Auskühlung – Über das Management von Erwartungen in Organisationen

Die Aussicht auf Aufstieg ist ein zentrales Motiv dafür, dass sich Personen über das formal erwartete engagieren. Die Möglichkeit auf eine studentische Hilfskraftstelle kann Studierende dazu motivieren, sich bei einzelnen Lehrenden besonders ins Zeug zu legen. Die Hoffnung auf eine Karriere in einem Unternehmen können Mitarbeiter dazu verleiten, Aufgaben zu übernehmen, die in der Stellenbeschreibung nicht vorgesehen sind.

Diese Motivationswirkung von in Aussicht gestellten Aufstiegen kann strategisch eingesetzt werden. Eine Dozentin lobt einen Studenten, der vielleicht noch gar nichts von seinen Fähigkeiten ahnt, und stellen die Unterstützung bei seiner wissenschaftlichen Karriere in Aussicht. Die Vorgesetzte in einem Unternehmen weist ihre Mitarbeiterin, die vielleicht erst einmal nur auf der Suche nach einem gut bezahlten Job war, auf die verschiedenen Karrierestufen einer Organisation hin, und erzeugt so einen zusätzlichen Motivationsschub. In der Soziologie wird dieses Phänomen der Weckung von Leistungsmotivationen bei Personen, die sich ihres Potenzials selbst nicht bewusst waren, als „Aufwärmung“ bezeichnet.[1]

Das Problem ist jedoch, dass es nicht nur hilfreich sein kann, Erwartungen zu wecken, sondern es nicht selten auch nötig ist, diese auch zu enttäuschen. [2] Gewiefte Trickbetrüger wissen, dass sie nach einem erfolgreichen Betrug ihre Opfer nicht allein lassen sollten, sie lassen einen so genannter „Cooler“ beim Opfer, der versucht das Opfer an seinen Verlust zu gewöhnen und allzu heftige Reaktionen zu verhindern.[3] In Nachtclubs und Singletreffs kann man beobachten, wie Frauen – und zunehmend auch Männer – Strategien entwickeln, um Verehrer auszukühlen. Diese Auskühlungsstrategien können von Verweisen auf einen festen Freund, dem folgenlosen Hinterlassen von (meistens falschen) Telefonnummern bis hin zu der plötzlichen Entdeckung der eigenen Homosexualität reichen, weil gerade diese als ein akzeptiertes Ablehnungsmotiv für andersgeschlechtliche Wesen gilt.[4]. Die „Henkersmahlzeit“ oder die „letzte Zigarette“, die einem zu Tode verurteilten Häftling vor der Exekution angeboten wird, hat eine ähnliche Funktion. Dadurch, dass der Todeskandidat die Mahlzeit oder Zigarette annimmt, wird der Delinquent an die Akzeptanz des Urteils herangeführt.[5] Die Strategie, um Personen an unangenehme Entscheidungen zu gewöhnen, hat der Soziologe Erving Goffman mit dem Begriff der „Auskühlung“ bezeichnet.[6]

In Organisationen werden Mechanismen der Auskühlung systematisch dafür genutzt, um eine Trennung von Mitgliedern vorzubereiten. Outplacement-Berater und Organisations-Coaches haben die Aufgabe, über Beratungsgespräche Halt zu bieten. Der zu Entlassene freundet sich in den Beratungsgesprächen langsam mit der Trennung von der Organisation an, und sein Widerstand und Widerwille gegen diese Entlassung wird so erfolgreich klein gearbeitet.

Durch die Einrichtung von Würdeasylen in speziellen Interaktionsformaten wird zu verhindern versucht, dass das Phänomen der Entlassung in Form von unerwünschten Besuchen des Entlassenen am Arbeitsplatz, des Überziehens der Organisation mit Arbeitsrechtsprozessen oder der besonders in den USA berühmt-berüchtigten waffenunterstützten Amokläufe der Entlassenen in die Organisation zurückgespielt wird.[7] Für den zu Entlassenen wird ein „Würdeasyl“ geschaffen und so verhindert, dass der Entlassene seine Wahrnehmungen, Eindrücke und Gefühle in allzu deutlicher Form mit seinen ehemaligen Kollegen teilt.[8]

 

[1] Zum Konzept des Warming Up in Kombination mit dem Cooling Out siehe für den Fall von Hochschulen Oliver Berli: Warming up und Cooling out in der Wissenschaft. Zur Entwicklung von Möglichkeitshorizonten am Beispiel von Wissenschaftskarrieren in Deutschland. In: Berliner Journal für Soziologie (2021).

[2] Eine Ausarbeitung des Konzepts des Auskühlens in Bezug auf Coaching und Supervision findet sich in Stefan Kühl: Coaching und Supervision. Zur personenorientierten Beratung in Organisationen. Wiesbaden 2008, 58f.

[3]  Erving Goffman: On Cooling the Mark Out. In: Psychiatry 15 (1952), S. 451–463, 451ff.

[4] David A. Snow, Patrica L. Mccall Cherylon Robinson: „Cooling Out“ Men in Singles Bars and Nightclubs. In: Journal of Contemporary Ethnography 19 (1991), S. 423–449, 423ff.

[5] Hans von Hentig: Über den Ursprung der Henkersmahlzeit. Tübingen 1958, 9ff.

[6] Die erste Erwähnung findet sich bei E. Goffman: On Cooling the Mark Out (wie Anm. 3).

[7] Siehe zu den Amokläufen in Organisationen, die nicht systematisch genug ihre Mitglieder auskühlen, besonders interessant Andreas Braun: Campus Shootings. Amoktaten an Universitäten als nicht-intendierte Nebenfolgen der Restrukturierungs- und Hybridisierungseffekte der Hochschulreformen. Bielefeld 2015.

[8] Zu Würdeasylen siehe Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1964, S. 324.

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

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