Weihnachten in Deutschland – ein Interview

Welche soziale Bedeutung hat heute noch Weihnachten? Ein Interview der Northern Business School Hamburg mit dem Sozialforscher und Research Fellow Marcel Schütz über saisonale Erwartungen, Zeitvergessen und ein paar vorsichtige Ratschläge für ein möglichst krisenfreies Familienfest. – Kleine Weihnachtssoziologie. 

Der NBS Research Fellow Marcel Schütz arbeitet zu den Themen Organisation und Gesellschaftstheorie. Bild: Kevin Knoche/Text: NBS Hamburg

 

Herr Schütz, Sie blicken in Ihrer Arbeit soziologisch und ökonomisch auf die Gesellschaft. Warum verbinden wir mit dem Weihnachtsfest so sehr das Schenken?

Man könnte hinzufügen: Neben dem Schenken auch das Teilen. Offenbar unterstützen Geschenke unsere Beziehungen zueinander. Es heißt ja: „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.“ Bestenfalls nicht unbedingt in Form einer einfachen Erwartung von Leistung und Gegenleistung. Mit Geschenken für nahestehende Personen sagen wir etwas über das Bild, das wir von ihnen haben, und damit über uns selbst. Geschenke sind insofern keine direkten Tauschmittel, sondern buchstäblich „Handreichungen“; sie schaffen Möglichkeiten, unsere bestehenden Bindungen gelegentlich sichtbarer zu machen. Weihnachten zieht gegenüber allen sonstigen Festen des Jahres ungemein viel Aufmerksamkeit auf sich. Zu einem herausragenden Anlass, der dazu noch das Jahr abschließt, erscheinen kommunikative bzw. symbolische Ressourcen, Schenkungen also, recht passend; sie stellen etwas klar und erinnern an soziale Verhältnisse. Die Spendenbereitschaft und mildtätige Dienste sind zu Weihnachten auch nicht eben gering.

Es gibt ja die Kritik, dass in all der Konsumlaune der Sinn von Weihnachten untergehe.

Zunächst ist es so, dass sich offenbar viele Menschen regelrecht mühen und anstrengen, in eine „adäquate“ Weihnachtsstimmung überzugehen. Das kann eine Herausforderung sein. Erstmal muss man zu Besinnung kommen, bevor es besinnlich werden kann. Nicht, dass einem nicht danach wäre. Nur scheint es fast eine Kunst für sich zu sein, die im Idealfall schönen Stunden nicht versehentlich zu verpassen oder zu verschwenden. Das drückt sich in einer bekannten Erfahrung aus: Eben noch war ein einziges Planen und Machen vor dem Fest, schon ist alles wieder vorbei. Es ist nicht ganz trivial, innezuhalten und für drei Tage ein bisschen für den Moment zu leben. Der Soziologe Tilman Allert hat einmal gesagt, dass darin das Verbindende von Weihnachten liegt: im Zeitvergessen, dem wir uns auszusetzen versuchen. Es ist, wie Allert es nennt, ein „Zauber purer Präsenz“. Aber das Ritual kann nicht nur Zuversicht bieten, sondern auch Zumutungen. Dann wird Feiertagswürde zur Feiertagsbürde. Die einen fliehen (oder fliegen vielmehr) vor der Weihnacht vorsorglich (weg), andere wiederum finden in ihr keine ersehnte Ruhe. Ein Drittes könnte im reflektierten Umgang liegen: nicht zu zwanghaft und nicht zu einseitig.

An Weihnachten gibt es nicht nur Geschenke, sondern ein Bedürfnis nach Zusammenhalt und Versöhnung.

Vielleicht ist von Weihnachten als einer institutionalisierten Reserve zu sprechen. Schon im Herbst ist alles darauf bedacht, bis Jahresende dieses und jenes noch zu schaffen. Und dann rennt bekanntlich die Zeit. Der Erledigungsdrang verstärkt das Bedürfnis nach Abschluss und Loslassen vom Alten. Das Bild vom Kind in der Krippe erinnert uns an die Möglichkeit der Erneuerung. Auch in unserem Alltag können Verhältnisse neu „geboren“ werden. Man denke an den Wunsch, einen alten Streit beizulegen, sich nach Jahren zu versöhnen. Gesellschaftliche Institutionen, zu denen solche Feste gehören, haben das Merkmal, dass man sie fest erwarten kann. Sehr passend kommt das in der Vorweihnachtszeit zum Ausdruck – im Advent (lat. Ankunft), der nach christlicher Vorstellung das Erwarten der Geburt Jesu Christi anzeigt. Diese Zeit der Vorbereitung macht das Fest so ausdrucksstark, wozu wir durch Adventskonzerte, Andachten, Gesänge, Märkte, Beleuchtungen, Schmuck, Dürfte und Kekse beitragen. Manches Warten bleibt aber vergeblich: auf den Schnee zum Beispiel, der alle Jahre wieder zumeist „in Abwesenheit“ dazugehört. Die frostige Symbolik ist kein Zufall. Leise rieselt der Schnee, still ruht der See, wird gesungen. Besinnung ist offenkundig das Gebot der weihnachtlichen Stunden.

Weihnachten scheint aber doch alljährlich Neues zu bieten. Viele Menschen empfinden Vorfreude auf das Fest. Wie kommt es, dass Weihnachten nie zur Routine wird?

Das Weihnachtsfest wird mit sehr persönlichen Eindrücken und Erinnerungen verbunden. Viele haben das Weihnachtsfest ihrer Kindheit vor Augen, womöglich in einer Heimat, die es so gar nicht mehr gibt, die sich ganz woanders befindet oder die fremd geworden ist. Kindern erscheint Weihnachten als Zeit voller Sinneseindrücke. Zudem läutet das Weihnachtsfest das Ende des Jahres ein. Damit verbunden ist der Blick auf Vergangenes und Kommendes. Was war in diesem Jahr, was wird eines weiter sein? Jedes Weihnachten ist Zäsur und Übergang, weil es das Zurückdenken an Gewesenes und das Erwarten dessen, was künftig sein mag, zeitlich, örtlich und personell zuspitzt. Und weil diese Tage sich vom Alltag abheben, vergegenwärtigen sie uns den Lauf des Lebens. Durch all die Weihnachten werden wir von Kindern zu Jugendlichen, reifen als Erwachsene und schließlich zu Greisen. Währenddessen erfahren wir, wie sich das Erleben dieser festlichen Zeit von jungen Tagen bis ins hohe Alter verändert. Und wir beobachten, dass sehr junge Menschen all das durchleben, über das auch wir uns früher kindlich gefreut haben. Reine Routine hat es hier also nicht leicht.

Viele Menschen in unserem Land sind nicht mehr Mitglied einer christlichen Konfession, allzumal in großen Städten. Was bedeutet Weihnachten unter diesen Bedingungen?

Ich sehe Weihnachten als ein soziales Ereignis, das nicht zwingend für Christen reserviert bleibt. Es stimmt: In einer Gesellschaft, in der die Kirchenbindung abnimmt, kann man nicht mehr darauf zählen, dass alles klassisch Weihnachtliche – das Liedgut, die Bräuche, die Kontemplation – von allen geteilt werden. Aus meiner Sicht kommt es darauf an, diesem Geschehen mit Toleranz zu begegnen. Das Weihnachtsfest ist in unserem Erdteil nun mal etabliert. Unterschiedliche Herkünfte und Glaubenspraktiken werden davon nicht nachteilig berührt. Es bietet sich hier doch etwas, das wie aus der Zeit gefallen zu scheint: Jeder kann die freien Tage irgendwie gestalten, selbst wenn sie oder er dem Fest religiös nicht nahesteht. Diese Erfahrung, für eine gewisse Zeit die Geschäfte ruhen zu lassen und sich ein wenig zurückziehen: das bei allen gesellschaftlichen Unterschieden weiterhin teilen zu können, ist sicher eine integrative Leistung. Klar, das ist teilweise auch eine Fiktion, eine Art gewünschte soziale Täuschung. Wir können schließlich nicht alle die oben angesprochene Zeitvergessenheit teilen. Es lässt sich aber immer noch eine Ahnung davon bekommen, was uns diese Zeit bedeutet.

Ob man will oder nicht: Weihnachtsfilmen, Weihnachtswerbung und Weihnachtsfeiern ist in dieser Zeit ja kaum zu entgehen. Welche Bedeutung haben solche Sachen?

Ich würde sagen, das Besondere dieser Sachen liegt in der geübten Zusammenkunft und in der Kommunikation darüber, dass man solchen Unterhaltungen und Zerstreuungen in einer ziemlich unbelasteten Weise begegnen kann. Denken Sie an Film-Klassiker wie „Kevin allein zu Haus“, „Der kleine Lord“ oder Charles Dickens’ „Christmas Carol“. Mit Freunden gehe ich vor dem Fest in die Weihnachtsoper „Hänsel und Gretel“. Solche Events scheinen über Generationen hinweg eine Anziehungskraft zu entfalten. Und Werbekampagnen zur Weihnachtszeit werden von großen Handelsketten mit kleinen Lebensgeschichten verbunden. Diese Spots changieren zwischen Melancholie und Fröhlichkeit; sie wollen vielleicht Anstöße bieten, zum Nachdenken anregen, zum Kaufen. Und die Weihnachtsfeiern in den Betrieben sind natürlich eine gute Gelegenheit, Kollegialität und stimmungsvolle Momente in den Mittelpunkt zu rücken und sich weiter zu motivieren.

Eine letzte praktische Frage, die viele beschäftigt: Wie bleibt ein familiäres Weihnachten stressfrei und friedlich, haben Sie Anregungen?

Das ist ein bisschen die Crux. Einerseits erwartet man ja ein angenehmes Ereignis und schöne Momente. Andererseits fangen genau mit dieser Erwartung die Probleme an. Es wird versucht, eine künstliche Natürlichkeit an den Tag zu legen. Das diszipliniert ein Stück, kann irgendwann jedoch anstrengen. Vielleicht drei Punkte, ohne Gewähr. Erstens: die gute Mitte finden und manche Nachsicht üben. Ohne ein gewisses Ausblenden sind manche Anstrengungen und Störungen nicht zu meistern. Zweitens empfehlen sich familiäre Grundsatzdebatten kaum für die Festtage. Wegen vermeintlicher Kleinigkeiten brechen alte Wunden auf. Jemand rennt aus dem Raum, schlägt die Tür zu, der Rest ist schlechte Stimmung. Das Dritte: Sich die Frage stellen, in welchen Punkten man eigentlich gut miteinander auskommt. Wie kann man ungünstigen Kommunikationen entgehen und die Zeit mit akzeptierten Aktivitäten ausfüllen? Orts- und Personalwechsel helfen, damit die Decke nicht auf den Kopf fällt. Das fängt schon mit einem gemeinsamen Spazier- und Kirchgang an. Beherzigt man all das, kann man sich zwischen den Jahren in Ruhe von Weihnachten „erholen“. Und dann wieder jeder für sich.

Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School Hamburg mit den Arbeitsschwerpunkten Soziologie und Betriebswirtschaft. Das Gespräch entstand im Anschluss an einen betrieblichen Beitrag zum Thema Weihnachten.

Das Interview wurde mit freundlicher Genehmigung der Northern Business School Hamburg für die Sozialtheoristen übernommen.

Veröffentlicht von Marcel Schütz

Marcel Schütz ist Professor für Organisation an der Northern Business School in Hamburg. Er unterrichtet daneben an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.