Nicht einfach „Verorganisierung“. Doppelte Landnahme!

Kritische Anfragen an Stefan Kühls Essay zur Entwicklung des Islamismus

Die These der „Verorganisierung“ des Islamismus ist auf den ersten Blick evident. Im Anschluss an die soziologische Bewegungs- und Parteienforschung behauptet Stefan Kühl, dass die islamistische Bewegung „zunehmend“ formale Organisationen ausdifferenziert – auch wenn es eher typisch für Bewegungen sei, sich einer Organisiertheit ideologisch zu verweigern.[1] Er begründet die These mit vier funktionalen Argumenten, für die er sowohl zeitgeschichtliche als auch zeitgenössische Belege heranzieht. Erstens verfügten nur Organisationen über ein Maß an Adressierbarkeit, das hinreichend sei, damit Unterstützerkreise mehr oder weniger kontinuierlich militärische und finanzielle Hilfe leisten (z.B. im Fall des sowjetisch-afghanischen Krieges in den 1980er Jahren). Zweitens diene Organisation sowohl dem „Islamischen Staat“ (IS) als auch Al-Qaida dazu, eindeutige Zugehörigkeitsbekenntnisse von Bewegten zu registrieren, um auf dieser Basis um die Vormachtstellung in der Bewegung zu konkurrieren. Eng damit verbunden erlaube Organisation dem IS drittens, den Kontakt zwischen kampfbereiten europäischen Islamisten und seinem militärischen und bürokratischen „Rückgrat“ zu koordinieren, das zum einem guten Teil aus den baathistischen Kadern des 2003 im Irak zerfallenen Hussein-Regimes besteht. Viertens basiere die heutige Proto-Staatlichkeit des IS wesentlich auf formal organisierten Dienstleistungen.

Verorganisierung vs. Organisationswerdung

Verorganisierung steht bei Kühl konsequent in Anführungszeichen. Sie machen kenntlich, dass es sich hier nicht um ein Konzept handelt, das bereits in der soziologischen Organisationsforschung etabliert ist. Seine besondere Stärke wird dabei vor allem im Kontrast zum Begriff der „Organisationswerdung“ sichtbar, der mittlerweile einige Prominenz sowohl in der Praxis als auch in der Erforschung von Hochschulen und Kirchen hat (Apelt & Tacke 2012: 17–18; Hauschildt 2007; Kehm 2012). Während Organisationswerdung in erster Linie den Gestaltwandel eines bereits existierenden sozialen Systems adressiert, deutet Verorganisierung in der Kühl’schen Fassung einen alternativen Entwicklungsweg an: aus einer vorhandenen sozialen Bewegung hebt sich ein besonders ‚mitgliedschaftssensibles‘ Segment ab. Es konstituiert sich durch die Formalisierung von Bedingungen, unter denen jemand Mitglied werden kann. Zugehörigkeit wird so zu einem Akt bewussten Entscheidens, infolge dessen gemeinhin stärkere Selbstbindungen der Mitglieder an den solchermaßen organisierten Personenkreis entstehen (Becker 1960: 37; Luhmann 1964: 37). Nicht nur den Beobachtenden von Bewegungen, die Kühl in seinem Artikel vor Augen stehen, fällt es ja schwer, den Kreis derjenigen zu bestimmen, die der Bewegung angehören, sondern den Bewegten selbst. Formalisierung schafft hier neben stärkeren Bindungswirkungen unter den Mitgliedern eine wesentlich höhere Eindeutigkeit.[2]

Das Problem von Kühls Argumentation ist, dass er den Unterschied zwischen Verorganisierung und Organisationswerdung zunächst mithilfe von Friedhelm Neidhardts (1982) einschlägiger Studie zur Entstehung und Gruppendynamik der Roten Armee Fraktion (RAF) skizziert, dann aber im Hinblick auf den IS wieder verwischt. Kühl rekonstruiert Neidhardts im Kern prozesssoziologisches Argument als Dreischritt. Nachdem sich zuerst einmal eine soziale Bewegung über die Kommunikation bestimmter Werte zusammenfindet (Neidhardts Referenzfall ist die heute mit der Chiffre „1968“ belegte Studierendenbewegung), entstehen im Kontext dieser Bewegung und infolge der Orientierung an einer „gemeinsamen Sache“ Freundschafts- und Paarbeziehungen. Sie bilden wiederum in einem dritten Schritt die strukturellen „Bausteine“ (Martin & Lee 2010: 119) für terroristische Vereinigungen wie die RAF. Sie tragen Züge von Mini-Organisationen, sind aber strukturell gesehen „größer“ als die einzelnen Dyaden (siehe dazu auch, allerdings in anderer Terminologie Malthaner & Waldmann 2012: 14–15).[3] In dieser Perspektive meint Verorganisierung folglich, dass im Zuge ‚sozialer Bewegtheit‘ (sB) diverse Sozialbeziehungen (Bez) entstehen, aus der sich eine Teilmenge schließlich zu einem mehr oder weniger kleinen Sozialsystem mit Organisationscharakter (O) verbindet (Abb. 1). Die entstandene Organisation nimmt dann auf der Basis verorganisierter Sozialbeziehungen weitere Beziehungen und Personen auf.[4]

Abb. 1: Verorganisierung der islamistischen Bewegung (eigene Darstellung)

Leider ‚entkompliziert‘ Kühl die Neidhardt’sche Prozessperspektive, wenn er sein Augenmerk schwerpunktmäßig auf den IS richtet. Der zweite Schritt des Modells fällt unter den Tisch, indem er formuliert, dass sich die islamistische Bewegung zunehmend verorganisiere, immer organisationsförmiger werde oder sich eine islamistische Organisation ausbilde (Abb. 2). Konsequenterweise spricht er im letzten Abschnitt seines Texts dann auch von Organisationswerdung anstatt von Verorganisierung.

Abb. 2: Organisationswerdung der islamistischen Bewegung (eigene Darstellung)dl___abb2

Kühl deutet zwar die Relevanz von bereits existierenden Sozialbeziehungen an, wenn er daran erinnert, dass die früheren Baathisten ihre Fach- und Führungserfahrung nun im IS einbringen. Er geht jedoch nicht systematisch darauf ein, dass dieser Sachverhalt eine alternative These begründen könnte. Es wäre schließlich denkbar, dass sich im Fall des IS gar nicht ‚die islamistische Bewegung‘ verorganisiert, wie sein Text auf den ersten Blick suggeriert, sondern inner- und außerhalb des Islamismus bestehende Sozialbeziehungen.

Detailteufel und Landnahmemetapher

Auf den zweiten Blick steckt der Teufel der Verorganisierungsthese im Detail. Mithilfe der Metapher der Landnahme möchte ich die Aufmerksamkeit insbesondere auf zwei Aspekte der historischen Entwicklung des IS lenken, die Kühl zwar ebenfalls nennt, denen er sich jedoch nur kursorisch zuwendet. Dazu zählt zum einen die bereits angesprochene organisatorische Stellung der alten baathistischen Kader. Zum anderen handelt es sich um die Herrschaftssicherung in den Gebieten, die der IS in den vergangenen Jahren besetzt hat, zuerst „behutsam“ (Reuter 2015a: 104), „weitgehend unbemerkt“ (Napoleoni 2015: 7), dann forciert. In Form einer Bewegung ließen sie sich nicht halten, vermutet Kühl. Ich stelle zunächst kurz die Metapher vor, um dann zu den beiden Details zurückzukehren.

Landnahme ist bereits ein biblisches Motiv.[5] Es thematisiert den alles andere als konfliktfreien Auszug der israelitischen Stämme aus Ägypten und ihre Besiedlung Kanaans. Davon inspiriert bezeichnen Archäologen und Historiker daher mit Landnahme gewöhnlich den Vorgang, dass Völker oder soziale Gruppen ein bereits bevölkertes Territorium inbesitznehmen und besiedeln. Gleichzeitig erschöpft sich die Metapher ideengeschichtlich nicht darin, Prozesse territorialer Okkupation, Expansion, Verdrängung und Kontrolle zu markieren. Ein zweiter Bedeutungsstrang von Landnahme ist im Kern relational, er findet sich maßgeblich in polit-ökonomischen (Karl Marx, Rosa Luxemburg, Hannah Arendt und heute vor allem David Harvey) und industriesoziologischen Studien (Burkart Lutz). Mit Blick auf den sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert abzeichnenden Expansionsdrang kapitalistischen Wirtschaftens wird Landnahme hier nicht primär räumlich-geografisch, sondern beziehungsorientiert gedacht: der Kapitalismus könne sich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren, sondern wachse immer weiter in gesellschaftliche Bereiche hinein, die bis dato nicht seiner Logik der Mehrwertabschöpfung unterworfen waren (ein Beispiel ist die kleinbäuerliche Landwirtschaft). Landnahme bezeichnet hier im Wesentlichen die Kommodifizierung zuvor nicht kommodifizierter Sozialbeziehungen, d.h. dass die Austauschbeziehungen der Beteiligten nun in erster Linie warenförmig stattfinden. Die Metapher ist damit in einer engen Fassung ein zentrales Element von Kapitalismustheorien. Gleichwohl ist sie nicht an diesen Untersuchungsgegenstand gebunden, insofern sich zeigen lässt, dass ein empirisch interessierender Prozess ein bestimmtes Ablauf- und Reproduktionsmuster aufweist. Dieses Muster besteht darin, dass ein soziales System bestehende Sozialbeziehungen usurpiert und/oder zerstört, um seine eigene Begrenztheit in zeitlicher, sozialer und/oder sachlicher Hinsicht zu überwinden (oder zumindest ‚produktiv‘ zu bearbeiten). Dabei stößt das landnehmende System auf Widerstände, die es wiederum relational-landnehmend zu überwinden sucht.

Führt man sich das allgemeine Landnahme-Muster vor Augen, kommt einem organisationssoziologisch direkt das Problem des „demographischen Metabolismus“ in den Sinn (Haveman 1995), das Lewis Coser (2015a: 11) in seiner Studie zu „gierigen Institutionen“ so treffend kennzeichnet. Coser weist darauf hin, dass organisierte Gruppen immer mit dem Problem konfrontiert seien, Wege zu finden, um menschliche Energien bestmöglich für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Allein aus biologischen Gründen (Erschöpfung, Alter, Tod) ist die Zufuhr frischer Kräfte ein organisatorisches Dauerproblem, hinzu tritt in der hochgradig differenzierten Moderne wesentlich die Konkurrenz sozialer Kreise um die Aufmerksamkeit und das Engagement von Individuen (Coser 2015: 12–13). Hier sieht auch Kühl die offene Flanke des IS. Er wird bekämpft und muss allein aus diesem Grund mit Mitgliederverlusten rechnen. Das ist einleuchtend. Kühl vermutet jedoch darüber hinaus das Dilemma, dass der Islamismus seine Attraktivität für potentielle Anwärter verliere, weil er sich verorganisiere, seinen Bewegungscharakter einbüße und dadurch diejenige Eigenart verliere, weswegen sich ihm viele Menschen anschlössen. Führt man sich noch einmal vor Augen, dass Kühl (2014: 71) Bewegungen vornehmlich durch mobilisierende Wertekommunikation konstituiert sieht, ist seine Vermutung recht kulturalistisch gedacht. Zugrunde liegt die Prämisse, dass der Rekrutierungsmodus des Islamismus vornehmlich ein ideeller ist. Aber stimmt das überhaupt? Kommen wir auf die Landnahme des IS zurück, um die Frage seines primären Rekrutierungsmodus anzugehen und letztlich die Plausibilität der Verorganisierungsthese zu prüfen.

Territoriale Landnahme

Die Landnahme des IS ist eine doppelte: vordergründig territorial, hintergründig relational. Territorial ist die Expansion offensichtlich. Der IS führt einen recht erfolgreichen „Eroberungskrieg“ und erschüttert damit im Kontext des syrischen Bürgerkriegs den Nahen Osten (Napoleoni 2015: 93). Wenngleich nicht unwidersprochen[6] sieht Rainer Hermann (2015) Analogien zum Dreißigjährigen Krieg im Europa der Frühen Neuzeit.

Die territoriale Landnahme erweist sich für den IS bis dato als äußerst einträglich (Belli et al. 2014: Kap. 3; Gassel 2015: 52–53).[7] Er streicht gegenwärtig die Ölrente ein, an dem sonst das Assad-Regime verdiente, und steht damit letztlich in der Tradition der diversen Rentierstaaten in der Region (für einen vergleichsweise aktuellen Überblick siehe Beck 2009). Darüber hinaus erhebt das Regime Steuern nach Belieben. Zusammengenommen finanziert sich der IS gegenwärtig selbst und ist nicht auf Spenden angewiesen. Nicht zu vernachlässigen ist darüber hinaus, dass der IS durch seine räumlich-geografische Expansion sichere Rückzugsräume hat, die der Erholung der Kämpfenden und der Vorbereitung neuer Angriffe dient (siehe dazu mit Blick auf die Roten Brigaden und die IRA Bosi 2013).

Spätestens seit Ende 2014 gibt es zahlreiche Zweifel, ob der IS seine territoriale Landnahme nicht „überdehnt“ hat (Said 2015: 190). Infrage steht zu diesem Zeitpunkt, ob das Kalifat überhaupt wirksame Herrschaft über die von ihm besetzten Gebiete ausübt, die zumindest elementaren Grundbedürfnissen gerecht wird. Tatsache sei, schreibt ein Reportageteam der „Zeit“ (Belli et al. 2014: Kap. 5), dass der IS taumele und mehr Anzeichen eines versagenden Staates („failing state“) als eines aufstrebenden Gemeinwesens aufweise.[8] Dazu passend macht Henrik Dosdall (2015) in seiner politiksoziologischen Weiterentwicklung der Verorganisierungsthese geltend, dass das zentrale Bezugsproblem des IS in der Etablierung eines Gewaltmonopols liege, das Kalifat dafür auf „Vertrauensnetzwerke“ (Tilly 2004: 4–5; Japp 2011: 261n1) zurückgreife und mittlerweile mit den dysfunktionalen Folgen dieser Problembearbeitung konfrontiert sei. Rekrutiert würden Personen aufgrund ihrer lokalen Bekanntheit bzw. weil sie den IS-Kadern bekannt seien, besetzten dann aber Ämter, für die sie keine fachliche Qualifikation mitbrächten. Dosdall adressiert folglich die Abhängigkeit des IS von Personen, denen der IS vertrauen müsse, weil er ihren lokalen Status zur Herrschaftssicherung brauche. In dieser Perspektive steht also die hier mutmaßlich wesentlich funktionalere Verorganisierung territorialer Herrschaft noch aus, die Dosdall zufolge darin liegen würde, eine für bürokratische Organisationen übliche Personalwerbung zu etablieren.

Relationale Landnahme

Der IS mag zwar als ‚Staatsbürokratie‘ in mancherlei Hinsicht versagen. Er erweist sich dennoch als äußerst widerstandsfähig. Nach meinem Eindruck liegt der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis dieser Robustheit darin, dass er in besonderer Form relational Land nimmt und dieses beziehungsorientierte Wachstum seiner territorialen Expansion und Konsolidierung zugrunde liegt. Es gibt – darauf gehe ich sogleich detaillierter ein – zahlreiche Anzeichen dafür, dass der IS sich im Lauf seiner Geschichte sukzessiv prä-existente Sozialbeziehungen ‚einverleibt‘ und das Maß dieser Landnahme fortlaufend gesteigert hat. Relationale Landnahme bezeichnet damit im Kern keinen ideellen, sondern einen an vorhandenen Sozialstrukturen ansetzenden Rekrutierungs- und Einbindungsmodus. Dieser Modus schließt die Beziehungen zu lokalen Vertrauenspersonen ein, auf die Dosdall den Blick lenkt, erschöpft sich aber nicht in ihnen.

Die ehemals hochrangigen Kader des irakischen Baath-Regimes sind in dieser Perspektive der wesentliche Ausgangspunkt für die doppelte Landnahme des IS, nicht nur ein inkorporiertes Element unter vielen. Für gewöhnlich wird die Entstehung des IS zwar als ‚Geschichte großer Männer‘ erzählt, auf deren Initiative sein Aufstieg maßgeblich basiere: „Von al-Zarqawi zu al-Bagdhadi“ (Napoleoni 2015: 27), „was sich heute Islamischer Staat nennt, ist das … Vermächtnis des Dschihadisten Abu Musab al-Zarqawi“ (Neumann 2015: 76) oder „Abu Musab al-Zarqawi gegen al-Qaida“ (Steinberg 2015: 137) sind typische Überschriften und Abschnitte entsprechender Texte. Wenn die Recherchen von Christoph Reuter (2015a, 2015b) stimmen, dann reproduzieren diese Erzählungen jedoch Mythen, die der IS selbst pflegt. Der heutige „Kalif“ Abu-Bakr al-Bagdhadi ist ‚nur‘ ein „Frontmann“ (Gassel 2015: 50), der 2010 von einer Clique ehemaliger irakischer Offiziere, Geheimdienstler und Parteikader als wesentliches Element eines (im Endeffekt) überzeugenden „Fassadenmanagements“ (siehe dazu generell Kühl 2011: 136–157) aufgebaut wurde, um den zu diesem Zeitpunkt führungslosen IS mit Sitz im Irak zu einer handlungsfähigen Kampforganisation zu entwickeln: aus dem Hintergrund heraus und mit einem „religiösen Gesicht“ (Reuter 2015a: 51–57; siehe dazu auch McLeary 2015; Nance 2015). Die Federführung al-Bagdhadis ist daher genauso ein Mythos wie der durch die Bush-Regierung hochstilisierte al-Zarqawi (Napoleoni 2015: 78). Die Geschichte des IS stellt sich vielmehr als die Geschichte einer „unternehmerischen Gruppe“ (Ruef 2010) dar, die bereits bestehende Beziehungen ihrer Mitglieder zueinander nutzte, um die Organisation von Grund auf neu aufzubauen. Eine zentrale Figur in dieser Clique war – neben anderen! – Haji Bakr, bis 2003 Oberst des irakischen Luftabwehr-Geheimdienstes. Genauso wenig wie seine Mitstreiter war er nennenswert religiös (Reuter 2015b: 81).

Nach Bakrs Tod im April 2014 fanden sich in seinem Besitz diverse Blaupausen für ein strategisches Design des IS, darunter Organigramme und quasi-geheimdienstliche Listen mit Anweisungen lokaler Infiltration (Reuter 2015b). Sie sind Hinweise auf eine systematische relationale Landnahme des IS, die dann – Reuter geht den Hinweisen nach – ähnlich wie beabsichtigt stattgefunden hat. Zunächst eröffneten jeweils einige Mitglieder (ohne sich zu erkennen zu geben) ab Frühjahr 2013 in vielen Städten und Gemeinden Nordsyriens Daawa-Büros, die im Allgemeinen der Missionierung dienen und weltweit von islamischen Wohltätigkeitsorganisationen unterhalten werden. Aus den Besuchern von Vorträgen wählten die IS-Kräfte nach und nach vertrauenswürdige Personen aus. Diese nutzten schließlich ihre bestehenden Beziehungen in die lokale Bevölkerung, um für den IS möglichst detaillierte Informationen über Vermögen, Einkommen, Familienverhältnisse, politische Gesinnungen zu beschaffen, die dieser nach der Aufnahme des bewaffneten Kampfes in den Folgemonaten zur Herrschaftssicherung nutzte. Eine nennenswerte Anzahl an Kämpfern brachte der IS zunächst nicht aus dem Irak mit, vielmehr soll sich Reuter (2015b: 81) zufolge die IS-Führung dazu entschieden haben, gezielt eintreffende Ausländer aus Saudi-Arabien, Tunesien oder Europa ohne nennenswerte militärische Kenntnisse anzusprechen und mit Dschihad-erprobten Tschetschenen und Usbeken in kleine Bataillone zusammenzufassen – unter irakischer Führung.

Mit dieser recht planvollen Nutzbarmachung (a) sozialer Beziehungen von Einheimischen und (b) zwischen erfahrenen Dschihadisten aus dem Kaukasus und Zentralasien hört die relationale Landnahme des IS gleichwohl nicht auf. Mit zunehmenden Erfolgen territorialer Expansion gibt es mindestens drei weitere Phänomene relationaler Rekrutierung und Einbindung. Erstens gibt es Berichte darüber, dass begeisterte Jugendliche in den eingenommenen Gebieten mehr oder weniger systematisch in IS-Trainingslagern geschult werden (Joumah 2015), wodurch sich mutmaßlich ihre familiären Bindungen lockern (Coser 2015: Kap. 9). Zwei andere Phänomene lassen dagegen eher auf ungeplantere, auf jeden Fall dezentrale Formen der Landnahme schließen. Die Einbindung der betreffenden Personen in den IS bzw. in IS-affine Kreise trägt hier ebenfalls maßgeblich zur Entbindung aus Familien und früheren Freundeskreisen bei. Auffällig ist nämlich zweitens, dass viele Syrien-Reisen europäischer Jugendlicher und junger Erwachsener im Kontext „radikaler Milieus“ (Malthaner & Waldmann 2012) vermittelt und organisiert werden, die im Umfeld von mehr oder weniger zweifelhaften Moscheen existieren (so im Fall der sogenannten „Lohberger Brigade“ Burger 2015; siehe zu diesem Muster auch Malthaner & Hummel 2012). Die sich in der Regel als Jedermensch-offene Freundeskreise begreifenden Zirkel arbeiten dem IS somit zu, nicht zuletzt indem die Ausreisenden soziale Unterstützung für ihren Schritt finden. Drittens gibt es Anzeichen dafür, dass nicht wenige ‚europäische Dschihadisten‘ miteinander (bluts-)verwandt sind. Der IS profitiert somit davon, dass sich Familienmitglieder gemeinsam auf den Weg in den Nahen Osten machen, um Aufnahme zu finden. Eindrücklich ist der Fall der beiden Brüder aus Kassel, der im Mai diesen Jahres bekannt wurde (Eder 2015). Sie reisten im Oktober 2014 ohne das Wissen ihres Vaters nach Syrien, hielten dann noch einige Zeit den Kontakt zu ihm, brachen diesen dann aber nach einer gescheiterten Rückholaktion ab.

Verorganisierte Landnahme?

Neben der Ausdifferenzierung eines besonders ‚mitgliedschaftssensiblen‘ Bewegungssegments auf Basis von Freundes- und Paarbeziehungen (Abb. 1) und einem Gestaltwandel von Bewegung zu Organisation (Abb. 2) deutet die doppelte Landnahme des IS unter dem Strich eine dritte Variante an, seine Verorganisierung zu denken. Bestehende Sozialbeziehungen ohne nennenswerten islamistischen Bezug (Bez), d.h. die alten Baathisten, verbinden sich spätestens 2010 straffer mit Beziehungen, die gleichsam die ‚islamistischen Reste‘ des bis dato wirksam bekämpften IS sind (BeziB)[9]. Daraus entsteht sukzessive eine recht handlungsfähige Organisation mit ‚islamistischer Schauseite‘(OiB), die kontinuierlich weitere Beziehungen mit und ohne vorherigem Islamismus-Bezug (Bez(iB)) einbindet (Abb. 3).

Abb. 3: Verorganisierung des IS auf Basis bestehender Sozialbeziehungen (eigene Darstellung)dl_abb3

Mit Blick auf die strukturelle Bedeutung der nicht nennenswert religiösen Baath-Kader habe ich meine Zweifel, ob Kühl recht hat, wenn er für die Verorganisierung „des Islamismus“ argumentiert. Verorganisieren sich nicht eher prä-existente Sozialbeziehungen? Oder sollte Verorganisierung nicht vielmehr als „Motor“ (Van de Ven & Poole 1995) hinter der doppelten Landnahme des IS begriffen werden? Aus meiner Sicht liegt die besondere Stärke von Kühls Verorganisierungsthese darin, diese weiteren Forschungsperspektiven überhaupt erst einmal zu eröffnen. Hier wird es einerseits darum gehen müssen, die Wechselwirkung zwischen Wertekommunikation, territorialer Expansion und Herrschaftssicherung sowie relationaler Einbindung neuer Kämpfer systematischer zu analysieren. Andererseits wird zu klären sein, ob und inwiefern sich die sozialen Beziehungen wandeln, die in den Dunstkreis des IS geraten. Die relationale Soziologie rechnet damit, dass sich symmetrisch strukturierte Freundschaften, Verwandtschafts- und Paarbeziehungen nur mit erheblichen Mühen in asymmetrisch aufgebaute Sozialstrukturen ‚einbauen‘ lassen, wie es Organisationen typischerweise sind (Martin 2009: 27). Liegt hier nicht das eigentlich zu erwartende Dilemma des IS?

Anmerkungen

[1] Sehr instruktiv dazu sind die Studien Jo Freemans (1972, 1975) über die US-amerikanische Frauenbewegung in den 1960er Jahren.

[2] Niklas Luhmann (1964: 43) spricht treffend von einer „eindeutigen Grenzdefinition“ durch formale Mitgliedschaftserwartungen.

[3] Der Begriff der Struktur meint hier in erster Linie dauerhafte soziale Beziehungen zwischen konkreten Personen, deren Direktionalität allerdings nicht unabhängig von den („kulturellen“) Deutungen der Beteiligten ist (Martin 2009: 10–13; Martin & Lee 2010: 118; Tilly 1998: 21; „klassisch“ dazu White 2008). Pate für diesen Strukturbegriff steht maßgeblich Georg Simmel (1992) mit seiner „formalen Soziologie“. Direktionalität meint, dass die Beziehungen entweder identische Handlungsprofile haben und symmetrisch sind, unterschiedliche Handlungsprofile haben, die sich aber angleichen können (asymmetrisch), oder eine Beziehung definitiv nicht symmetrisch sein kann (antisymmetrisch).

[4] Die betreffenden Organisationen entstehen somit durch die „Verkettung“ („concatenation“; Martin 2009: 11–12) von „preexisting relationships“ (Erickson 1981: 194). Ihr Ursprung liegt also im Grunde genommen nicht in einem Zusammenschluss von Personen, die ihre bislang individuell kontrollierten Ressourcen zusammenlegen (siehe zu diesem auf James Coleman zurückgehenden Modell der Organisationsgründung Preisendörfer 2011: 26–41), sondern in einem Zusammenschluss von bereits bestehenden sozialen Beziehungen, die ihre Personen einbringen. Die Formulierung klingt merkwürdig, weist aber auf ein organisatorisches Problem hin, das mit diesem Modus der Ordnungsbildung verbunden ist. Der springende Punkt ist, dass sich der Pool der potentiellen Mitglieder recht schnell erschöpft, weil er nur so weit reicht, wie die direkten sozialen Beziehungen der zusammengelegten Personen reichen. Gelingt es also nicht, in der Rekrutierung unabhängig von prä-existenten Sozialbeziehungen zu werden, stößt die Organisation in personaler Hinsicht recht zügig an Wachstumsgrenzen.

[5] In diesem Absatz orientiere ich mich im Wesentlichen an Klaus Dörres (2011, 2012) begrifflich-theoretischer Rekonstruktion der Landnahme-Metapher.

[6] Siehe dazu die instruktive Debatte auf „The European“.

[7] Siehe hier für ein ‚Update‘ der ökonomischen Situation des IS.

[8] Dafür müsse man nur nach Mossul schauen, wo die Stadt weitgehend von der Stromversorgung abgeschnitten sei, die Trinkwasserqualität rapide sinke und die Krankenhäuser kollabierten (Belli et al. 2014: Kap. 5).

[9] Das hochgestellte „iB“ soll kenntlich machen, dass die betreffenden Beziehungen einen Bezug zur islamistischen Bewegung haben.

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