Es gibt Soziologen (wie mich) die pfeifen auf jedwede Aussage von Menschen aus der Wirklichkeit. Erstens, weil „Mensch“ keine Kategorie ist, die etwas soziologisch darstellen kann, lässt sie sich auch noch so gut benennen, bezeichnen, zählen und vergleichen. Zweitens, weil ein human-tonaler Ausspruch zwar Wirklichkeit erzeugt, aber nie Realität widerspiegelt. Kurz: Gerede ist egal. Wer tatsächlich etwas über die Welt erfahren will, darf nicht die Menschen fragen sondern muss spartenspezifischer vorgehen. Für interessante, soziologisch entschlüsselbare gesellschaftliche Phänomene ist sehr selten werturteilendes, ideologiegeleitetes Gelaber von Bedeutung, viel mehr muss man faktische Geldströme, reines Abstimmungsverhalten oder zufällige Bekanntheitsgrade beobachten.
Solch ein Weltbild hilft ungemein durch den Alltag, man fragt sich, der Trugbildanfälligkeit von Semantik bewusst, aber umso mehr, wie alles überhaupt funktionieren kann, da andere Menschen auf Gerede soviel geben. Statistiken werden gefälscht, Bilanzen werden komponiert, Zukunft wird versprochen und Fakten werden erzeugt. Manchmal enteilt die semantische Wirklichkeit der faktischen Realität so sehr, dass sich die Einheit der Welt von ganz allein infrage stellt.
Der aktuelle Hintergrund: Die anhaltende Finanz- und Vertrauensmisere. Irland gibt eine staatliche Garantie auf alle Einlagen, die auf irischem Grund getätigt werden und obwohl alle Welt weiß, dass sich diese Bürgschaft im Ernstfall niemals einlösen ließe, funktioniert es. Irische Banken erleben einen Run auf (also „in“) ihre Bücher und Tresoren. Das gegenseitige Vertrauen, und damit die wahre Währung, profitiert von diesem Backup. Irische Luftschlösser sind mehr wert als amerikanische Holzhäuser. ;-)
Heute Morgen habe ich über die 1.600 Mrd. Bürgschaft aus Berlin noch gelächelt und mich gefragt, wie man 2008 noch einen Götter besänftigenden Regentanz aufführen kann – aber heute Abend scheint es die beste Idee zu sein, einfach für alle Vermögensstände zu bürgen. Alle werden wissen, dass diese Bürgschaft niemals (komplett) in Anspruch genommen werden darf und trotzdem würde es funktionieren.
Meine Prognose: In den nächsten Tagen wird sich der Europäische Rat oder ein vergleichbares Gremium aufraffen und verkünden, dass man für alles bürgt. Es wird genügen, den langsamen Niedergang in eine sanfte Stagnation und langfristig wieder in zähes Wachstum zu verwandeln. Das Einzige was neben Vertrauen fehlt ist Zeit. Wie man liest, ist die Hypo-Real-Estate nicht pleite, sondern erleidet nur mangelnde „Kostenkongruenz“ (kurzfristig mehr Ausgaben als Einnahmen), das kann aktuell tatsächlich jeder Bank passieren, vor allem wenn einige gerade mal eine Eigenkapitalquote von 0,6% haben. Das man bei solchen Zahlen überhaupt noch von einzelnen Banken spricht scheint ebenfalls so ein Semantikvehikel zu sein, das keiner realistischen Darstellung entsprechen kann. Man muss es sich mal in der faktischen Gehirnhälfte vergegenwärtigen, wenn man „DePfa“, eine Tochterfirma der Hypo-Real-Estate, beim Namen nennt, bezeichnet man nur zu 0,6% tatsächlich die „DePfa“ und zu 99,4% alle ihre Gläubiger, also ganz andere Banken. So lässt sich das Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur doch mal wirklich krass in Worte fassen.
Schönes Beispiel mit der DePfa. Diese Art von semantischen Vereinfachungsformeln findet man aber überall. Man spricht z.B. auch von Volkswirtschaften als hätte man es mit einem dicken nationalen Kern zu tun und ein paar internationalen Anbauten. Oder von Konzernen mit einem „Heimatland“, als könnten sich transnationale Produktionssysteme auf ein Land reduzieren lassen. Aber diese Formeln dienen trotz ihrer Leere einem wichtigen Zweck: Sie sind notwendig für die Zurechnung von Erfolgen, Misserfolgen, Schuld etc. Netzwerke haben zwar gegenüber starren Organisationen viele Vorteile, aber einen gravierenden Nachteil: Man kann sie nicht zur Rechenschaft ziehen.
Ja, das stimmt. Neben dem Vertrauensverlust ist die Unmöglichkeit einer Rechenschaftspflicht die zweite Säule die man soziologisch hier thematisieren müßte.
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