Sinn serviert man am besten konfiguriert

Manchmal denkt man darüber nach, wie es wäre, wenn die Welt nicht zweigeteilt wäre; wenn es keine unabsichtlichen Lügen, keine unbeabsichtigten Folgen, nicht ständig gute Gründe für Aufklärung gäbe.

Aber können wir sie uns vorstellen, die Welt, in der die Produzenten unseres täglichen Essens in mehrfachen 30-Sekunden-Häppchen stündlich berichten, wie viel Tonnen Industrieöle sie diesmal an die Schweine verfüttert haben? Oder wäre es, andersherum, denkbar, dass 10.000.000 Hühner tatsächlich, wie ja erzählt wird, auf jeweils einem eigenen Quadratmeter Freilandboden leben. Wie wäre es denn, wenn sich herausstellen würde, dass die Wirtschaft viel besser funktioniert, wenn Unternehmen ihre Kreditanträge nicht an Privatbanken, sondern an die Bundesbank richteten? Oder, andersherum, wie wäre es, wenn Banken tatsächlich „den Weg frei“ machen würden?

Fragen über Fragen. Alle nach dem gleichen Muster: Was wäre, wenn die Kluft zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantikkultur nicht so weit auseinanderklaffen würde und eine Krise nach der anderen heraufbeschwüre? Eine sehr hypothetische Frage. Denn während sich die Zeitungen derzeit mit der einen Krise befassen, zieht am anderen Ende des Mediensprektrums schon die nächsten herauf. Es endet nie.

Ein paar, vielleicht 25.000, Menschen wünschen sich, dass sich 80.000.000 andere Menschen an politischen Entscheidungen beteiligen. Dabei lesen 70.000.000 von ihnen nicht einmal regelmäßig Nachrichten oder lesen Zeitung. Selbst ernannte Politikpiraten, deren oberstes Ziel es ist, politische Mandate zu entmachten und den politischen Bürger zu ermächtigen, streben plötzlich in Scharen Ämter und Mandate an. Glauben sie nicht einmal selbst an ihre Mission? Das die nächste Kulturkrise bevorsteht muss man gar nicht vorhersehen, man kann zusehen, wie sie hergestellt wird (hier, hier, hier, hier, hier, usw. – eine Auswahl der letzten zwei Tage).

Nicht nur in der Ernährung, in der Wirtschaft oder in der Politik zeigt sich die Kluft. Sie ist überall. Der Text ließe sich unendlich weiterschreiben, über Millionengehälter fürs Umherjetten und Minilöhne in der Betreuung von unter 18-jährigen oder der Pflege von über 80-jährigen; über die Freiheiten des mobilen Internets und die Kasernen der Gerätehersteller. …man sieht schon, das sind nur die Beispiele, die aus moralischen Gründen oben auf der Liste stehen.

Nur ganz selten lässt sich die Kluft tatsächlich fassen und vielleicht auch schließen. Normalerweise kostet es viel Arbeit, sie aufzuspüren und zu ergründen. Aber manchmal fällt sie einem auch sofort ins Auge. Das Internet zum Beispiel kennt ein Heer von Beratern, die alle glauben, dass sie etwas verstanden hätten. Sie bieten für 500 Euro Tagesseminare an und erzählen Kunden, wie zu twittern sei und was ein Pinterest-Pin ist, oder wie man eine Xing-Gruppe einrichtet. Dabei müssten sie, wollten sie wirklich etwas darüber erzählen können, selbst erst einmal in asketischer Manier lernen, wie sie das Internet überhaupt erleben könn(t)en. Diese Selbstschule wäre so hart, dass nur wenige an ihr Ende gelängen, um dann für vorsichtiges Handeln qualifiziert zu sein.

Einer dieser Qualifizierten, der sich nie aufmachte ein Berater zu sein, hat es vor ein paar Tagen (vieleicht schon wenige Wochen) zu Twitter geschafft (der Preis dafür, er löschte seine alten Blogs einfach, war vielleicht etwas hoch). Rudi K. Sander konfiguriert jetzt, mitten in Europa mit Goethe im Blick, in ganz kleinen Schritten Sinn, bedient sich hier und da, testet, verwirft, prüft und postuliert und fällt regelmäßig auf die Ausgangsfragen zurück. Es ist so, wie es Dirk Baecker (er twittert auch fleißig) derzeit immer behauptet: Man muss das Internet niemandem erklären, jeder der daran teilnimmt kann erleben, was zu verstehen ist. Und Rudi Sander lässt uns auf ganz vorzügliche Art an seinem Erleben teilhaben und teilnehmen.

(Bild: Cayusa)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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