Zur Ausbildung informale Strukturen in holakratischen Unternehmen
Als typische Probleme klassischer Organisationen werden von Holakraten unproduktive Machtkämpfe, die alltäglichen Küngeleien und die vorrangige Informationsweitergabe über Buschfunk angesehen. Neben den formalen bildeten sich in klassischen Organisationen, so deren Beobachtung, immer auch vielfältige informale Strukturen aus, die häufig nicht thematisiert werden könnten (siehe dazu Rüther 2018, 9f.).[1]
Das Versprechen der Holakraten ist, dass in ihrem Organisationsmodell durch die permanente Optimierung der formalen Erwartungen die formale und die informale Struktur weitgehend deckungsgleich gemacht werden können.[2] Statt eines formalen Organigramms, das lediglich auf dem Papier existierte, und einem informalen Organigramm, das zeigen würde, wie die Organisation real existiert, gäbe es dann nur noch ein für alle verbindliches formales Organigramm (siehe dazu Groth 2013).[3]
Die Grundidee besteht darin, dass alle zentralen Erwartungen in einer Organisation für alle sichtbar so formalisiert werden sollen, dass sich keine Schattenstrukturen ausbilden können. Ähnlich wie in dem Betriebssystem eines Computers alle Anforderungen in einem Code niedergelegt werden, müssen auch in der Holacracy als Betriebssystem in Organisationen alle zentralen Prozesse und Kompetenzen in der Steuerungssoftware hinterlegt werden.
Wie plausibel ist diese Vision einer weitgehenden Deckungsgleichheit zwischen formalen und informalen Strukturen in einer Organisation?
1. Die Ausbildung von Schattenstrukturen in holakratischen Organisationen
Für die klassischen, auf der Abgrenzung zwischen Abteilungen und der Ausbildung von Hierarchien basierenden Organisationen ist durch die Organisationsforschung herausgearbeitet worden, dass die formale Erwartungsbildung immer durch eine informale Erwartungsbildung ergänzt wird. Viele Erwartungen in Organisationen, so die Beobachtung, ließen sich gar nicht formalisieren, sodass es zwangsläufig zur Ausbildung ergänzender und konkurrierender informaler Erwartungen käme. Weitergehend seien viele formale Erwartungen in Organisationen für viele Situationen gar nicht passend, sodass sich abweichende informale Erwartungen ausbilden (Luhmann 1964, 27f.).
Wie stellt sich dieses Wechselverhältnis von Formalität und Informalität in Organisationen dar, die sich in einer holakratischen Verfassung der Auflösung von Abteilungen und der Aufweichung von Hierarchien verschreiben?
Die Entstehung von Schattenabteilungen
In der holakratischen Organisation werden komplexere Prozesse der Arbeitsteilung durch das Prinzip der Kreise ersetzt. In der Vorstellung der Holakraten ist jeder Keis eine sich selbst organisierende Einheit mit eigenen Rechten. Sie werden dann gebildet, wenn eine Aufgabe nicht durch eine Rolle allein ausgeübt werden kann und eine systematische Koordination zwischen mehreren Rollen notwendig ist. Auf den ersten Blick mögen die Kreise in holakratischen Organisationen den Abteilungen in klassischen Organisationen ähneln. Auf den zweiten Blick wird das Prinzip der Abteilungen jedoch formal dadurch unterlaufen, dass ein Organisationmitglied mit ganz unterschiedlichen Rollen in verschiedenen Kreisen tätig sein kann (siehe dazu Mitterer 2015). Dadurch werden die Mitarbeiter nicht einer Abteilung sondern unterschiedlichen Kreisen zugeordnet und so werden – jedenfalls in der Vorstellung der Holakraten – die sonst zu beobachtenden typischen Silobildungen unterlaufen.
Aus einer organisationssoziologischen Perspektive ist jedoch interessanter, dass die holakratische Kreisstruktur in vielen Organisationen letztlich eine klassische Abteilungsstruktur widerspiegelt. Bei den meisten holakratischen Organisationen scheinen Mitglieder mit einer „Hauptrolle“ – zum Beispiel als Programmierer, als Finanzverwalter oder Personalmanager – eingestellt zu werden.[4] Das führt dazu, dass in den meisten Fällen die überwiegende Arbeitszeit in einem Kreis abgeleistet wird. In diese Kreise können auch Personen mit „Hauptrollen“ in anderen Kreisen aufgenommen werden, aber die nehmen dann zwangsläufig eher zuarbeitende oder beratene Funktionen ein.[5]
In der holakratischen Steuerungssoftware sind diese faktisch existierenden Abteilungen häufig auf den ersten Blick nicht erkennbar, aber durch in einen zweiten Blick in die Organisation dann doch zu identifizieren. Wenn die Organisation neue Räume bezieht, dann bilden die Mitglieder, die häufiger zusammenarbeiten, eine Tischgruppe, auch wenn ihre regelmäßige Kooperation nicht durch einen Kreis abgebildet wird. Die Tischgruppen geben sich dann eigene Namen und schmücken ihre Tischgruppe mit Symbolen, die markieren, dass die Mitarbeiter hier zu einer Abteilung gehören, die offiziell als Abteilung gar nicht existiert.[6]
Besonders deutlich wird die Ausbildung von Abteilungen im operativen Kern – also dem wertschöpfenden Zentrum der Organisation. Gerade in projektbasierten Firmen, die über die holakratische Organisationskonzeption geführt werden, sind die operativen Bereiche häufig auffällig „holacracy-arm“.[7] Die Projetteams werden nicht – oder nur rudimentär – in der holakratischen Organisationsstruktur abgebildet, sondern stattdessen vorrangig über eine eigene Projektmanagementsoftware koordiniert. Die Projektsteuerung findet dann nicht selten über einen Projektmanager statt, der gegenüber den Kunden verantwortlich ist und die Aufgaben an einzelne Teams oder Teammitglieder verteilt.[8]
Dabei kann in holakratischen Organisationen die Silobildung durch die Steuerung über „Dashboards“ – Management-Cockpits, in denen zentrale Kennziffern abgebildet werden – noch verstärkt werden.[9] Die Leistungsdaten – zum Beispiel beim Kunden verrechnete Stunden – werden dabei für die Projektteams systematisch erhoben. Der Effekt ist, dass sich die Teams vorrangig auf die Erreichung der vorgegebenen Leistungsziele konzentrieren und sich vom Rest der Organisation abkapseln.[10]
Das kann zum paradoxen Effekt führen, dass die Aufsetzung agiler Projektstrukturen in einer Organisation deren holakratische Grundprinzipien unterläuft. Es werden ganz im Sinne der agilen Projektmanagementlogik feste Teams gebildet, die sich mit Hilfe von Scrum-Mastern und Product-Ownern selbststeuern, sich täglich in Stand-Up-Meeting mit den immer gleichen Mitarbeitern abstimmen und in Retrospektiven über Schwierigkeit mit anderen Team-Mitgliedern abstimmen. Diese agilen Arbeitsformen unterlaufen mit ihrer Ausbildung fester Teams, die ihre eigenen Silos bilden, die holakratische Struktur.[11]
Die Ausdifferenzierung von Schattenhierarchien
In der holakratischen Verfassung ist – aller Anti-Hierarchie-Rhetorik zum Trotz – eine hierarchische Grundstruktur angelegt.[12] Der Ankerkreis – letztlich die Spitze der Organisation – legt die Lead Link Positionen in allen untergeordneten Kreisen fest. Weil in dem Ankerkreis die Unternehmensgründer, die Kapitalbesitzer und ehemaligen Manager eine wichtige Rolle spielen, gibt es die Möglichkeit, über die Besetzung der Lead Link Positionen Einfluss auf die Arbeit in den untergeordneten Kreisen zu nehmen. Zentral ist dabei jedoch, dass es sich von der holakratischen Grundidee her nicht um eine personenbezogene, sondern um eine rollenbezogene Hierarchie handelt (siehe dazu auch Riederle 2017, 119f.). Das heißt, die Einflussmöglichkeiten des Lead Links bezieht sich von der Grundidee her nur auf die Person ihrer Funktion als Rollenträgerin in einem Kreis, nicht auf die Person als Ganzes. Gerade wenn Organisationsmitglieder unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Kreisen einnehmen, gibt es in dieser rollenbezogenen Hierarchie in der formalen Struktur kaum noch Ähnlichkeiten mit den personenbezogenen Hierarchien klassischer Organisationen.
Interessant ist dann zu sehen, dass sich häufig im Schatten der holakratischen Formalstruktur eine personenbezogene Hierarchie ausbildet. In der einfachsten Variante findet sie – holakratisch korrekt – durch die Kombination von zentralen Rollen bei einzelnen Personen statt. In dem Moment, wo eine Person die Rollen des Unterschriftengebers für zentrale Aufträge, des internen Arbeitsverteilers, des Entscheiders über Gehaltserhöhungen und die des finalen Entlassers innehat, kommt es faktisch zu einer Art personaler Führung durch diesen Rollenträger.
In kleineren holakratischen Organisationen wirken die Schattenhierarchien häufig unmittelbar. Die zentralen Rollen werden von den Gründern eingenommen, die sich informal koordinieren. Wenn die Gründer die Mehrheit des Kapitals an der Firma halten, wissen alle Mitarbeiter, dass diese mit einem Federstrich die holakratischen Prinzipien wieder zurücknehmen können und antizipieren das in ihren Entscheidungen. Die Mitarbeiter treffen die Entscheidungen so, wie diese vermutlich von den Gründern getroffen worden wären oder sprechen diese mit den Gründern ab, sodass diese Entscheidungen am Ende nur noch holakratisch abgesegnet werden müssen.[13]
In größeren holakratischen Organisationen kann sich dann im Schatten einer auf Rollen basierten stark abgeschwächten hierarchischen Grundstruktur eine auf Personen bezogene hierarchische Parallelstruktur ausbilden. Dafür werden weniger erfahrene Mitarbeiter jeweils einem erfahrenen Mitarbeiter zugeordnet. Diese erfahrenen Mitarbeiter – je nach Organisation als „Personnel Excellence Leads“ oder „Human Success Advisors“ genannt – sind dann für das Fordern und Fördern der ihnen zugeordneten Mitarbeiter zuständig. Dadurch entsteht eine durch die holakratische Grundstruktur nur schwer erkennbar informale personenbezogene Hierarchie. Die „Personnel Excellence Leads“ oder „Human Success Advisors” beraten die Mitarbeiter nicht nur bezüglich ihrer Entwicklung in der Organisation, sondern tragen auch zu Entscheidungen über Gehaltssenkungen oder -steigerungen bei und haben maßgeblich Einfluss darauf, ob einer ihnen zugeordneten Person gekündigt wird oder nicht. Die Mitarbeiter, die die Rolle des „Personel Excellence Leads“ oder „Human Success Advisors“ einnehmen, sind dabei in der Regel für acht bis zwölf Organisationsmitglieder verantwortlich und müssen aber aufgrund ihrer Führungsaufgaben geringere Anteile ihrer Arbeitszeit beim Kunden fakturieren. Die Ähnlichkeit zum klassischen Modell der Hierarchie mit disziplinaren Vorgesetzten, die sich neben einer Struktur fachlicher Vorgesetzter ausbildet, ist nicht zu übersehen.[14]
2. Die Sache mit der Transparenz
Während in vielen klassischen Organisationen Transparenzansprüche lediglich auf der Schauseite eine Bedeutung haben, werden sie in holakratischen Organisationen operativ umgesetzt. Durch die holakratische Software sind für alle Mitarbeiter alle Überlegungen, Diskussionsprozesse und Entscheidungen in der Organisation jederzeit einsehbar. Diese Transparenz bezieht sich nicht nur auf die Kreise, in denen man selbst aktiv ist, sondern auch auf alle anderen Kreise. Transparenz ist in holakratischen Organisationen aufgrund der Steuerung über die Betriebssoftware fast idealtypisch umgesetzt.
Der Transparenzanspruch beschränkt sich dabei vielfach nicht nur auf die durch die holakratische Verfassung vorgegebenen Prozesse, sondern wird nicht selten auch auf andere zentrale Prozesse ausgeweitet. Über die Softwareprogramme der Organisation können die Mitarbeiter vielfach nicht nur auf die finanzielle Situation der Organisation und den Stand aller Projekte zugreifen, sondern auch auf die Qualifikation und die Entlohnung aller Mitarbeiter.
Wie wirken sich Transparenzansprüche in der Praxis holakratischer Organisationen aus?
Die Ausbildung von Hinterbühnen
Bei allen hehren Ansprüchen lässt sich beobachten, dass in holakratischen Organisationen im Schatten der auf Transparenz ausgerichteten Vorderbühne zentrale Fragen auf intransparenten Hinterbühnen geklärt werden. Wichtige Entscheidungen werden nicht in der holakratischen Struktur diskutiert, sondern in geschlossenen Channels im organisationsinternen Kommunikationssystem vorentschiedenen. Die durch die Einführung der holakratischen Verfassung sich selbst wenigstens formal entmachtenden Gründer treffen sich in organisationsexternen Messenger-Diensten, in denen Entscheidungen für die holakratische Organisation vorbereitet werden. Es werden jenseits der offiziellen Ablagesysteme schwarze Listen von Mitarbeitern geführt, von denen sich die Organisation trennen sollte.
Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass durch starke Transparenzansprüche geprägte Organisationen ausgeprägte Kulturen informaler Abstimmungen ausbilden. Statt Dokumente auf offiziellen Laufwerken abzulegen, werden auf dem eigenen Computer gesonderte Listen und Pläne geführt, die nicht ohne Weiteres einsehbar sind. Statt sich kurz schriftlich zu verständigen, stimmt man sich über relevante Punkte nur noch in Face-to-Face-Kommunikationen ab, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit geringer ist, dass Spuren in den Akten hinterlassen werden. Es bilden sich „Sofa-Kulturen“ heraus, in denen Abstimmungen nicht mehr in formalen, protokollierten Sitzungen, sondern nur noch in informalen, nicht dokumentierten Zirkeln stattfinden (siehe dazu die Fallstudien von z.B. von Roberts 2006; Ringel 2018b).
Das Transparenzparadox holakratischer Organisationen
In der Organisationsforschung wird der Effekt als Transparenzparadox bezeichnet. Je stärker Transparenz in der Organisation eingefordert wird desto stärker sind die Bemühungen des Versteckens. In der Formalstruktur wird in den durch Transparenzmaßnahmen erfassten Organisationen alles zugänglich gemacht. Prozesse sind allgemein einsehbar, Dokumente sind zugänglich und Anweisungen werden in Aktennotizen niedergelegt. Es bilden sich ausgeprägte „Ankreuz-Kulturen“ aus, in denen Organisationsmitglieder permanent bezeugen müssen, dass sie eine Information zur Kenntnis genommen, eine Prozedur beachtet oder eine Handlung ausgeführt haben (siehe dazu einschlägig O’Neill 2010).[15]
Begleitet wird dies jedoch in der Informalstruktur von immer undurchsichtigeren Informations- und Dokumentationsprozessen. Es werden bewusst Aktenwüsten produziert, in denen sensible Informationen unauffindbar sind, oder oberflächliche Power-Point-Präsentationen werden als Protokolle abgelegt, um genaue Dokumentationen zu verhindern, und sensible Kommentare werden mit Post-It-Notes angebracht, weil diese vor einer Archivierung entfernt werden können (siehe zu diesen Strategien Hood 2007, S. 204). Das Ergebnis der Bemühungen um interne Transparenz ist dann nicht das erhoffte Verschwinden einer Hinterbühne der Organisation, sondern im Gegenteil die Ausbildung einer besonders geschickt versteckten Hinterbühne.[16]
Diese informalen Kommunikationswege können eine solche Dynamik entwickeln, dass im Schatten weitgehender Transparenz ganze Unternehmensteile ihren Ausstieg aus der Organisation vorbereiten. So kann es schon einmal passieren, dass in einer Beratungsfirma, die sich den holakratischen Transparenzkriterien verschreibt, ohne Wissen des Rests der Organisation Berater ihre eigene holakratische Beratungsorganisation planen, über Nacht alle anderen mit ihrem Ausscheiden überraschen und die Verbliebenen sich wundern, wie in einem holakratischen System, dass Spannungen und Planungen transparent machen soll, eine solche Abspaltung möglich ist.[17]
Holakratische Organisationen sind ein Musterbeispiel dafür, dass Organisationen gleichzeitig sehr viel transparenter und sehr viel intransparenter werden (siehe zu diesem Phänomen Osrecki 2015, S. 355).[18] Jedes Organisationsmitglied bekommt über die IT-Systeme tiefe Einblicke in die formalen Erwartungen der Organisation und muss gleichzeitig sehr viel Zeit dafür aufwenden, die gut versteckten informalen Erwartungen zu verstehen und zu nutzen.
3. Vorteile und Nachteile holakratischer Schattenstrukturen
Angesichts der Hyperformalisierung holakratischer Organisationen ist es organisationswissenschaftlich nicht überraschend, dass sich zur Kompensation vielfältige informale Strukturen ausbilden. Sicherlich, der Anspruch des holakratischen Organisationsmodells ist es, über die Identifikation von Spannungen die Dysfunktionalitäten der formalen Struktur zu thematisieren und durch Entscheidungen in eine verbesserte Struktur zu überführen. Dies ändert aber nichts daran, dass gerade an kritischen Punkten sich immer wieder entgegenlaufende informale Prozesse ausbilden.
Funktionalitäten einer Schattenstruktur
Wir kennen die Kompensation der Dysfunktionalitäten formaler Strukturen durch die Ausbildung von informalen Strukturen aus den sich auf abgegrenzte Abteilungen und ausgeprägte Hierarchien stützenden, hochformalisierten Organisationen. Die ausgeprägte Silobildung durch formal abgetrennte Abteilungen wird in der Informalität durch stabile „kurze Dienstwege“ ausgeglichen, über die die Zusammenarbeit der Abteilungen jenseits der Formalstruktur koordiniert wird. Die hierarchische Struktur der Anweisungen von oben nach unten und der Überwachung von Vorgesetzten wird dadurch abgemildert, dass die Entscheidungen, die oben getroffen werden, informal unten vorbereitet werden und dann durch eine unauffällige „Unterwachung“ von Vorgesetzten sichergestellt wird, dass oben die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
Der zentrale Unterschied dieser informalen Gegenbewegungen in holakratischen Organisationen – und das ist die für die Organisationswissenschaft zentrale Einsicht – besteht darin, dass aufgrund der proklamierten formalen Abschaffung von Hierarchien und Abteilungen sich diese dann informal ausbilden. Während in den auf eindeutiger Zuordnung von Personen in Abteilungen basierenden Organisationen sich vielfältige informale Abstimmungen über Abteilungsgrenzen hinweg etablieren, kann man in holakratischen Organisationen beobachten, wie sich angesichts der formal festgelegten Offenheit von Kreisen informale Schließungsmechanismen ausbilden. Während in den auf eindeutige Zuordnung von Personen in hierarchisch angeordneten Kommunikationswegen basierenden Organisationen der informale Ausgleich in der Ausbildung der formalen Hierarchie entgegenlaufender informaler Unterwachungsprozesse von Vorgesetzten besteht, bilden sich in holakratischen Organisationen den formalen Egalisierungsprozessen entgegenlaufende informale Hierarchien aus.[19]
Die Schattenstrukturen holakratischer Organisationen erfüllen eine wichtige Funktion. Sie führen in der Informalität mit der Ausdifferenzierung von abgeschlossenen Abteilungen und der Ausbildung personaler Hierarchien Prinzipien wieder ein, die zwar im holakratischen Managementdiskurs diskreditiert sind, aber trotzdem für die Organisation wichtige Funktionen haben. Die Ausdifferenzierung von Abteilungen mit klarer Zuordnung von Personen stellt sicher, dass sich Organisationsmitglieder auf ein Unterziel der Organisation konzentrieren können, ohne dass ihre Aufmerksamkeit durch andere Unterziele der Organisation abgelenkt wird. Die Ausbildung personaler Hierarchie ermöglicht, dass auch für die Organisation unangenehme Entscheidungen schnell getroffen und umgesetzt werden können.
Die Dysfunktionalität der Schattenstruktur
Aber diese Ausbildung informaler Strukturen bringt zwangsläufig auch Dysfunktionalitäten für die Organisation mit sich. Gegenüber klassischen Organisationen haben sich die tabuisierten organisationalen Abläufe grundlegend verändert. In klassischen Organisationen ist es möglich, sich in den internen Abstimmungen auf die Prinzipien der Abteilung und der Hierarchie zu beziehen. Bei aller Antiabteilungs- und Antihierarchierhetorik auf der Schauseite der klassischen Organisationen ist breit akzeptiert, dass sich Abteilungen auf ihre Arbeit konzentrieren und dass hierarchisch Vorgesetzte, unangenehme Entscheidungen treffen. In holakratischen Organisationen werden aber durch die Unterzeichnung der Verfassung die Prinzipien der Abteilungs- und Hierarchiebildung formal so stark blockiert, dass es in den internen Prozessen nicht möglich ist, sich auf diese nur noch in der Informalität existierenden Mechanismen zu beziehen.
Das Hauptproblem des von den formalen Erwartungen abweichenden informalen Handelns ist, dass es sich weitgehend der Rationalisierung entzieht (Luhmann 1964, S. 314). Abweichung von der holakratischen Formalstruktur können häufig gar nicht offen thematisiert werden. Gerade in Organisationen mit starken Schattenhierarchien kann zwar auf der Hinterbühne über den weit über die Formalstruktur hinausgehenden Einfluss der Gründer und Kapitalbesitzer geklagt werden, dieser kann aber nur mit einem hohen persönlichen Risiko in größeren Runden angesprochen werden.[20]
Wenn die Schattenstrukturen offen angesprochen werden, dann bekommen sie durch die Verpflichtung der Organisation auf die holakratische Verfassung aber fast zwangsläufig immer einen kritischen Unterton. Wenn sich in holakratischen Organisationen informale Abteilungen oder informale Hierarchien ausbilden, dann gehören diese nach der holakratischen Logik abgeschafft. Es ginge nicht, so der häufig zuhörende Tenor unter Holakraten, dass man sich die Prinzipien, die man mit der Holacracy abschaffen wollte, in der Informalität wieder einhandelt. Wenn also Schattenstrukturen existieren, die den holakratischen entgegenlaufen, dann müssten diese abgeschafft oder zumindest abgeschwächt werden. Effekt ist, dass dadurch die häufig funktionalen informalen Mechanismen noch weiter in den Tabubereich gedrängt werden.
Dadurch entsteht der Effekt, dass sich in holakratischen Organisationen, die als formales Grundprinzip die Bedeutung der Rolle über die Person stellt, in der informalen Erwartungsbildung der Person eine große Wichtigkeit zukommt. Das bringt für eine holakratische Organisation den Vorteil mit sich, dass Erwartungssicherheit nicht nur über Rollendefinitionen, sondern auch über Personenkenntnis hergestellt werden kann, macht die Organisation aber anfällig für den Wechsel von Personen. Im Grunde, so schon ein Gedanke von Niklas Luhmann, hebt „jede Abweichung von formalen Vorschriften“ die „Trennung von Amt und Person“ – oder holakratisch gesprochen von Rolle und Person – auf. Das macht das Handeln in einer Art und Weise persönlich, dass die Holakraten gerade verhindern wollen (zu dieser Argumentationsfigur Luhmann 1964, S. 313).
4. Über die Unmöglichkeit komplett durchformalisierter Systeme
Von holakratischen Praktikern wird die Ausbildung von Schattenstrukturen zwar zugestanden, sie werden aber als Schwäche in der Implementierung einer holakratischen Organisation angesehen. Da die Grundidee der Holacracy gerade die Verhinderung der Ausbildung von Abteilungssilos und die Auflösung einer personalen Hierarchie ist, werden diese informalen Kompensationen der holakratischen Struktur als Problem und nicht als Lösung angesehen. Die Vorstellung der holakratischen Praktiker ist, dass die informalen Strukturen, die den holakratischen Prinzipien widersprechen, durch die Artikulation von Spannungen thematisiert und dann holakratisch in Ordnung gebracht werden sollten.
Dahinter steckt der alte Traum im Management, dass sich die Organisationen durch immer geschicktere Formalisierungen soweit perfektionieren lassen, dass sie optimal an veränderte Umweltbedingungen angepasst sind. Dabei wird von den Promotoren zugestanden, dass der Weg zu einer für die Organisation optimalen Formalstruktur immer wieder durch Umsetzungshindernisse, Eingewöhnungsschwierigkeiten und Widerstandsbewegungen blockiert wird. Aber all dies dürfe nicht davon ablenken, dass Organisationen den Weg beschreiten. Wenn man Veränderungsprozess nur gut genug anlege, die Mitarbeiter nur ausreichend schule und die richtigen Berater engagiere, dann ließen sich die Schwierigkeiten bei der Umstellung bewältigen.
Aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive kann man an diesem Drang nach einer immer weiteren Perfektionierung Zweifel haben. Organisationen können nicht als ein „vollständig formalisiertes System“ existieren. Das liegt nicht an einem „Mangel an Perfektion“, sondern daran, dass eine Organisation in der alle Erwartungen formal abgebildet werden würden, „gar nicht lebensfähig“ wäre (Luhmann 1964, S. 27). Die Ausbildung informaler Strukturen, die den formalen Strukturen häufig entgegenlaufen, sind notwendige Ausgleichsbewegungen in der Organisation, um die Lebensfähigkeit bei allen Formalisierungsbestrebungen aufrechtzuerhalten.
Die Leistungsfähigkeit von Organisationen entsteht nicht vorrangig dadurch, dass alle an einer immer weiteren Perfektionierung ihrer Formalstruktur feilen, sondern dass eine hohe Sensibilität für das Spannungsverhältnis zwischen formalen und informalen Erwartungen in Organisationen herrscht. Statt in immer aufwendigeren, immer partizipativeren Verfahren die formalen Strukturen zu verändern, scheint die organisationale Geschicklichkeit vieler Mitglieder darin zu liegen, so zwischen formalen und informalen Erwartungen hin und her zu wechseln, dass die Organisation vorangebracht wird.
Literaturverzeichnis
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[1] Hier wählen Holakraten in ihren Einführungsseminaren den klassischen Einstieg bei der Propagierung neuer Managementkonzepte, indem sie Interessierte nach den typischen Problemen in ihren Organisationen fragen, um dann das holakratische Organisationsmodell als Lösung zu präsentieren.
[2] Es handelt sich dabei um eine Beschreibung des Anspruchs von Zappos, einer der holakratischen Vorreiterorganisationen, bei der Einführung der Methode Anfang der 2010er Jahre. Siehe dazu auch Hsieh 2010.
[3] Diese Hoffnung auf die Angleichung zwischen formalem und informalem Organigramm kann erklären, weswegen Holakraten mit einem Konzept wenig anfangen können, dass lange Zeit als ein zentraler Hebel zur Steuerung von Organisationen angesehen wurde – der Organisationskultur. Bei dem Ansatz zur Gestaltung der Organisationskultur handelte es sich um die Reaktivierung einer alten Steuerungsphantasie – dem Traum des Managements durch eine „kollektiven Programmierung des Geistes“ Hofstede 1980, S. 13.
[4] So die Aussage einer Mitarbeiterin in einem von uns untersuchten holakratischen Unternehmen.
[5] In holakratischen Kleinstorganisation mit einem Dutzend Mitarbeiter stellt sich die Situation anders dar. Hier bildet die in der Regel auffällig aufwendige holakratische Struktur die diffuse Arbeitsverteilung in Kleinstorganisationen – alle machen alles oder alle machen neben ihren Hauptaktivitäten noch vieles andere – wieder.
[6] Siehe die Beobachtung bei einem anderen von uns untersuchten holakratischen Unternehmen, in der die Bildung von Tischgruppen bei einem Einzug in ein neues Gebäude gut zu beobachten gewesen ist und sich die Tischgruppen eigene Namen gegeben haben.
[7] So die fast identische Aussage von zwei Mitarbeitern in einem weiteren von uns untersuchten holakratischen Unternehmen.
[8] Hier wäre es insbesondere in Bezug auf das holakratische Vorreiterunternehmen Zappos interessant zu sehen, ob die für das Unternehmen zentralen Bereiche, wie zum Beispiel IT, holakratisch gesteuert werden.
[9] So die Beobachtung einer Mitarbeiterin in einem von uns untersuchten holakratischen Unternehmen.
[10] Man kann das beobachten, wenn man bei der Untersuchung holakratischer Organisationen versucht, nicht nur mit „holakratischen Botschaftern“ zu sprechen, die für Ausbildung und Weiterbildung in Holacracy zuständig sind, sondern auch mit Mitgliedern, die im operativen Bereich tätig sind. Weil die ihre Stunden für ein Interview über Holacracy nicht ohne Weiteres verrechnen können, ist es vergleichsweise schwer, mit ihnen zu reden.
[11] Die informale Silobildung in holakratischen Organisationen kann dadurch aufgelockert werden, dass Mitglieder zusätzlich zu den Aktivitäten, mit denen sie den Großteil ihrer Zeit verbringen, in fachlich orientierten Gemeinschaften zusammengezogen werden. Dafür werden dann Kreise gebildet, in denen zum Beispiel der fachliche Austausch von Spezialisten aus verschiedenen Teams oder die Entwicklung von Weiterbildungsformaten stattfinden kann. Damit findet aber faktisch nichts anderes statt, als wenn in klassischen Organisationen Spezialisten, die operativ in interdisziplinären Teams tätig sind, in einer Parallelstruktur der fachliche Austausch mit anderen Spezialisten in dem Gebiet ermöglicht wird. Siehe dazu die kaum noch zu übersehenen Managementliteratur zur formalen Bildung von Communities of Practices, nur beispielsweise Wenger und Snyder 2000. Siehe als Einführung Wenger 1999.
[12] Zur Anti-Hierarchie-Rhetorik der Holakraten siehe schon den Untertitel der englischen Paperback-Version des Buches von Brian Robertson (2015): „The Revolutionary Management System that Abolishes Hierarchy“.
[13] Ein immer wieder thematisierter Effekt ergibt sich aus dem Gesellschaftsrecht, das die Geschäftsführung unabhängig von der internen Strukturierung der Organisation in Haftung nimmt. Die Verantwortung kann sich aber auch durch die Rechenschaftspflichten einer Geschäftsführung gegenüber externen Kapitalbesitzern ergeben, beispielsweise wenn ein Startup durch ein größeres Unternehmen gekauft wurde oder bei Banken Kredite aufgenommen hat.
[14] In einer von uns untersuchten Organisation brachte es ein Mitarbeiter auf den Punkt: „Human Success Advisors sind bei uns Menschen, die man in anderen Unternehmen Manager nennt“.
[15] Zur sogenannten Box-Ticking-Culture in Organisationen, siehe auch McGivern und Ferlie 2007 oder Larner und Mason 2014.
[16] Siehe zur Theorie der Transparenz und zur der Empirie über Piratenpartei einschlägig Ringel 2018a; Ringel 2018b
[17] Dieser Prozess wurde – in einer für Beratungsfirmen seltenen Transparenz – von einer Seite auch öffentlich dargestellt. Siehe den Artikel von Boos et al. 2017, der einem fast schon euphorischen Artikel über die Einführung der Holacracy zwei Jahre zuvor folgte; siehe Boos et al. 2015. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieser paradoxen Situation steht noch aus. Uns war es – trotz mehrfacher Versuche – nicht möglich, einen Zugang zur empirischen Untersuchung dieser holakratischen Beratungsfirmen zu bekommen.
[18] Siehe auch die empirisch eindrucksvolle Studie von Bernstein 2012. Für ein ähnliches Argument aus der Perspektive der Principal-Agent-Theorie siehe Prat 2005.
[19] Die Funktionalität der Schattenstruktur holakratischer Organisationen ist – hier stark kondensiert – das Hauptargument dieses Beitrags. Es würde sich lohnen, dieses Argument sowohl für die informale Ausbildung von Abteilungen als auch für die informale Ausbildung von Hierarchien näher auszuführen.
[20] Die Gründer wundern sich, weswegen bestimmte Gespräche in der Kaffee-Ecke verstummen, obwohl sie doch ihrer Meinung nach, einen erheblichen Teil ihrer Macht mit der Unterzeichnung der holakratischen Verfassung abgegeben haben.
Die zwangsläufigen Schlussfolgerungen bestätigen das (systematische) Postulat der Nicht-Steuerbarkeit von lebenden Systemen. Aus organisations-psychologischer Sicht liegt dem Holakratie-Modell ein Geburtsfehler zugrunde: Der Versuch, die Beziehungen zwischen Individuen auszuklammern bzw. zu neutralisieren, bildet ein Schizophrenie-Modell des Menschen ab: Beziehungen sind etwas privates, der Mitarbeiter hat lediglich eine Funktion zu erfüllen. Damit wird das Scheitern eines solchen Organisations-Modells zum Fehler im Quell-Code des Unternehmens.
[…] für Stäbe und Stabsmitglieder folgenlos bleiben. Die größte Gefahr ist allerdings die Schattenhierarchie. Typische Beispiele für Stabstellen sind die Assistenzen der Geschäftsführung, das Controlling […]
[…] für Stäbe und Stabsmitglieder folgenlos bleiben. Die größte Gefahr ist allerdings die Schattenhierarchie. Typische Beispiele für Stabstellen sind die Assistenzen der Geschäftsführung, das Controlling […]