Überlegungen zur Abweichungsbeobachtung in der Weltgesellschaft
Berlusconi schneidere sich neues Immunitätsgesetz, meldet die Online-Redaktion des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL im Juni 2008. Er plane das Gesetz, damit er nicht wegen eines anhängigen Korruptionsverfahrens verurteilt werde.
Die Meldung ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen kann man fragen, warum eine deutsche Zeitschrift überhaupt über einen Vorgang in Italien berichtet. Es handelt sich offensichtlich um ein Ereignis von überregionaler Bedeutung, ja sogar um ein Weltereignis, wie die Recherche auf den Webseiten der US-amerikanischen NEW YORK TIMES ergibt, die ebenfalls über Berlusconis Gesetzesvorhaben berichtet. Zum anderen ist auffällig, warum dem Ereignis überhaupt Nachrichtenwert zugewiesen wird. Augenscheinlich wird in diesem Fall eine Abweichung von öffentlichen Verhaltensstandards registriert, denn Berlusconi plant einen politischen Eingriff in die Rechtssprechung, genauer: über kollektiv verbindliches Entscheiden soll die Rechtssprechung in der Weise festgelegt werden, dass er als Person-im-Staatsamt nicht strafrechtlich verfolgt werden kann.
In Abwandlung eines Arguments von Niklas Luhmanns nehmen die Massenmedien in diesem Fall einen Standpunkt der Weltgesellschaft ein. Sie finden über allgemeine Vorstellungen, nach welchen „globalen Standards“ Staatsgesellschaften strukturiert sein und ihre Protagonisten handeln sollten, den Anlass dafür, Abweichungen überhaupt beobachten zu können. Die Weltgesellschaft beschreibt er als funktional differenziert in operativ eigenlogische Teilsysteme. Beispiele sind die Politik, die Wirtschaft, das Recht oder die Wissenschaft. Sie zeichnen sich gerade dadurch aus, dass in ihnen nach eigenen Prinzipien verfahren wird, so dass sich Politiker der Kritik ausgesetzt sehen, wollten sie Richtern vorschreiben, wie sie ihre Urteile zu fällen haben.
In dieser Perspektive ermöglichen folglich die Struktur der Weltgesellschaft selbst und eine zumindest diffuse Kenntnis dieser Strukturiertheit solche Abweichungsbeobachtungen, wie sie auf Berlusconi bezogen vorgenommen werden. Sie werden gleichwohl nicht nur situativ, personalisiert sowie allgemein den Regeln der Massenmedien folgend vorgenommen. Man denke an die zahlreichen Indices, die mit großem Aufwand erstellt und nachgefragt werden. Beispiele sind der „Failed States Index“, der „Freedom House Index“ oder der „Bertelsmann Transformation Index“ (BTI). Sie sind Abweichungsregistraturen größeren Maßstabs.
Nehmen wir das Beispiel des BTI. Hier wird nach eigener Darstellung die Umsetzung erfolgreicher Reformpolitik von „Staaten auf ihrem schwierigen Weg der Transformation“ verzeichnet. Beobachtet wird anhand eines Kontinuums zwischen den Polen Gelingen und Misslingen. Als Gradmesser gelten die beiden Ordnungsmodelle „Rechtsstaatliche Demokratie“ und „Sozialpolitisch flankierte Marktwirtschaft“. Impliziert wird damit ein vergleichsweise spezifischer Entwicklungspfad mit einem normativ begründeten Endzweck (im Sinn der Aristotelischen causa finalis). Der „guten Regierungsführung“ wird dabei eine Schlüsselrolle zugewiesen. Die Transformation wird im Rahmen eines umfangreichen Berichtswesens über quantitativ und qualitativ operationalisierte Indikatoren gemessen, so dass jährlich ein Ranking über Erfolge und Rückfälle erstellt werden kann. Zwar gebe es aufgrund von Gefährdungen wie Stagnation, Machtkonflikten und Staatsversagen keine Erfolgsgarantie. Allerdings wolle die Bertelsmann Stiftung im Rahmen des BTI und zusammen mit ihrem Projektpartner, dem Centrum für angewandte Politikforschung, einen Beitrag dazu leisten, die politische Steuerung dieser Transformationsprozesse effektiver zu gestalten, wirksamer zu unterstützen und Fachwissen produktiv zu vernetzen. Dahinter liegt offensichtlich die Annahme, es bedarf der Promotion „richtiger Entwicklung“ im Sinn einer zunehmenden Konvergenz weltweiter staatlicher Ordnungsmuster europäischen Vorbilds. Andere Ordnungsmodelle müssen daher zwangsläufig als Abweichungen und als ein „Noch-nicht-Erreichen“ im Sinn „richtiger“ Entwicklung vermerkt werden.
Welche Folgen hat diese Abweichungsbeobachtung eigentlich, kann man sich fragen? Es fällt einem der Werbeslogan eines großen Baufachhandels ein: „Es gibt immer was zu tun“. Für unseren Fall heißt das: „Es gibt auch ZUKÜNFTIG was zu tun“. Kurz: vor allem sichert Abweichungsbeobachtung den Bestand der beteiligten Organisationen.
In Bezug auf Berlusconi versorgen sich die Massenmedien letztlich selbst mit einem Anlass, auch „morgen“ in gleicher Weise weiterzuarbeiten, nämlich zu prüfen, ob das Thema weiter Relevanz hat, um darüber zu berichten. Zugespitzt formuliert sorgt es über die Speicherung von Abweichungsbeobachtungen in seinen (Online-)Archiven dafür, dass ein in dieser Weise qualifiziertes Ereignis im Gedächtnis bleibt. Und so lange die Abweichung weiter besteht, erscheint es lohnenswert, weiter darüber zu berichten.
Ähnlich verhält es sich für die Organisationen, die Indices internationaler Politik erstellen. Es ist paradox: so lange Abweichungen feststellbar sind, sollte man sie schließlich auch messen. Dazu passt, dass im Rahmen des neo-institutionalistischen „world polity“-Ansatzes die Weltgesellschaft anhand von weltweit propagierten Ordnungsmodellen beschrieben werden, deren Geltung einen äußeren Veränderungs- bzw. Anpassungsdruck auf Nationalstaaten erzeugen, so dass diese sich hinsichtlich ihres formalen Erscheinungsbildes angleichen. Diese Isomorphie ist ein zentrales Kennzeichen der world polity, die als die Gesamtheit weltweit auffindbarer politischer und kultureller, „rationalistischer“ Institutionen aufgefasst werden kann. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um politische und kulturelle Modelle, so dass Boris Holzer anmerkt, es könne nach diesem Ansatz nahezu unterschiedslos von Weltgesellschaft, Weltkultur und eben world polity gesprochen werden. Wenn man so will, „stabilisieren“ internationale Indices-Organisationen die Geltung (a) dieser Ordnungsmodelle und gleichzeitig (b) sich selbst als „Promotoren“ dieser Modelle. Dabei sind sie allerdings „zweifach blind“.
Zum einen sehen sie selbst nicht, dass sie Ordnungsmodelle „promoten“, die in so genannten gescheiterten, scheiternden oder brüchigen Staaten auf den externen Synchronisationsdruck zwar formal eingeführt werden, weil sie als Voraussetzung für „effektives Regieren“, „angemessene Bildung“, „Rechtssicherheit“ o.ä. gelten. Gleichzeitig erscheinen konkurrierende Ordnungsmodelle lokaler Herrschaft, Wirtschaftstätigkeit und Erziehung allerdings selbst auffällig stabil, so dass z.B. die Weltbank trotz aller bisherigen Bemühungen in Afghanistan eingesteht, dass sich die Lage „verschlechtere“, weil Warlords ihre Autonomie erfolgreich aufrecht erhalten, die Wirtschaft ihre Einnahmen weiter über Mohnanbau erzielt und diese Opiumökonomie zusätzlich die Korruption blühen lässt.
Zum anderen haben sie zwar mit dem Terminus der „Korruption“ einen Begriff für diese konkurrierenden Ordnungsmodelle. Jedoch haben sie bislang fast nur die Vorstellung davon entwickelt, dass diese z.B. auf Familienangehörigkeit, Ehre, Scham, gegenseitigen Beschenkens oder Reziprozität basierenden Handlungsmuster „bekämpft“ werden müssen. Unbemerkt bleibt, dass Institutionen der world polity lokal als die eigentliche Abweichung betrachtet wird. Ob deren Einführung (z.B. im Rahmen einer Public Administration Reform, welche die Weltbank für Afghanistan skizziert hat, nachdem sie vorher die Verschlechterung der Situation gemessen hat) daher den erhofften Erfolg hat, kann bezweifelt werden. Sie muss ja auch keinen Erfolg haben, nimmt man sich doch damit die Möglichkeit, weiter Abweichungen zu messen und damit begründbare Reformprogramme „auf den Weg zu bringen“.