Universität und Kritik

(Tag 1, Tag 2, Tag 3, Tag 4, PDF-Version aller Tage) Heute war unser letzter Tag. Der gestern vermutete Anschluss an digitale Themen fand nicht statt. Morgens stand „Lüften“ im Programm, was hier im Norden einiges versprechen könnte, doch die Ostsee war eher gespenstisch ruhig und damit keiner weiteren Erwähnung wert. Anschließend sprachen wir über Facebook und die Sozialtheoristen, wovon es keine Mitschriften gibt die hier festgehalten werden können. Das Abendprogramm bestand aus einer zufälligen Überraschung, ich war alleiniges Publikum einer Musikaufführung: Matthias Hermann am Cello und Joachim Landkammer am Steinway-Flügel. Was gespielt wurde weiß ich nicht, die Auswahl war spontan, das Niveau war hoch und die Unschärfen machten es zu einem echten Vergnügen. Weil dazu wenig zu sagen bleibt lieber ein paar Bilder. Und dann zum Abschluss der #EineWocheZeit noch ein paar Notizen zum letzten Redner Rudolf Stichweh.

Rudolf Stichweh war nur heute dabei, er war daher mit dem eher offen-ungeplanten, dadurch dem freien Kräftespiel umso deutlicher ausgesetzten Format wenig vertraut und lockerte es und uns mit einem Vortrag im Kaminzimmer auf. Kritik und Universität, dazu lässt sich spontan etwas sagen, oder ausführlicher Grübeln. Universitäten haben mit geäußerter Kritik (Voice) weniger zu kämpfen als mit Abgängen (Exit), die allerdings auch kaum weiter ins Gewicht fallen. Stichweh hakte den Programmtitel unserer Gespräche damit schnell ab und trat einen Schritt zurück: Sei denn mit Universität und Kritik sogleich eine Kritik an der Universität gemeint, oder nicht auch Formen der Kritik in der Universität? Er schlüßelte sie in fünf Dimensionen auf. Die Universität als Organisation in der Gesellschaft ist nicht allein einem Funktionssystem zuzurechnen. Geprägt wird sie deutlich von dem Erziehungssystem und der Wissenschaft, in unserem Bezug ist die Politik aber nicht weit, das Recht auch nicht. Nicht einmal die Religion bleibt unbedeutend.

Aber schon die ersten beiden genannten Funktionssysteme zu trennen öffnet den Blick. Als Erziehungsorganisation braucht die Universität Rollenasymmetrie. Die Lehrenden und die Studierenden können nicht einfach die Plätze tauschen. Fachwissen lernen und sich kritisch verhalten, das passt nicht und gehört auch nicht zusammen. Kritik ist in der Erziehung nur selten ein Problemlöser, sie betont eher Probleme. Umso bedeutender ist daher die inzwischen institutionalisierte Evaluation von Lehre und Lehrern durch die Lernenden. Obwohl damit nicht ausgemacht ist, dass eine Evaluation automatisch kritisch ist. Und selbst wenn sie kritisch ausfällt ist nicht ausgemacht, dass ihr etwas folgt.

Im anderen für die Universität nicht weniger wichtigen Funktionssystem – der Wissenschaft – sieht es anders aus. Der Wissenschaftsimperativ, der tief in die Lehr- und Lernprozesse hineinwirkt, hegt die Asymmetrie von Lehrenden und Lernenden ein. Wissenschaft „ist immer Kritik“, als Textkritik, Methodenkritik, Quellenkritik oder Theorievergleich. Das Vorgefundene wird kritisch behandelt und kritisch weitergegeben.

Die dritte Form der Kritik versteht sich nicht in gleicher Weise von selbst. Universitäten als Ort der wissenschaftlichen Lehre sind Organisationen die ab einer gewissen Größe Konkurrenz institutionalisieren. Die Lehrenden genießen Freiheit in Form von Zugriffsrechten auf angewendete Methoden, die Auswahl der Lehrbücher und Themen. Komplementär dazu verfügen die Lernenden über die Freiheit, sich ihre Lehrer auszusuchen. Die Lehrer konkurrieren. In gewisser Weise haben wir es innerhalb der Exit- und Voice-Unterscheidung mit einem programmatischen Exit innerhalb der Universität zu tun. Wer Zugriff auf seinen Lehrplan hat, lässt nicht den Zufall walten. Lehrende können mit ihren Seminaren alleingelassen werden, ohne dass die Rechtfertigungspflichten für solch unhaltbaren Zustände auf Seiten der Lernenden liegen. Allerdings müssen die Lehrpläne dafür genügend Variation zulassen.

Die vierte Form der Kritik, von der Stichweh sprach, schlug wie schon andere Thematisierungen zuvor einen Jahrhunderte überspannenden Bogen. 1798 schrieb Kant über den „Streit der Fakultäten“. Stichweh führte dieses Dokument als Annäherung an einen Zeitgeist ein. Die Universität war damals Ausbildungsstätte der Juristen, Theologen und Mediziner. Sie befasste sich also mit den Nachwuchskräften des Staates, die für die Erhaltung seiner Ordnung unverzichtbar waren. Die Philosophen fanden in dieser Liste keinen logischen Platz. Und doch galt auch für sie eine Unverzichtbarkeitsregel. Nur war es nicht der Staat, sondern die Universität, die auf die Philosophen nicht verzichten konnte. „Die Philosophie ist in besonderer Weise frei“. Sie ist an keine gesellschaftliche Institution gebunden. Dadurch wurde ihr „das Recht eingeräumt, die normative Satzung der Juristen, Theologen und Mediziner im Lichte des Wissens einer philosophischen Analyse und einer fundamentalen Kritik zu unterziehen“.

Auf dem Fundament der Erkenntnisleistung der Gelehrsamkeit und des Erkenntnisinteresses agierten Philosophen als Kritiker. Wenn auch die Fächer wechselten sei das eine Figur, die man bis in die Gegenwart verlängern könne, sagte Stichweh. Das Wechselspiel von Universität und Gesellschaft gelte bis heute. Alles kann in der Universität der Kritik unterworfen werden, auch die Universität selbst.

Die fünfte Form der Kritik nahm zum Abschluss die Gesellschaft weiter in den Blick. Funktionssysteme verfügen über eine je eigene Öffentlichkeit. Rechtsverfahren stehen Unbeteiligten zur Beobachtung offen. Auch Banausen dürfen ins Museum. Die Universität kennt nun ihrerseits klare Mitgliedschaftsregeln. Doch gilt dadurch eben kein pauschales Hausverbot, beispielsweise für Bürger mit politischen Anliegen. Da ist sie auch nichts Besonderes. Auf Fußballplätzen, in Konzertsälen und in Seminarräumen gilt die Freiheit der Rede, solange das Recht eingehalten wird und die Orte nach Gebrauch in wiedererkennbarem Zustand bleiben. In die Details unserer vorhergehenden Diskussionen schauten wir an dieser Stelle nicht neu hinein. In den Ausführungen von Stichweh steckten aber entsprechende Positionen. Er beschrieb die Universität als Ort der Kritik und nicht der verhinderten Kritik.

Zum Abschluss verwies er auf eine Sonderlage und unterschied die Universität in demokratischen und autoritären Systemen. Demokratien kennen die Freiheit des Sprechens und Denkens auch im Politiksystem. Die Universität ist somit kein besonderer Raum für die politische (Gegen-)Rede. In autoritär regierten Staaten sehe das aber anders aus. Wenn im politischen System keine Öffentlichkeit zugelassen wird, kann die Universität zum politischen Ersatzforum werden.

In der Diskussion versuchten wir diese unterschiedlichen Formen auf kurzem Wege an unsere bisherigen Diskussionen heranzuführen. „Münkler-Watch“ wäre dann sehr unterschiedlich zu beobachten, je nachdem ob es sich bei den geschriebenen Protokollen um Mitschriften von Lehrenden, um wissenschaftliche Fortentwicklungen oder politische Rede handelt. Die Person Münkler stünde dann in je anderem Fokus. Wenn Münkler die öffentliche Existenz der Protokolle kritisiert, ist er dann ein schlechter Lehrer? Verhindert er politische Rede? Oder spricht er sich gegen den Zweifel als Weg weiterer Erkenntnis aus?

Und was ist nun mit der digitalen Technologie? Welche Formen der Kritik finden sich noch in einer digitalen Universität die alles über Displays spielt, die nicht nur einen Lehrplan kennt, sondern minutiös Abläufe taktet? Wenn der Lehrende keine in Interaktion verwickelte Person mehr ist, sondern schlicht Videomaterial durchläuft und raffinierte Click-Adventures Inhalte vermitteln – was ist dann mit den dadurch abgelösten Asymmetrien, die so viel regulierten? Kann man sich die Universität als Institution ohne Räumlichkeiten überhaupt schon vorstellen? Sie gibt es schon, sie verteilen auch schon Zeugnisse. Aber Fernunis haben das auch schon getan. Noch werden die nächsten Beamten jedenfalls durch die alten Universitäten geschleust. Der Staat spielt also weiterhin seine wichtige Rolle, die Städte bleiben namensgebend und bindend, die Professoren sind weiterhin als Personen wichtig und die Studenten bleiben sichtbar.

Ohne dass diese Kriterien in Mitleidenschaft gezogen wurden hat die Universität auch schon so manchen Strukturwandel absolviert. Als Immanuel Kant sie beschrieb, besuchten ein Prozent der männlichen Bevölkerung die Universität. In den OECD-Staaten sind es heute zwischen 30 und 80 Prozent der gesamten Bevölkerung. Die Universität hat sich auf dem Weg dahin nicht nur vergrößert, sondern auch tiefgreifend verändert. Kritik von außen und von innen spielte dabei immer eine Rolle. Dennoch hat Joachim Landkammer als Fazit der Tage mit den Gesprächen über Universität und Kritik bemerkt: So wohlwollend und affirmativ über Kritik in der Universität gesprochen wurde, empirische Fälle zu finden, nach deren Betrachtung man die Lobhudelei der Kritik aufrecht erhält ist wirklich schwer. Kritik in der Universität und Kritik an der Universität sind zwei völlig unterschiedliche Sachen.

Worum geht es hier? Vom 27. Nov. bis 01. Dez. trafen wir uns zu Einer Woche Zeit im Gut Siggen kurz vor Fehmarn. Thema: Exit/Voice in Universitäten?

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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