Wie in dem vorangegangenen Beitrag zu den Besonderheiten holakratischer Formalisierung herausgearbeitet wurde, unterscheidet sich die holakratische von der klassischen Formalisierung durch ihre Iterativität, hohe Spezifität und rekonfirmative Wirkung. Durch die stetigen Iterationen der Formalisierung gewinnen holakratische Organisationen eine hohe Elastizität und können sich an sich schnell ändernde Umweltbedingungen anpassen. Die Spezifität holakratischer Formalisierung ermöglicht Organisationsmitgliedern eine Klarheit darüber, welche formalen Erwartungen an sie selbst und an andere gestellt werden können. Schließlich führt die rekonfirmative Wirkung holakratischer Formalisierung dazu, dass Mitglieder bei jeder Iteration der Formalisierung die spezifische Formalstruktur mitgestalten können. Eine genuine Motivation der Mitglieder, der Formalstruktur zu folgen und Mehrleistung zu erbringen, kann dadurch ermöglicht werden.
Wie lässt sich nun aber erklären, dass trotz Klarheit Unsicherheiten in der alltäglichen Arbeit mit Holacracy entstehen? Weswegen wird, obwohl die holakratische Formalisierung die Leistungsmotivation fördern kann, Dienst nach Vorschrift praktiziert? Diese und weitere ungewollte Nebenfolgen holakratischer Formalisierung stehen im Fokus der folgenden Abschnitte.
Verunsicherung angesichts eines umfangreichen Regelwerks?
Der Anspruch des holakratischen Managementmodells ist, dass die Verfassung den Mitarbeiter:innen eine hohe Sicherheit bezüglich ihrer Rechte und Pflichten vermittelt. Durch die Rollen sollen, so die Vorstellung, Aufgaben und Zuständigkeiten der Mitarbeiter genau bestimmt werden. Dadurch soll allen Mitarbeiter:innen klar sein, was von ihnen selbst und von anderen erwartet werden kann. Diese Klarheit der Erwartungen verhindere Missverständnisse und Enttäuschungen, die sonst nicht nur zum Übersehen von Aufgaben führen würden, sondern auch zur Frustration der Mitarbeiter:innen. Ebenso hemme dies die impliziten Machtstrukturen und ermächtige stattdessen den transparenten Prozess und die daraus resultierenden Erwartungen und Autoritäten (Robertson, 2015: 38ff.).
Paradoxerweise kann aus der holakratischen Formalisierung gleichzeitig eine Unsicherheit bei Mitgliedern im Umgang mit Holacracy resultieren. Es ist durchaus vorstellbar, dass es in der Anfangsphase nach Eintritt in die Organisation zu einer Verunsicherung kommt – schließlich müssen die umfangreichen und eventuell neuen „Spielregeln“, die womöglich ungewohnte Form der Abbildung der Organisation durch Kreise und Rollen und ihre detaillierte und möglicherweise bisher unbekannte Definition durch Purposes, Zuständigkeitsbereiche und Aufgaben zunächst einmal kennengelernt werden. Anders als bei der Unsicherheit, die in dieser Phase vorherrschen kann, verschwindet die Unsicherheit, die aus der holakratischen Formalisierung resultiert, jedoch nicht nach der Einarbeitung oder nach dem Besuch einiger Holacracy-Workshops. Vielmehr kann sich die Verunsicherung in der Arbeit mit Holacracy als ein Dauerzustand erweisen.
Die Ursache für diese permanente Unsicherheit der Mitglieder liegt darin, dass die holakratische Organisation darauf ausgerichtet ist, sich mit ihrer Formalstruktur stetig an sich ändernde Anforderungen der Umwelt anzupassen. Durch ständige Iterationen der Formalisierung wird zwar eine hohe Elastizität der formalen Struktur der Organisation erreicht – die hohe Elastizität geht allerdings auf Kosten der Berechenbarkeit der Organisation. Mitglieder müssen dann eigene Mechanismen im Umgang mit der mangelnden Erwartungssicherheit entwickeln. Die Unsicherheit der Mitglieder kann darauf zurückgeführt werden. Die Transparenz, die durch softwarebasierte Dokumentation der formalen Struktur erreicht werden soll, hilft nur bedingt, denn nicht der Umfang und ein möglicherweise daraus resultierender Verlust des Überblicks der Formalstruktur, sondern deren permanente Veränderung bietet Mitgliedern wenig Orientierung.
Verschärfung von Rollenkonflikten durch multiple Rollen
Das Konzept der Holacracy strebt die Trennung von Person und Rolle an (ebd.: 40ff.). Zunächst werden Rollen definiert, die zur Erfüllung des Purposes der Organisation benötigt werden (ebd.: 40). Erst in einem zweiten Schritt werden den Rollen Personen zugeordnet (ebd.). Durch diese starke Differenzierung und flexiblere Kombination der Rollen soll eine größere Passgenauigkeit zwischen Rolle und Person ermöglicht werden. In holakratischen Organisationen muss ein Mitglied nicht einen festen Satz an Erwartungen erfüllen, die z.B. mit einer bestimmten Stelle einhergehen, sondern kann, basierend auf seinen Fähigkeiten und Interessen, verschiedene Rollen in verschiedenen Bereichen ausfüllen. Wie auch im Leben außerhalb der Organisation, so Robertson, kommt es ganz natürlich dazu, dass Mitglieder multiple Rollen einnehmen (ebd.: 41).
In holakratischen Organisationen werden die einzelnen Rollenerwartungen innerhalb der Kreise klar definiert. Wie diese Erwartungen jedoch koordiniert werden, die schließlich innerhalb eines Mitglieds mit multiplen Rollen zusammenkommen, bleibt offen. Das Mitglied muss eigene Mechanismen finden, seine Rollen zu trennen und zwischen ihnen zu wechseln, wenn keine gesonderte Rolle in der holakratischen Organisation geschaffen wird, die für die Abstimmung der Gesamtheit der Rollenerwartungen der jeweiligen Mitglieder zuständig ist. Zu klären wäre dann z.B., wieviel Zeit das Mitglied für seine einzelnen Rollen aufbringen kann bzw. muss, um den Erwartungen dieser sowie anderer Rollen gerecht werden zu können.[1]
Ebenfalls unklar ist, wie das Mitglied unvoreingenommen Rollen ausüben kann, deren Erwartungen in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Die Trennung von Rolle und Person hat zudem die Folge, dass es dem Zufall überlassen wird, welche Rollen in einer Person aufeinandertreffen (Luhmann 1964: 67). Hierbei stellt vor allem die Trennung und der Wechsel zwischen formalen und informalen Rollen ein Konfliktpotenzial dar. Zum einen muss das Mitglied, das die Rolle innehat, eigene Mechanismen im Umgang mit der Trennung und dem Wechsel zwischen den Rollen entwickeln. Zum anderen können sich andere Mitglieder faktisch nicht nur an den Rollenerwartungen orientieren, sondern müssen auch die Personenerwartungen des Mitglieds berücksichtigen, das die Rolle ausfüllt.
Zwar kennen auch nicht-holakratische Organisationen derartige Rollenkonflikte, jedoch verschärfen sich diese in holakratischen Organisationen aufgrund der hohen Spezifität holakratischer Formalisierung in zweifacher Hinsicht. Die Vielfalt der Erwartungen, die an das Mitglied in einer holakratischen Organisation gerichtet werden, nimmt mit der Anzahl seiner Rollen in den diversen Kreisen zu. Je unterschiedlicher dabei die Erwartungen seiner multiplen Rollen sind, desto schwieriger gestaltet sich die Trennung und der Wechsel zwischen den Rollen für das Mitglied. Aufgrund der Spezifität der holakratisch formalisierten Erwartungen verkleinert sich der Spielraum der Auslegung und Vereinbarung der Rollen, die innerhalb eines Mitglieds zusammenkommen. Besonders bemerkbar wird dies bei sich widersprechenden Rollenzwecken oder konkurrierenden Rollenerwartungen. Auch wenn durch Priorisierungshilfen des Lead Links bei Konflikten von Rollen des Kreises oder Hilfestellung durch eine eigens dafür geschaffene Rolle bei kreisübergreifenden Rollenkonflikten eines Mitglieds dieses Folgeproblem in bestimmten Fällen gelöst oder zumindest abgemildert werden kann, wird das Mitglied diesen Konflikten in der Regel selbst überlassen. Klar ist, dass wenn das Mitglied den jeweiligen Rollen aufgrund solcher Konflikte nicht gerecht wird, ihm die Rollen entzogen werden können. Dies stellt eine Möglichkeit dar, wie in einer holakratischen Organisation mit diesen Konflikten umgegangen werden kann. Allerdings würde dies faktisch zum Unterwandern des holakratischen Prinzips der Offenheit und Flexibilität der Rollenfüllung führen. Darüber hinaus verschärfen sich in holakratischen Organisationen die Rollenkonflikte, die bei der Trennung und dem Wechsel zwischen formalen und informalen Erwartungen auftreten können. Die starke Betonung der Unterscheidung zwischen Rolle und Person hat nicht nur zur Folge, dass personenbezogene Erwartungen im Impliziten verbleiben. Vielmehr kann diese starke Betonung zur Negation von Personenerwartungen führen, die dann weder explizit noch implizit adressiert werden können.
Reduzierung von Initiativen jenseits der formalen Struktur
Das holakratische Organisationsmodell ist darauf ausgelegt, dass jedes Organisationsmitglied die Möglichkeit hat, Initiativen zu ergreifen. Jedes Mitglied habe das Recht, so das Prinzip, eine Handlung durchzuführen, solange durch die Formalstruktur keine konkurrierenden Prioritäten festgelegt werden und der Zuständigkeitsbereich einer anderen Rolle oder eines anderen Kreises nicht tangiert werde (Robertson 2015: 70). Es sei sogar auch möglich, Initiativen zu ergreifen, die gegen die Formalstruktur verstoßen, wenn ein Mitglied der begründeten Überzeugung ist, dass die zeitliche Verzögerung durch das Einholen einer Ermächtigung von der Rolle oder dem Kreis, in deren oder dessen Zuständigkeitsbereich das Ausüben der Initiative fallen würde, zu einem Verlust der potenziellen Wirkkraft der Aktion führen würde (ebd.: 73f.). Dies ermögliche holakratischen Organisationen, sich an sich rasant ändernde Anforderungen der Umwelt anzupassen (ebd.).
Gleichzeitig wird jedoch durch die holakratische Formalisierung das dazu entgegenwirkende Prinzip ermöglicht. Entgegen dieser postulierten Prinzipien kann es in holakratischen Organisationen dazu kommen, dass Mitglieder das Ergreifen von Initiativen meiden und sich stattdessen auf ihre Rollenerwartungen, die explizit in ihrer Rollenbeschreibung der Governance stehen, zurückziehen. Der Spielraum für Handlungen wird dann nicht voll ausgenutzt. Handlungen werden an den expliziten und konkreten Erwartungen orientiert, obwohl zunächst einmal alles erlaubt ist, was nicht explizit verboten ist und selbst für Handlungen, die eigentlich verboten sind, Möglichkeiten bestehen, diese dennoch auszuführen. Zwar mag es Fälle geben, in denen Mitglieder das holakratische Prinzip, bei dem auch außerhalb der eigenen Rollenerwartungen Handlungen möglich und sogar erwünscht sind, missverstehen oder noch nicht verinnerlicht haben. An dieser Stelle wird der Fokus jedoch auf die holakratische Formalisierung und ihre ungewollten Nebenfolgen gelegt.
Die hohe Spezifität der holakratischen Formalisierung hat zur Folge, dass sich die Indifferenzzone verkleinert, da bis ins Detail genau entscheidbar wird, was als formal gilt und was nicht. Dadurch entsteht für Organisationsmitglieder einerseits die Möglichkeit, ausschließlich die Aufgaben zu erfüllen, die in ihrer Rollenbeschreibung explizit definiert sind. Das Ergreifen von Initiativen jenseits der formalen Struktur kann andererseits eindeutig als nicht formale Erwartung identifiziert und daher vernachlässigt werden. Mitglieder, die sich auf ihre Rolle zurückziehen und nicht in die Initiative gehen, bewegen sich im Rahmen des formal legitimen. Sie können daher ausschließlich die Rollenerwartungen erfüllen, die in ihrer Rollenbeschreibung in der Governance definiert sind, ohne ihre Mitgliedschaft formal zu riskieren. Hinzu kommt, dass sie die Formalstruktur aufgrund der rekonfirmativen Wirkung der holakratischen Formalisierung bei jeder Iteration mitgestalten können. Dadurch entsteht für sie neben der Möglichkeit zu Dienst nach Vorschrift außerdem die Möglichkeit, die Vorschrift, der sie sich verpflichten, auch selbst zu konzipieren.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Iterativität holakratischer Formalisierung ermöglicht Organisationen, sich schnell an sich wandelnde Umweltbedingungen anzupassen. Ihre hohe Spezifität schafft eine Klarheit der formalen Rollen, Zuständigkeitsbereiche und Aufgaben. Durch ihre rekonfirmative Wirkung kann genuine Motivation des Mitglieds zur Unterwerfung unter die Formalstruktur sowie Motivation zu Mehrleistung ermöglicht werden. In diesem Beitrag wurde die andere Seite der Medaille, die der ungewollten Nebenfolgen holakratischer Formalisierung beleuchtet. Es wurde dargestellt, dass die Iterativität der holakratischen Formalisierung auch zu einer ständigen Unsicherheit der Mitglieder im Umgang mit Holacracy im organisationalen Alltag führen kann. Die hohe Spezifität kann zum einen dazu führen, dass sich Rollenkonflikte verschärfen. Zum anderen kann aus der hohen Spezifität die ungewollte Nebenfolge resultieren, dass Mitglieder Dienst nach Vorschrift praktizieren. Verschärfend kann darüber hinaus hinzukommen, dass durch die rekonfirmative Wirkung der holakratischen Formalisierung Mitglieder diese Vorschrift, auf die sie sich zurückziehen, ohne ihre Mitgliedschaft formal zu gefährden, auch selbst gestalten können.
Da die holakratische Formalisierung den Ausgang der dargestellten Folgen bildet, lag in dem vorangegangenen sowie in diesem Beitrag der Fokus auf der formalen Seite der Organisation. Offen bleibt weiterhin, welche formalen Instrumente holakratische Organisationen entwickeln, um den ungewollten Nebenfolgen entgegenzuwirken und welche Folgen sich wiederum aus diesen für die jeweiligen Organisationen und ihre Mitglieder ergeben. Ebenfalls Gegenstand zukünftiger Untersuchungen bleibt die Frage nach den Auswirkungen gewollter und ungewollter Folgen holakratischer Formalisierung auf Organisationen und ihre Mitglieder auf der informalen Seite der Organisation.
[1] Dass Mitglieder multiple Rollen in diversen Kreisen innehaben können und sich durch ihre individuellen Rollenkombinationen von anderen Mitgliedern abgrenzen, beschreibt Simmel auf der gesellschaftlichen Ebene als Individualisierung (Simmel 1908: 403ff.). Beck erläutert ferner, dass die Individualisierung zu einer Mehrbelastung des Individuums führen kann, weil es durch seine Rollenkombination einzigartig ist und sich in seinem Handeln daher diesbezüglich nicht an anderen orientieren kann (2016: 216ff.).
Literaturverzeichnis
Beck, Ulrich (2016): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.
Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York: Holt.
Simmel, G. (1908). Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker & Humblot.
(Bild: Evonne)