Evangelisch in epischer Breite – Interview: „Für Fontanes Erzählkonzept sind Pastoren prächtige Agenten“

Die Erzählwelt Theodor Fontanes ist auch eine der Dorfkirchen und Landgeistlichen. Werke wie „Unterm Birnbaum“ oder „Der Stechlin“ zeugen vom starken religiösen und theologischen Interesse ihres Schöpfers. Was aber hat den Dichter dazu bewogen, seinen literarischen Fokus immer wieder auf die Eigenheiten protestantisch-preußischer Provinz im ausgehenden 19. Jahrhundert zu legen? Der Theologe und Schriftsteller Reiner Strunk ist dieser Frage in einer Aufsatzreihe nachgegangen. – Ein Sozialtheoristen-Interview zum Fontanejahr. 

Ob Kaiserwetter oder Preußisch Grau: Der Romancier hält die Stellung (L. Schulz/Wikipedia)

 

Herr Strunk, wir befinden uns im „Fontanejahr“, das in diesen letzten Monaten seinem Höhepunkt zugeht. Am 30. Dezember ist Theodor Fontanes 200. Geburtstag. Das Jahr über sind im ganzen Land viele kulturelle und wissenschaftliche „Specials“ anlässlich in Gang gekommen. Sie selbst haben sich in einer mehrteiligen Abhandlung für das Deutsche Pfarrerblatt im Frühjahr mit einem auf den ersten Blick etwas speziellen Thema befasst: den „Fontane-Pastoren“, also den Geistlichen, die in vielen Fontane-Werken einen Platz haben, und, nicht immer, aber zuweilen gar eine zentrale Rolle spielen. Dem Anschein nach ist es doch durchaus auffällig, welchen Raum Fontane seinen Geistlichen gewährt?

Ja, das ist so. Und natürlich hat man das auch schon lange gesehen. Ich denke, im Wesentlichen sind zwei Gründe ausschlaggebend dafür. Zum einen hat Fontane persönlich viele Kontakte zu Pastoren gehabt, allerdings eher flüchtige als freundschaftlich dauerhafte. Bei seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg ist er wiederholt in Pfarrhäusern eingekehrt und hat deren Gastlichkeit geschätzt. Und das lag chronologisch vor seinen Romanen. Zum anderen war in Fontanes Zeit der Pfarrer noch ein wichtiger Faktor im gesellschaftlichen Leben, jedenfalls der Landpfarrer, der von seinem adligen Patronatsherrn abhing, gelegentlich aber auch dessen bevorzugter Gesprächspartner war, siehe Pastor Lorenzen im „Stechlin“. Auffällig ist, dass in Fontanes hauptsächlich in Berlin spielenden Romanen („Frau Jenny Treibel“) die Pastorengestalten fehlen. Sie haben dort eben keine nennenswerte Funktion mehr. 

Zu Fontanes Zeit war der Pfarrer noch ein wichtiger Faktor im gesellschaftlichen Leben, jedenfalls der Landpfarrer, der von seinem adligen Patronatsherrn abhing, gelegentlich aber auch dessen bevorzugter Gesprächspartner war.

Wir wollen nicht verschweigen, dass Sie selbst evangelischer Pfarrer sind, inzwischen im Ruhestand. Sie waren Assistent bei dem bekannten Systematischen Theologen Jürgen Moltmann und wurden an der Universität Tübingen 1970 promoviert. In der Württembergischen Landeskirche haben Sie in den 1970er und 80er Jahren das Pfarrseminar, also den praktischen Teil der theologischen Ausbildung, geleitet. Ihre Reihe aus dem Frühjahr umfasst fünf Artikel, aus denen wir hier nur einige wenige Punkte aufgreifen können. Mich interessiert: Wie sind Sie selbst auf die Rollen und Charaktere der Pastoren bei Fontane aufmerksam geworden? Schult die eigene Zeit als theologischer Ausbilder den Blick fürs „Typische“ oder gar „Typenhafte“ unter den Geistlichen, auch im Literarischen?

Mag sein. Und die Art und Weise, wie Fontane seine Pastoren zeichnet, eignet sich meines Erachtens sehr dazu, Typisierungen bei dieser Berufsgruppe vorzunehmen. Im Übrigen war’s bei mir nicht so, dass ich auf die Suche nach unterschiedlichen Pfarrerstypen in der Literatur gegangen und dabei auf Fontane gestoßen wäre. Eher umgekehrt: Erst war da das Vergnügen an Fontanes Romanen und Novellen – und von Schulzeiten an auch an seinen Balladen. Und dann kam ein sozusagen fachspezifisches Interesse dazu. Ich wollte gern genauer herausfinden, wie Fontanes Pastoren eigentlich „ticken“.

Allgemein könnte man vielleicht sagen, dass die Fontane-Werke viel Einblick bieten in das preußisch-protestantische Milieu, seine Anschauungen, seine Selbstverständlichkeiten, seine mehr oder weniger hintergründigen Konflikte in jener so ungewissen wie erwartungsgeladenen Zeit des nahenden und dann jungen Kaiserreichs. Für manche Notiz Fontanes fehlt heutigen Lesern gar wortwörtlich das Verständnis. Wenn etwa von Sachfragen im Konsistorium, also der Leitung der preußischen Landes- und Staatskirche die Rede ist; oder wenn es um den gerade amtierenden Hofprediger der Hohenzollernfamilie in Berlin geht. Gibt es hier eine Art Muster, das für die erzählerische Verarbeitung der (oftmals) Land-Geistlichen genutzt wird bzw. zum Vorschein kommt?

Völlig richtig. Wenn wir Fontane lesen, bekommen wir es mit kulturellen und gesellschaftspolitischen Verhältnissen im Preußen des späten 19. Jahrhunderts zu tun. Das dominiert so stark, dass es heute vielen Lesern die Fontane-Lektüre verleidet. Die erzählten Konflikte resultieren mehrheitlich aus einer Moral, die man als längst vergangen, beinahe als museal empfinden kann. Denken Sie nur an die Figur des Baron von Instetten in „Effi Briest“. So viel preußische Tugendhaftigkeit ohne menschliches Gefühl – da muss man sich erst mal hineinfinden. Ganz ohne kulturhistorisches Interesse bleibt man sonst leicht auf der Strecke.

Erst war da das Vergnügen an Fontanes Romanen und Novellen. Dann wollte ich gern genauer herausfinden, wie Fontanes Pastoren eigentlich „ticken“.

Es ist aber auch etwas dran, wenn Sie nach einer Art von Muster für Fontanes Darstellung evangelischer Pastoren fragen. Denn der springende Punkt ist immer das Gespräch und das Dialogische. Andauernd wird geredet in Fontanes Werken; je älter er wird, desto deutlicher. Und der „Stechlin“ bildet den Gipfel einer Erzählweise, bei der praktisch nichts passiert, aber unentwegt Gespräche geführt werden. Für ein solches Erzählkonzept sind Pastoren, sei es in ihrer seelsorgerlichen oder homiletischen Funktion, natürlich prächtige Agenten.

Der Stechlin, das Spätwerk Fontanes von 1898, bietet ein letztes wilhelminisches Gesellschaftsporträt und zeigt ein Preußen im Umbruch. Dafür steht wohl auch die Rolle des fortschrittsbewussten Pastor Lorenzen, der einen eigentümlich distanzierten Vertrauten des alten märkischen Adeligen Dubslav von Stechlin darstellt. Natürlich, so wie es sich für die Zeit gehört, muss der Pastor laufend den Gesellschaftsabenden auf Schloss Stechlin beiwohnen, wie auch die übrigen Professionen der näheren Ortschaft. Fontane lässt seinen alten Stechlin sagen: der Pastor, der habe noch die Bildung. Sie schreiben in Ihrem Aufsatz, Fontane habe „schon lange vor dem Stechlin den preußischen Protestantismus durchaus mit kritischen Augen“ betrachtet. Schildern Sie doch einmal kurz, was Sie damit meinen – und vielleicht auch, was es mit der, wenn ich so sagen darf „Übergangsfigur“ des Pastor Lorenzen auf sich hat?

Nach seiner Herkunft aus einer Hugenottenfamilie gehörte Fontane zur Reformierten Kirche, unterhielt aber ein ziemlich distanziertes Verhältnis zu ihr. Schleiermacher war ihm bekannt, und er hat sogar eine Predigt von ihm, unbekümmert um irgendwelche Zitatnachweise, erzählerisch verarbeitet. Wenn er Kirchen-kritisches von sich gab, traf das in der Regel auch nicht die Reformierten, sondern das Luthertum. Und das preußische Luthertum vor allem deshalb, weil es – Stichwort „Thron und Altar“ – ein Staatskirchentum begründet hatte, das ihm religiös und politisch verdächtig war.

Andauernd wird bei Fontane geredet, je älter er wird, desto deutlicher. Der „Stechlin“ bildet den Gipfel einer Erzählweise, bei der praktisch nichts passiert, aber unentwegt Gespräche geführt werden. Für ein solches Erzählkonzept sind Pastoren, sei es in ihrer seelsorgerlichen oder homiletischen Funktion, natürlich prächtige Agenten.

Deutliche Spitzen in diese Richtung liefert Fontane besonders im „Schach von Wuthenow“ und im „Graf Petöfy“. Der Stechlin-Pastor Lorenzen kann offenbar ein Liebling Fontanes sein, weil er aus dem alten Schema herausfällt. Er ist, wie Sie richtig sagen, eine Art Übergangsfigur. Und er vertritt vor allem sozial-liberale Überzeugungen. Das deckt sich nicht mit Dubslav Stechlins eigener konservativer Position, weckt bei ihm aber durchaus ehrliche Sympathien.

Eine stärker mit theologischen Anmerkungen unterlegte Schrift Fontanes ist die etwas mehr als ein Jahrzehnt zuvor erschienene Erzählung „Unterm Birnbaum“ (1885). Hier spielt wiederum nicht nur der Pastor Ecclesius eine markante Rolle, es kommt auch zur kritischen Beleuchtung konfessioneller Gegensätze. Von Ursula Hradscheck, der Frau des örtlichen Schankwirts Abel, heißt es unter den Dorfbewohnern, sie komme aus dem Katholischen. Der Pastor wiederum habe sie „evangelisch getraut“ und sie habe bekundet, dass sie sich „treu und redlich zur evangelischen Landeskirche halten“ wolle. Doch auf Ursula, so wittert der Pastor, der sich rühmt, sie zur wahren Lehre bekehrt zu haben, lastet immer noch der Spuk und Aberglaube (des Katholizismus). Die Eheleute Hradscheck begehen einen heimtückischen Mord an einem ihrer Gläubiger; sie werden verdächtigt, aber der Pastor hält, da Beweise erst einmal ausbleiben, eine Verteidigungspredigt auf sie. Ihm ist wichtig, auch ja sein Pfarrkind und damit seine „Erfolgsbekehrung“ Ursel rein zu halten. Doch es nützt alles nichts. Erst stirbt Ursula an ihrem schlechten Gewissen, dann zerschlägt sich Abel im Wahn den Kopf. Der Pastor hat sich schwer geirrt. In der Darstellung haftet ihm selbst fast etwas Dämonisches an. Haben Sie eine Erklärung für Fontanes Interesse an derart „theologisierten“ Beschreibungen? Werden hier, wie mir scheint, die Altlasten des endenden preußischen Kulturkampfes noch einmal bearbeitet?

Ja, auch zum Katholizismus hatte Fontane ein zwiespältiges Verhältnis. Das lag erst einmal daran, dass er überhaupt kein Konfessionalist war. Konfessionelle Rechthaberei war ihm ein Gräuel und im Grunde auch vollkommen unbegreiflich. In diesem Punkt war er also schon reichlich modern. Aber dann gefiel ihm auch nicht die generelle Abwertung des Katholischen, die natürlich im preußischen Kulturkampf offensichtlich wurde. Wenn er Figuren wie die vormalige Katholikin Ursel Hradscheck in der Krimi-Novelle „Unterm Birnbaum“ verdächtig nah beim Aberglauben ansiedelt, entspricht er damit einer allgemeinen Einschätzung im damaligen Preußen. Aber er kann auch Vorteile des Katholischen hervorheben.

Pastor Lorenzen vertritt vor allem sozial-liberale Überzeugungen. Das deckt sich nicht mit Dubslav Stechlins eigener konservativer Position, weckt bei ihm aber durchaus ehrliche Sympathien.

Das Katholische spielt nur hier und da bei Fontane eine Rolle; er selbst scheint aber alles andere gewesen zu sein als ein verschlossener preußen-protestantischer Geist. Vielleicht können Sie ein prägnantes Beispiel aufzeigen, wie das Katholische eingeführt und illustriert wird? Ich denke hier gerade an den schon erwähnten „Graf Petöfy“.

Ja, er konnte sehr einfühlsam und, ich würde sagen, gerecht vom Katholizismus reden; besonders im Blick auf dessen Umgang mit Menschen in extremen Krisensituationen ihres Lebens. Was dabei für ihn ausschlaggebend war, betrifft eben nicht das Lehrhafte und Dogmatische, sondern das Menschliche, worin so etwas wie Barmherzigkeit und Liebe zum Tragen kommen. In Pastor Lorenzens Grabrede für den alten Stechlin kommt das kompakt zur Sprache.

Konfessionelle Rechthaberei war ihm ein Gräuel und im Grunde auch vollkommen unbegreiflich. In diesem Punkt war er also schon reichlich modern.

Der Katholizismus hat nach Fontanes Wahrnehmung die hilfreicheren Instrumente in der Seelsorge zur Verfügung, zum Beispiel Kruzifix und Letzte Ölung. „Cécile“, Konvertitin aus der katholischen Kirche, klammert sich auf ihrem Sterbebett an ein kleines Kruzifix und entschuldigt sich bei ihrem evangelischen Pastor dafür, dass sie ihre „letzten Gebete an eben dies Kreuz und aus einem katholischen Herzen heraus“ gerichtet habe. Denn, so erklärt sie, die katholische Kirche „macht uns das Sterben leichter und bettet uns sanfter.“

Zum Abschluss unseres Gesprächs komme ich auf den ersten Beitrag Ihrer Fontane-Reihe zu sprechen. Einleitend greifen Sie einen Brief Fontanes an seine Frau Emilie, geschrieben 1884, auf. Darin heißt es: „Trotz ihrer enormen Fehler bleiben märkische Junker und Landpastoren meine Ideale, meine stille Liebe. Aber wie wenig geschieht, um diese wundervollen Elemente geistig standesgemäß zu vertreten.“ – Fast scheint es, als trete hier ein leises Klagen über eine nun vergehende Zeit hervor?

Ja, gewiss. Und ich sehe Fontanes Pastoren-Porträts, so wenig sie insgesamt idealisieren und so vielfältig, manchmal auch widersprüchlich sie im Einzelnen ausfallen, im Grunde genommen als literarische Verbeugung vor der theologischen Zunft und vor der Zeit, in der sie noch eine gesellschaftliche Rolle spielte.

Herr Strunk, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Die fünfteilige Ausatzserie von Reiner Strunk ist im Deutschen Pfarrerblatt erschienen. Die Online-Version kann vollständig über das Archiv der Zeitschrift abgerufen werden. 

Verwandtes Thema: Am 21. März 2019 erschien auf Sozialtheoristen der Beitrag „Ein Reich in Bewegung“ – Interview über das Deutsche Kaiserreich mit der Historikerin Hedwig Richter.

Reiner Strunk, geb. 1941 in Düsseldorf, ist Pfarrer i. R. der Württembergischen Landeskirche. An der Universität Tübingen wurde er 1970 zum Doktor der Theologie promoviert, anschließend war er Vikar und Pfarrer in Stuttgart. 1977 wurde er Studienleiter am Pfarrseminar der Württembergischen Kirche, 1997 bis zur Pensionierung 2003 wirkte er als Leiter an der Fortbildungsstätte Kloster Denkendorf. Unter zahlreichen Buchveröffentlichungen findet sich auch eine Biografie über Eduard Mörike. 

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