Proteste in den sozialen Medien minimieren nicht die Demonstrationen auf der Straße. Im Gegenteil: analoge und digitale Protestformen weisen vielfältige Verschränkungen auf, wie der Stuttgarter Soziologe Ulrich Dolata in der Zeitschrift für Soziologie berichtet.
Die sozialen Medien sind der Raum für Forderungskataloge. Offensichtlich hat im Netz laufend jemand etwas zu fordern. Bleibt die Anzahl der Lebensbereiche, in denen mit Forderungen Echtzeiterfolge erzielt werden können überschaubar, bieten digitale Angebote eine nützliche Plattform. Greta Thunberg und Fridays for Future oder die Parteienkritik des Youtubers Rezo sind die sicherlich herausragenden Beispiele des Jahres.
Twitter ermöglicht kurze Anstöße der Information und Provokation
Inwiefern Protest über Twitter und Co. auf Anschlüsse der Analogwelt angewiesen ist, hat der Stuttgarter Soziologe Ulrich Dolata in einem Beitrag für die Zeitschrift für Soziologie betrachtet. Ausgangspunkt ist die erweiterte Artikulation sozialen Protests. Die – nomen est omen – „sozialen“ Medien haben Barrieren gesenkt, sie erleichtern den Start sich bildender Protestformationen.
Dies allerdings minimiert mitnichten analoge Aktivitäten. Twitter zum Beispiel ermöglicht kurze Anstöße der Information und Provokation. Für die Stabilisierung von Protest bedarf es jedoch klassischer Versammlungs-, Demonstrations- und Beschlussformate einschließlich örtlicher Interaktion (face to face). Die Annahme, klassische Medien unterlägen der Relevanz der sozialen, ist zu relativieren. Protest sucht gerade Präsenz in den traditionellen Massenmedien, insbesondere im Fernsehen.
Umgekehrt integrieren diese die sozialen Medien in ihre Infrastrukturen unter Zuhilfenahme von Algorithmen. Zudem deuten die sozialen Medien eine Renaissance der charismatischen Führung an, wie Dolata formuliert. Auf Partizipation folgt kein Hierarchieverzicht. Es bilden sich informelle Hierarchien, Leit- und Identifikationsfiguren.
Die Welt gerät nicht aus den Fugen
Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Dolatas Analyse kühlt manche Übertreibung. Abschließend bündelt sie wichtige Beobachtungen zu aufschlussreichen und für weitere Diskussion einige Anregung bietenden Thesen. Die Welt gerät nicht aus den Fugen und sie besteht immer noch nicht allein aus Twitter, Facebook und YouTube. Etablierte und innovative technologische Arrangements verschränken und verstärken einander. Auch Machtfragen verschwinden nicht. Je mehr Kanäle geboten werden, desto anspruchsvoller das Erzeugen von Aufmerksamkeit.
So provoziert neue Beteiligung auch neue Ausschlusserfahrung. Es können alle gleichzeitig rufen, aber nicht gleichzeitig gehört werden. Mit diesem Spannungsverhältnis umzugehen und eigene Begrenzung zu erkennen, ist – wie zu sehen – wohl die eigentliche Herausforderung für sozialen Protest in der Gegenwart.
Ulrich Dolata (2017): Technisch erweiterte Sozialität. Soziale Bewegungen und das Internet. In: Zeitschrift für Soziologie 46 (4), S. 266–282.
Eine Version dieses Beitrags erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau.