Eine gut temperierte Selbstdarstellung ist überlebenswichtig für eine erfolgreiche Promotion. Überzieht man die Selbstdarstellung allerdings, bringt das Nachteile mit sich.*
In einer ähnlichen Weise hat der eine oder die andere die folgende Szene bestimmt selbst schon einmal erlebt: In einem Workshop oder einem Kolloquium wird ein theoretischer Aspekt diskutiert. Alle Beteiligten, die mitdiskutieren, tun so, als wüssten sie, was das Konzept impliziert, werfen selbstsicher mit Begriffen um sich. Die Diskussion trägt sich fort. Einige folgen dem Pingpong der Argumente ehrfürchtig und wundern sich, warum sie all das nicht wissen. Ringt sich dann jemand dazu durch, seine oder ihre Unwissenheit zu entblößen und nach der Bedeutung eines Begriffs oder Konzepts zu fragen, wird deutlich, dass bei den Beteiligten weitaus weniger Klarheit darüber herrscht, worüber sie gerade diskutiert haben. Erst die mutige Nachfrage offenbart, dass der Austausch – zumindest im Falle einiger – vom sich gegenseitig Blenden getragen wurde.
Wie kommt es aber, dass in Kolloquien oder während Tagungen oft alle schon immer alles zu wissen scheinen? Eine Fährte zu einer Antwort auf diese Frage führt zu einer Beobachtung des berühmten Soziologen Erwing Goffman. Dieser stellte fest, dass wir im Job, beim Sport, während Familientreffen und selbst in intimen Beziehungen ständig Theater spielen. Die Bühne stellt in der modernen Gesellschaft das Leben dar. Ständig wird von uns das Zurechtkommen in unterschiedlichsten sozialen Rollen abverlangt.
Der Einstieg in die und der Aufstieg in der universitären Karriere ist von Rollenübergängen gekennzeichnet, die von Unsicherheit geprägt sind. Zu Beginn des Studiums muss man die Rolle des*der Schüler*in abstreifen, um erfolgreich im Studium anzukommen. Besteht der Wunsch nach einer Promotion, stellt sich die Frage, wie man die unterschiedlichen Rollenverhältnisse „richtig“ spielt. Insbesondere zu Beginn der Promotionsphase – aber auch später – stellen sich viele die Frage, wie man sich „richtig“ gegenüber den Betreuenden, den Kolleg*innen, Freund*innen, Partner*innen, während Tagungen usw. verhält. Natürlich gibt es darauf keine eindeutige Antwort. Zu sehr ist das Ausüben von Rollen von den Persönlichkeiten ihrer Träger*innen, den institutionellen Bedingungen sowie von disziplinären Kulturen geprägt.
Anstatt einen Promotionsknigge zu definieren, möchte ich auf einen Aspekt eingehen, der insbesondere mit der Überkompensation von Unsicherheit bei der Ausübung (neuer) Rollen auftritt: die übersteigerte Selbstdarstellung.
Bluffen als Überlebensstrategie
Üblicherweise lernen wir das Ausüben von Rollen durch Sozialisation: Wir kopieren Verhaltensweisen aus unserem Umfeld. Schmerzhaft sind die Erinnerungen vieler an die damit verbundenen Schwierigkeiten in der Pubertät. Ein zentrales Problem bei der Ausübung universitärer Rollen – von Studierenden bis zu Professor*innen – hat der mittlerweile emeritierte Wolf Wagner in seinem vor 40 Jahren erschienenen und zwischenzeitlich mehrfach neu aufgelegten Buch Uni-Angst und Uni-Bluff dargestellt: Hochschulen laden ihre Mitglieder geradezu dazu ein, zu bluffen. Um mit den ständigen Leistungserwartungen und Beobachtungen als Studierende sowie später als Promovierende umzugehen, geschieht es nahezu von selbst, dass Betroffene Fassaden aufbauen. Schwächen werden versteckt, Halbwissen als Gewissheiten in Diskussionen eingebracht, Kolleg*innen rabiat angegangen, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.
Wenn diese Formen der übersteigerten Selbstdarstellung zur Norm werden, gehören sie zur Sozialisation neuer Promovierender. Das Bluffen gehört dann zum Inventar der Rolle des wissenschaftlichen Nachwuchses. Bluff meint, dass man lernt, sich gut zu vermarkten, sich also klüger darzustellen, als man ist. Es sind verinnerlichte und kopierte Verhaltensweisen, die das Gesagte absichern und aufwerten: „Bluff ist übertriebene Selbstdarstellung in einem Wettkampf um Gewinn und Verlust. Man gibt sich größer, klüger, schöner, stärker, selbstsicherer. Das Ziel: Die anderen so beeindrucken, dass sie sich auf ein Kräftemessen gar nicht einlassen“, wie Wagner schreibt. Das reicht vom Nachahmen der am Institut geläufigen Theoriesprache bis hin zum Kopieren der Gestiken und Eigenheiten der jeweiligen professoralen Ikonen.
Habituell kann man dieses Verhalten bereits bei Erstsemestern aus akademischem Haushalt beobachten: Mit großer Selbstsicherheit tragen sie gerade Gelerntes und daraus abgeleitete Thesen vor und lassen damit diejenigen, die aus weniger akademischen Verhältnissen kommen, oft alt aussehen. Dieses unterschiedliche Auftreten manifestiert Ungleichheiten, indem etwa Erstere die begehrten Jobs als studentische Hilfskräfte ergattern. Die ebenso klugen, aber weniger selbstsicheren Studierenden, gehen dabei oftmals leer aus. Neben dieser sozio-ökonomischen Dimension des Bluffens, besteht auch eine Genderdimension: Nicht nur die anekdotische Evidenz meiner eigenen Lehrerfahrung zeigt, dass es insbesondere die Herren unter den Studierenden sind, die mit breiten Schultern zum Teil wacklige Thesen und Argumente vorbringen.
Aber zurück zur Promotion. Grundsätzlich hat dieses Vortäuschen von Sicherheit bei der Ausübung von Rollen Vorteile. Beispielsweise ist es für einen Auftritt vorteilhaft, diesen mit Selbstbewusstsein zu bestreiten. Vortragenden, die ihren Selbstzweifel nicht mitschwingen lassen, oder Lehrenden, die selbstbewusst unterrichten, hören wir lieber zu und nehmen ihnen auch eher ab, was sie zu sagen haben, als den unsicheren Pendants. Das ständige Offenlegen von Unsicherheiten würde das Ausüben von Rollen oft erschweren, was wiederum nicht bedeutet, dass gerade das auch vorteilhaft sein kann. Wie sehr sich der*die Einzelne traut, die Fassade abzubauen, hängt gerade mit der Sicherheit zusammen, mit der eine Rolle ausgeführt wird.
In vielen Situationen kann eine übersteigerte Selbstdarstellung oder das übermäßige Bluffen dazu führen, dass die persönliche sowie professionelle Entwicklung gefährdet wird. Das interessierte Nachfragen verebbt dann, weil dadurch Unwissenheit offensichtlich wird. Diese selbstauferlegte Nachfragesperre verhindert Lerneffekte. Zudem verhindert eine zum Selbstschutz aufgeblasene Selbstdarstellung auch das konstruktive Arbeiten an Schwächen. Man führt sich mit seiner antrainierten Selbstsicherheit hinters Licht. Erst das Offenlegen von Nichtwissen – so wie bei der eingangs skizzierten Szene – ermöglicht ein Gespräch über unterschiedliche Verständnisse und Wissenslücken. Eine Diskussion kann durch solcherlei Nachfragen nur gewinnen.
Räume finden, in denen das Visier geöffnet werden kann
Wenn immer alle so tun, als wüssten sie bereits alles, leidet der Erkenntnisgewinn. Eine Möglichkeit den Teufelskreis der überzeugten Selbstdarstellung zu durchbrechen, kann darin bestehen, sich Räume zu schaffen, in denen das professionelle Visier gefahrlos geöffnet werden kann. Möglich ist das beispielsweise in Diskussionsrunden mit Kolleg*innen oder Freund*innen, denen man vertraut und vor denen man Schwächen nicht verstecken muss. Hier kann trainiert werden, auch vermeintlich „dumme“ Fragen zu stellen oder es können Diskussionen geführt werden, ohne die Sorge, von den anderen Beteiligten als nicht ebenbürtig wahrgenommen zu werden. Diese Gespräche sind oft viel lehrreicher als das akademische Schaulaufen vor kollegialem Publikum.
Für Promovierende ist es wesentlich zu lernen, in welchen Situationen es wichtig ist zu bluffen, ohne aber sich selbst hinters Licht zu führen. Wer es schafft, zwischen Aufplustern und Öffnen des Selbstdarstellungsvisiers zu changieren, hat gelernt, einen wichtigen Bestandteil der Rolle des*der Promovierenden zu beherrschen. Manche Personen haben dieses feine Gespür für Situationen einfach. Andere müssen es sich mühsam antrainieren. Bei den meisten wird die Fähigkeit irgendwo in der Mitte liegen. Allein das Wissen darüber, dass Bluffen ein wichtiger Bestandteil des sozialen und damit auch des universitären Lebens ist, kann dazu beitragen, damit besser zurechtzukommen und die positiven sowie negativen Effekte für sich zu nutzen.
Hat sich der Blick für die größeren und kleineren Bluffs im Unialltag geschärft, wird deutlich, wie wenig Kommiliton*innen oder Kolleg*innen in Gesprächen oder während Diskussionen nachhaken oder Verständnisfragen stellen. Die meisten Bluffs kommen daher unbemerkt durch. Da Kommunikation in vielen Fällen dadurch erfolgreich verläuft, dass eben nicht nachgefragt wird, wie etwas gemeint ist, kann es unter Umständen zu unangenehmen Situationen kommen, wenn es doch einmal geschieht. Betretenes Schweigen oder peinliches Berührtsein sind Reaktionen, die üblicherweise lieber gemieden werden. Aber gerade bei akademischen Auseinandersetzungen kommt es auf begriffliche und konzeptionelle Details an. Klarheit über den Begriffsapparat ist daher eine wichtige Voraussetzung für den Erkenntnisgewinn.
Aus diesem Grund sind diejenigen zu beglückwünschen, die gelernt haben nachzufragen und keine Angst vor dem vermeintlichen Gesichtsverlust haben, auch im höheren Semester oder bei vorangeschrittener Promotion Fragen zu stellen. Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, wenn Betreuende, Kolleg*innen und Lehrende dazu beitragen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Fragenstellen kultiviert wird. Denn auch in der Promotion – und vielleicht gerade für diese – gilt: Wer nicht fragt, bleibt dumm.
* Der Artikel erschien zuerst im openD-Magazin:
https://www.opend.org/read/selbstdarstellung