Das Scheitern der Moralphilosophie an der Organisationsfrage

Rezension zu Lisa Herzog (2021): Das System zurückerobern. Moralische Verantwortung, Arbeitsteilung und die Rolle von Organisationen in der Gesellschaft. Darmstadt: wbg academics

Moral spielt in den Diskursen von Organisationen eine immer wichtigere Rolle. Ministerien bekennen sich in ihren Selbstdarstellungen zur Nachhaltigkeit. Verwaltungen propagieren Diversität als einen zentralen Wert ihrer Personalpolitik. Unternehmen propagieren – ganz im Sinne des Diskurses über neue Organisationsformen – dass sie der Arbeit ihrer Mitarbeiter einen Sinn geben wollen.

Die Arbeit der Philosophin Lisa Herzog über die moralische Verantwortung von Organisationen versucht diesen häufig recht freihändig geführten Diskurs von Praktikern moralphilosophisch zu unterfüttern. Ihre Methode besteht dabei darin, eher allgemein gehaltene Beschreibungen organisationaler Phänomene mit moralphilosophischen Überlegungen zu konfrontieren und dabei immer wieder Schilderungen aus Interviews mit Mitgliedern verschiedener Organisation einfließen zu lassen.

Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie Organisationen so verwandelt werden können, dass die „individuelle Fähigkeit“ ihrer Mitglieder zum „moralischen Handeln unterstützt statt untergraben“ werden kann und ein Klima geschaffen wird, in dem „gravierende moralische Fehler“ vermieden werden können. Angesichts dieses Zuschnitts ist der zentrale Knackpunkt, wer denn bestimmen darf, was moralisches und was amoralisches Handeln in Organisation ist – die einzelnen Mitglieder einer Organisation, die Organisationspitzen als Gesamtverantwortliche, die sich als Zivilgesellschaft präsentierenden Interessengruppen außerhalb der Organisation oder vielleicht sogar die Moralphilosophen selbst?

Die Frage der Moral an das einzelnen Organisationsmitglied zu überweisen, ist schwierig, weil hier mit Verweis auf die Moral sehr unterschiedliche Vorgehensweisen favorisiert werden können. Wir kennen aus Polizeien und Armeen die Diskussion unter Organisationsmitgliedern, ob man Folter androhen darf, um Entführungsopfer zu retten oder Anschläge zu verhindern. Man kann hier unterschiedlicher Meinung sein, aber es wäre schwer zu argumentieren, dass das eine Organisationsmitglied moralischer handelt als das andere – schließlich können alle ihre Haltung mit Verweis auf ihre Moral begründen.

Der Spitze der Organisation die Definition einer Moral zu überlassen ist ähnlich problematisch. Wir wissen aus der historischen Forschung, dass in der SS in der Weimarer Republik und im NS-Staat eine ausgeprägte Organisationsmoral vertreten wurde. Diese mag allem widersprechen, was in demokratischen Staaten als moralisches Handeln verstanden wird, aber es bleiben keine Zweifel, dass innerhalb der SS die eigenen Handlungen in einem starken Maße durch eine eigene Moral begründet wurden.

Alternativ ließen sich als Instanzen für den moralischen Kompass noch Akteure außerhalb der Organisationen bestimmen. Der auch unter Moralphilosophen scheinbar beliebte Begriff der Zivilgesellschaft kaschiert jedoch, dass diese keine eindeutige Absenderanschrift hat. Letztlich steht es jeder Person frei, im Namen der Zivilgesellschaft zu sprechen. Ergebnis ist deswegen eine hohe Widersprüchlichkeit in den Positionen, die mit Verweis auf die Zivilgesellschaft gerechtfertigt werden.

Bleibt als Instanz für die Bestimmung einer Moral von Organisationen nur noch die Moralphilosophie selbst übrig. Ihre Aufgabe wäre es, die „in Organisationen arbeitenden Menschen mit einer starken Überzeugung auszustatten, für grundlegende moralische Normen einzutreten“. Ganz in diesem Sinne unterbreitet die Autorin in ihrem Buch dann auch einen eigenen Moralkatalog, an dem sich Organisationen halten sollten. Zentrale Normen sollten demnach der „Respekt gegenüber allen Individuen“ sein, „denen ein Recht zukommt als moralisch Gleiche behandelt zu werden“ und die „Vermeidung eines durch das eigene Handeln verursachte Schaden bei Dritten“.

Aber welche Orientierungspunkte bietet – so kann man fragen – ein solch abstrakt formulierter Katalog? Es besteht unter Forschern kein Zweifel daran, dass durch den individuellen motorisierten Personenverkehr aufgrund der Feinstaubbelastung zehntausende Menschen erkranken und vielfach vorzeitig sterben. Jede Person, die ein Auto fährt, jede Person, die ein Auto entwickelt und jede die in der Montage ein solches herstellt – egal ob mit Verbrennungsmotor oder E-Motor – verursacht also zweifellos Schäden bei Dritten. Aber macht dies ihr Verhalten gleich unmoralisch? Schließlich kann man mit sehr guten – auch leicht moralisch zu adelnden – Gründen es als angebracht empfinden, Menschen bei ihren individuellen Mobilitätsbedürfnissen zu unterstützen, auch wenn dies zwangsläufig zu ungewollten Nebenfolgen bei anderen führt. Moralisch aufgeladene Werte klingen in ihrer Abstraktheit immer überzeugend, aber geraten, wenn sie operationalisiert werden, zwangsläufig mit anderen ähnlich wohlklingenden Werten in Konflikt.

So werden dann auch all die allgemeinen Empfehlungen für Organisationsstrukturen problematisch, mit denen die Wahrscheinlichkeit für moralisches Handeln in Organisationen erhöht werden soll. So propagiert die Autorin die Vorstellung, dass die Verringerung der „Machtunterschiede in Organisationen“ dazu führt, dass Missbrauchsmöglichkeiten reduziert werden. Das widerspricht aber der Forschung, die zeigt, dass gerade auch häufig am Egalitätsideal orientierte Gebilde, wie Terrorgruppen, religiöse Sekten und kriminelle Gangs, nicht nur zu zweifellos moralisch fragewürdigem Verhalten in der Lage sind, sondern es auch unter ihren Mitgliedern, gerade wegen der fehlenden Hierarchie, häufig zu brutalen Auseinandersetzungen kommt. Gerade unter Gesichtspunkten der Verantwortungszurechnung für moralisch problematisches oder gar gesetzlich verbotenes Verhalten in Organisationen – und zur Reduzierung von Machtkämpfen unter Mitgliedern – gibt es kaum ein geeigneteres Instrument als die Hierarchie.

Statt sich als Moralphilosophin mit einem eigenen Moralkatalog in die Diskussion zu wagen, könnte es lohnenswert sein, zu prüfen, ob vielleicht nicht gerade der Verzicht auf einen solchen Katalog moralphilosophisch geboten ist. Gerade der Blick auf Organisationen, die sich mit Verweis auf höhere Werte, einer eigenen starke Moral verpflichtet haben, zeigt, dass gut gemeintes Handeln häufig unter moralischen Gesichtspunkten verheerende Effekte hat.

 

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschien von ihm „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus 2020).

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

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