heftig gestritten wird lediglich über die Frage, wer für dieses „Haltungsproblem“ verantwortlich ist – die verschiedenen Führungsebenen der Bundeswehr, wie die Verteidigungsministerin in ihrer missglückten Stellungnahme erklärte, oder die Verteidigungsministerin selbst, wie von Politikern anderer Parteien betont wird.
Aber unabhängig davon, wer am Ende die Verantwortung trägt – die Erklärung für das „Haltungsproblem“ wird allgemein in einer „Führungsschwäche“ gesucht. Es herrscht die Vorstellung vor, dass formal festgelegte Verhaltensstandards hierarchisch von oben nach unten durchgesetzt werden können. Ein Problem liegt aus dieser Perspektive immer dann vor, wenn von diesen formal vorgegebenen Verhaltensstandards abgewichen wird. Die Lösung liegt auf der Hand – noch bessere Schulung in Bezug auf das formale Regelwerk, noch intensivere Kontrolle der Einhaltung des Regelwerks und noch schärfere Sanktionen, wenn es zu Verstößen dagegen kommt. Übersehen wird jedoch, dass für den Erfolg oder Misserfolg von Armeen die Ausbildung informaler Normen enorme Bedeutung hat.
Die Bedeutung von Kameradschaft für Armeen
Schon vor über siebzig Jahren führten die US-amerikanischen Militärsoziologen Edward A. Shils und Morris Janowitz die Kampfmoral deutscher Soldaten trotz der sich seit Stalingrad abzeichnenden Niederlage der Wehrmacht auf Kameradschaftsnormen zurück. Nicht die ideologische Identifikation mit dem Nationalsozialismus, nicht die Freude am Töten, nicht die Bereicherungsmöglichkeiten, nicht der Zwang der Vorgesetzten, sondern das Pflichtgefühl gegenüber den in den gleichen Einheiten kämpfenden Soldaten hätten, so die beiden Soziologen, dazu geführt, dass die Wehrmacht nicht in sich zusammengebrochen war.
Bei Kameradschaft handelt es sich um eine sehr spezifische Form von Kollegialität. Kollegialitätsnormen bilden sich in jeder Organisation heraus – bei McDonalds, SAP, bei der Deutschen Bahn, der Hamburger Stadtverwaltung oder dem Universitätskrankenhaus in Göttingen. Weil Organisationsmitglieder darauf angewiesen sind, Geld zu verdienen und weil Geld oft chronisch knapp ist, bilden sie ein Interesse aus, ihren Job zu behalten. Das ist ein Grund, weswegen sich unter den Mitarbeitern Normen der gegenseitigen kollegialen Hilfe ausbilden. Man darf aber nicht übersehen, dass Mitglieder in den meisten Organisationen lediglich in einer Rolle engagiert sind. Wenn man aus einer Organisation entlassen wird, mag das für den einzelnen wegen des Versiegens der Geldquelle problematisch sein – letztlich ist man aber erst einmal nur in einer von vielen Rollen betroffen, nämlich in der Rolle als Organisationsmitglied.
In einigen wenigen Organisationstypen wie Armeen, Polizeien oder Feuerwehren ist man jedoch nicht nur in einer Rolle engagiert, sondern als ganze Person mit all seinen anderen Rollenbezügen betroffen. Natürlich ist die Mitgliedschaft in Armeen, Polizeieinheiten oder Feuerwehren zunächst auch nur eine Rolle unter vielen. Schließlich hat man noch die Rolle als Ehemann oder Ehefrau, als Mitglied einer Clique oder eines Sportvereins oder als nebenberuflich tätiger Landwirt oder Versicherungsvertreter. Aber – und das ist der zentrale Punkt – in einer Armee, einer Polizeieinheit oder einer Feuerwehr steht in der Ausübung des Berufs nicht nur die eigene Organisationsrolle auf dem Spiel, sondern oft die ganze Person, weil man im Dienst schwer verletzt oder gar getötet werden kann. Und wegen dieser potenziellen Bedrohung für die ganze Person bilden sich sichtbar weitergehende Kollegialitätserwartungen in Form von Kameradschaft aus.
Die Ausbildung von Kameradschaftsnormen
In der öffentlichen Debatte dominiert ein fast rosarotes Bild davon, wie sich Kameradschaftsnormen ausbilden. Man scheint daran zu glauben, dass sich Kameradschaft allein schon deswegen ausbildet, weil im Soldatengesetz festgelegt wird, dass der „Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich auf Kameradschaft beruht“ und alle Soldaten verpflichtet werden, die „Ehre und Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen“. Kameradschaft wird hier als eine formale Verhaltenserwartung formuliert, sich auch in Extremsituationen – „Not und Gefahr“ – für Kameraden einzusetzen.
Aber es sind nicht die formalen Festlegungen in einem Soldatengesetz, die zur Ausbildung von Kameradschaftsnormen führen. Vielmehr bilden sich die Kameradschaftsnormen quasi im Schatten der offiziellen formalen Organisation aus – in Extremsituationen, in die man als Soldat geraten kann und in der dann die ganze Person mit all ihren Rollenbezügen bedroht ist. Die Kameradschaftsnormen entstehen also unabhängig davon, was in Soldatengesetzen steht oder von Vorgesetzten eingefordert wird. Und notfalls werden diese Normen von den Kameraden auch mit Mitteln durchgesetzt, von denen die Armeeführung gar nicht so genau Kenntnis haben will.
Sicherlich – es gibt eine friedfertige Variante, wie sich Kameradschaftsnormen durchsetzen. In der Regel lernen Soldaten schnell, dass man sich Kameraden gegenüber loyal verhält, dass man sie in öffentlichen Situationen nicht bloßstellt, dass man sich gegenseitig hilft, wenn ein Kamerad mit einer Aufgabe überfordert ist, ein Fehler kaschiert werden muss oder kurzfristiges Einspringen erforderlich ist. Im besten Fall bilden sich dabei Vertrauensbeziehungen, die dazu führen, dass man sich gegenseitig unterstützt und dass man weiß, dass man sich in Extremsituationen dann auch auf die Kameraden verlassen kann.
Wenn jedoch jemand die informalen Verhaltenserwartungen nicht akzeptiert, greifen die anderen Kameraden zu negativen Sanktionen. Solche Sanktionen deuten sich in Armeeeinheiten anfangs durch abschätzige Bemerkungen oder direkte Beschimpfungen an und reichen dann über die soziale Isolierung des Kameraden und die Verweigerung von Hilfeleistungen bis hin zu direkten körperlichen Bestrafungen. Die Sanktionen dienen nicht vorrangig zum Ausschluss aus dem Kameradenkreis, sondern im Gegenteil zur Durchsetzung informaler Normen. Soldaten oder Polizisten, die solche häufig offiziell verbotenen Erniedrigungen nicht melden, sondern über sich ergehen lassen, werden dann auch konsequenterweise mit dem Verbleib im Kameradenkreis „belohnt“.
Wir kennen solche Prozesse des Durchsetzens von informalen Normen aus jeder Organisation, bei Armeen treten sie allerdings in einer gewaltbetonteren Form auf. Aber das ist wenig überraschend: Es liegt nahe, dass in einer Organisation, deren Hauptaufgabe darin besteht, Gewalt anzuwenden, und die zur Durchsetzung von Verhaltenserwartungen gegenüber ihren eigenen Organisationsmitgliedern notfalls auf Gewaltspezialisten in Form von Feldjägern zurückgreift, die Durchsetzung informaler Normen körperbetonter stattfindet als in IT-Firmen, Supermärkten oder Gemeindeverwaltungen.
Zur Kontrolle brauchbarer Illegalitäten
Die Bundeswehr hat mit ihrem in der Öffentlichkeit gezeichneten Wunschbild nichts zu tun. Jenseits der formalen Ordnung gibt es in Armeen immer auch Probleme der Zusammenarbeit, die nicht durch die formale Ordnung gelöst werden können. Vor allem die konkrete Leistungsmotivation der Mitglieder, besonders aber die reibungslose Lösung der Probleme der alltäglichen Zusammenarbeit zwischen den Organisationsmitgliedern lassen sich nicht durch formale Vorschriften allein garantieren. Und genau hier greifen die in Kameradschaftsnormen verdichteten informalen Erwartungen.
Jeder Soldat weiß, dass eine Armee nur deswegen funktioniert, weil von den formalen Regelwerken immer wieder abgewichen wird. Jede Kommandantin einer Logistikeinheit weiß, wie sie bei Revisionen „graues Material“ im Feld verstecken muss, weil erst illegale Ersatzteillager sie von dem behäbigen Beschaffungswesen der Armee unabhängig machen. Jeder Leutnant weiß, dass es Sinn machen kann, das verbotene Tragen von Shemagh-Halstüchern in kalten Gefilden teilweise zu dulden, weil dies eine informale „Auszeichnung“ dafür ist, dass jemand im Afghanistan-Einsatz war. Und genauso ist jeder Bataillonsführer gut beraten, zu dulden, dass in seiner Truppe Verhaltensnormen auch mit Mitteln durchgesetzt werden, die nicht immer mit den formalen Vorgaben vereinbar sind. Der Soziologe Niklas Luhmann spricht hier von „brauchbarer Illegalität“.
Selbstverständlich wissen Vorgesetzte, dass diese brauchbaren Illegalitäten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Deswegen gehört es zur Kompetenz eines erfahrenen Militärs, bei Besuchen von Verteidigungspolitikern ein Bild der eigenen Einheit zu zeichnen, das diese als Musterfall der Anwendung des formalen Regelwerks der Armee erscheinen lässt. Es ist deswegen auch wenig überraschend, dass Verteidigungsminister häufig diejenigen sind, die von einem Skandal in ihrer Truppe am meisten überrascht sind.
Aber zur Klugheit gehört auch dazu, zu wissen, wo die Grenzen bei der Zulassung von Regelabweichungen liegen. Das Management illegaler Ersatzteil- und Waffenlager funktioniert nur so lange gut, wie sichergestellt wird, dass diese nicht in dunklen Kanälen verschwinden. Das „Übersehen“ des regelwidrigen Tragens von Shemagh-Halstüchern außerhalb des Einsatzes in Wüstengebieten geht nur so lange gut, wie auch sichergestellt wird, dass diese nicht unter Panzerketten geraten. Und auch die Duldung der für Zivilisten gewöhnungsbedürftigen Durchsetzung von Kameradschaftserwartungen geht nur so lange gut, wie sich die Führung darauf verlassen kann, dass dabei Grenzen eingehalten werden. Nicht das stupide Durchsetzen der von oben verordneten formalen Erwartungen ist Führungsstärke, sondern das klug genutzte Wissen darüber, wo die Grenze zwischen einer brauchbaren Informalität und einer für die Armee schädlichen Informalität liegt.
Wenn die Bundeswehr unter etwas leidet, dann darunter, dass man das Gespür dafür verloren hat, welche Regelabweichungen punktuell geduldet werden können und welche nicht. Statt alle bekanntwerdenden Abweichungen in der Bundeswehr mit dem Verweis auf „Haltungsprobleme“ miteinander zu vermischen, käme es darauf an, dass die Führung der Bundeswehr die Punkte definiert, bei denen in keinem Fall Abweichungen geduldet werden. Wenn formal festgelegt werden würde, dass beispielsweise bei sexuellen Übergriffen, Misshandlungen Kriegsgefangener oder rechtsextremen Betätigungen hierarchische Meldeketten übersprungen werden müssen und die Armeeführung direkt einzuschalten ist, wäre für alle Armeeangehörigen ein klares Zeichen gesetzt, wo die Grenzen der geduldeten Regelabweichungen liegen. Das kann aber nur funktionieren, wenn diese Vorgehensweise auf wenige Themenfelder beschränkt bleibt und nicht jede bekanntwerdende Regelabweichung gleich hierarchisch eskaliert werden muss.
Jap, kann dem nur beipflichten. Ich war auch mal beim Bund (2 Jahre) und kann viele Punkte gut nachvollziehen, konkret auch die Formulierung des „behäbigen Beschaffungswesen[s] der Armee“. Dennoch möchte vielleicht auch festgehalten werden, dass allein durch Abgrenzung von „brauchbaren und schädlichen Informalitäten“ das Thema auch nicht abgeschlossen werden kann. Es ist zwar richtig das hervorzuheben, aber es ist auch wichtig zu erwähnen, dass auch die Führungsebene viel zu Lange einfach weggesehen hat, selbst wenn gerade mal die Kacke wieder am Dampfen war (gab’s ja nun oft genug). Damit will ich nicht von der Leyen die Schuld in die Schuhe schieben, im Gegenteil, sie musste sich auch erstmal einarbeiten und im Gegensatz zu anderen vor ihr scheint sie sich den Problemen nun auch endlich mal anzunehmen (oder auch nicht, who knows), aber komplett von diesem Zusammenhang zur Führungsebene abzulenken, wird dem Sachverhalt auch nicht gerecht. Wir dürfen gespannt bleiben wie die Sache ausgeht. Wie auch immer.
Grüße